Viertes Kapitel.

[16] Es waren fremde Leute, die mit Arzneimitteln herumzogen und vor Jahren in diese Gebirge kamen, die Serpentin und Sililie in dem nahen Hirtenhause krank zurückgelassen. Mit ihnen war noch ein erwachsener Knabe, der ein Bruder Serpentins zu sein schien; dieser zog mit seinen Begleitern weiter. Nach den Erzählungen dieses Knaben schienen sie, durch Seeräuber an den Küsten von Spanien geraubt, nach Italien gebracht worden zu sein, von wo aus sie mit herumziehenden Tirolern in diese Gebirge kamen.

Lambert trug für die zerrüttete Gesundheit der zarten Kinder alle Sorge, aber bald erkannte er diese Geschöpfe als Blumen, die unter fremdem Himmel nicht lange blühen würden. Geflissentlich hatte er ihnen ihr früheres Schicksal, das er aber auch nur aus der Erzählung des älteren Knaben dunkel ahnte, verschwiegen.

Sililie hatte er der Pflege einer zärtlichen Hirtenfrau übergeben, Serpentin aber nahm er selbst zu sich und lehrte ihm die Kenntnis der Kräuter und die Bereitung der Arzneimittel.

Mit Betrübnis sah er, wie bei diesen Kindern bald und von Tag zu Tag immer mehr eine Erinnerung der frühern Kindheit, ein gewisses Sehnen erwachte, das sie sich selbst nicht deuten konnten, das aber er wohl zu enträtseln wußte.

Besonders sprach Serpentin öfters von einem klaren weiten Himmel, von hellen Lichtgestalten, die er in Träumen gesehen, und wünschte sich zu ihnen. Schon war Lambert entschlossen, ihn aus dem Dunkel der Waldeinsamkeit in das helle Leben hinauszuführen, als er von selbst das Waldgebirg und seinen Meister verließ. Lambert hatte an seiner Statt Sililie zur Bedienung und Bereitung der Arzneimittel zu sich genommen.

In diesem Mädchen entdeckte er bald die wundersamsten, Fähigkeiten, selbst das unverkennbarste Ahnungsvermögen, das ihn oft in Überraschung und Erstaunen versetzte; auch schien, seit Sililie die Arzneimittel berührte, seine Kunst noch auffallendere Wirkungen hervorzubringen.

In ihrer neuen Lage hatte sie sich der Gesellschaft ihrer Gespielinnen entzogen; sie war bei ihren Beschäftigungen gänzlich den Einwirkungen der Natur hingestellt; daher wurde ein ihr angeborenes sympathetisches Gefühl mehr ausgebildet und gesteigert. Ohne daß ihr je die sinnlichen Kennzeichen wirksamer Pflanzen angegeben worden, erkannte sie jede Giftpflanze,[17] ja fühlte selbst in bedeutenden Entfernungen schon ihr Vorhandensein. Ebenso erkannte sie jede wohltuende Pflanze meistens nur durch Berührung als eine solche und wußte ihre Kräfte bestimmt anzugeben. Mehrere Pflanzen erkannte sie als ganz gleichgültige, und es waren meistens solche, die schon durch viele Generationen hindurch in unsern Zimmern und Gärten prangen.

In der benachbarten Waldmühle befand sich ein Kind von vier Jahren, das Sililie im Vorübergehen stets mit Liebe betrachtete und gegen sie auch stets die Arme aufhob und sie anlächelte. Dieses Kind wurde nie anders als mit irgendeiner Blume in der Hand gesehen, die es auch schlafend nicht von sich legte. Oft sprach sie zu Meister Lambert: »Dieses Kind wird gewiß nicht lange mehr leben, das werdet Ihr sehen.«

Eines Tags, als sie diese Worte wieder gesagt, wurde der Meister auch eilends in die Mühle abgerufen. Als er in das Zimmer trat, lag das Kind schon erstarrt, ein Bild des Todes. Sililie war dem Meister nachgefolgt. Vergebens versuchte er jedes Mittel zu seiner Rettung. Als die Kunst des Meisters nichts vermochte, hob Sililie auf einmal das schon gänzlich tot geglaubte Kind von seinem Lager auf und sprach zu ihm mit fester Rede: »Komm mit, auf daß wir Blumen holen!« Da schlug das Kind die Augen hell auf, lächelte und reckte die Arme nach ihr aus, hüpfte auch freudig empor. Lambert und die Umstehenden waren des sehr verwundert, das Kind aber schloß die Augen zum ewigen Schlafe wieder. In jenem alten Manne, den sie den Waldvater nannten, der sonst für jedes Gefühl bestimmt abgestorben war, schien, wenn Sililie sich ihm nahte, ein besonderes Wohlbehagen rege zu werden. Wenn diese seine alten ledernen Hände liebend berührte, taten sich seine sonst fast immer geschlossenen Augenlider mit ihren borstigen Wimpern langsam auf und zeigten zwei große, himmelblaue Augen wie von Kristall, so wie ein hinwelkender Blumenkelch im erquickenden Morgenstrahl sich oft noch einmal auftut und den alten noch nicht vertrockneten Tautropfen in seinem Grunde zeigt.

Ging sie, Kräuter zu suchen, in den Wald, so sprang das Gewild vor ihr nicht, wie vor andern, scheu von dannen; es blieb und sah sie freundlich an, und oft folgte ihr ein schlankes Reh bis an die Wohnung nach.

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Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 16-18.
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