Fünftes Kapitel.

[18] Serpentin zog noch immer im Dunkel der Wälder hin. Die Waldvögel flogen vor ihm von Zweig zu Zweig und[18] stimmten ihren hellen Gesang an. Jetzt traf er auf ein Waldhaus, das war rings mit Laubholz und Tannen umgeben, auf diesen hüpften viele Sangvögel hin und her, Drosseln, Amseln und Nachtigallen, und ihr Ruf tönte laut in den hohlen Wald. Da er einer Erfrischung bedurfte, trat er in das Haus ein. Er verwunderte sich nicht wenig, als ihm da drinnen noch hellerer Gesang als der Vögel da draußen entgegenscholl, es war das Spiel einer Wanduhr, die spielte mit hellen Glasglöckchen und Flötentönen die Melodie des Liedes, das ihm gar wohl bekannt war, und das also heißt:


»Tief durch den Wald Gesang erschallt,

Die leichten Vöglein scherzen,

Der Mensch allein, der trägt die Pein

Recht tief im kranken Herzen.


Leicht hüpft der Bach den Blumen nach,

Ihm ist so kühl und helle;

Durchs Menschenherz, da schleicht mit Schmerz

Des heißen Blutes Welle.


Gesang verhallt, Sturm wiegt den Wald

In dumpfen Melodien;

Einsam die Bahn muß Wandersmann

Mit düstrer Wolke ziehen.


Rinn nieder, Tau! aus Wolken grau,

Dich saugt die Blum' in Liebe!

Trän'! bleib zurück im Menschenblick,

Machst Blumen welk und trübe!«


Serpentin war in das Waldhaus getreten; es wurde von Menschen bewohnt, die künstliche Uhren von Holz und Metall verfertigten und sie weit über das Meer hin zum Verkaufe sandten. Der Meister war ein blinder Greis von achtzig Jahren. Aus seinen großen schwarzen Augen trat eine solche Klarheit, daß, wenn sie auch kein Licht empfingen, sie desto mehr Licht zu geben schienen. Er berührte Serpentin mit weichen Händen, und seine freundlichen Gesichtszüge schienen zu verkünden, daß er auch das Innere des Jünglings erfühle.

Als er Serpentin einige Erfrischungen dargebracht, machte er ihn mit dem wundersamen Bau seiner Kunstwerke bekannt. Vor allem fiel Serpentin eine hohe Flötenuhr auf, die den Lauf der Gestirne wie den der Stunden zeigte. Sie stellte ein Waldschloß dar, das von Bäumen umgeben war, darin ließen[19] sich zu jeder Stunde Sangvögel aller Art hören, die sangen einander in den lieblichsten Akkorden zu; ob dem Schlosse aber zogen auf einem himmelblauen Grunde die Gestirne hin und gaben in ihrem Lauf ein lieblich Tönen.

Der Meister setzte sich mit seinen Gesellen und Serpentin zum Abendbrot, da sprach der Greis viel vom Gesange der Vögel, von den Tönen des Holzes und der Metalle und von dem Laufe der Gestirne.

Die Nacht war hereingetreten; es war eine stürmische Gewitternacht. Der Meister wollte den Jüngling nicht weiterziehen lassen und wies ihm in einem einsamen Gemache eine Schlafstätte an. Schauerliche Nacht war draußen, wundersam brauste der Sturm durch die dichte Waldung; es war ein Tönen wie von Meereswogen, welches ein Singen wie von Geisterchören öfters wieder übertönte.

Serpentin wurde bald in tiefen Schlummer gewiegt. Da ersah er im Traume kristallene Gärten in den Tiefen des Meeres; es war ein Himmel mit Farben des Regenbogens über ihn ausgebreitet, singende Meerfrauen in lichten Gewanden flogen an ihm vorüber, und es war ihm immer, als vernahm' er den unbeschreiblich süßen Ton kristallener Flöten. Dann aber war er plötzlich wieder aufwärts durch die kristallene Hellheit getragen. Er war am Meeresstrande auf einer lichten grünen Wiese unter blauem, warmem Himmel; auf schlanken, hohen Bäumen mit seltenen, klaren Blüten wiegten sich Vögel von unbeschreiblichem Glanze. Es war ihm, als wär' er da einmal in frühester Jugend gewesen. Er lag im Schöße seiner Mutter, dieselbe war in einem lichten, milchweißen Kleide. Ihr liebreiches, blaues Auge sah aus einem Schleier, der mit goldenen Sternen geziert war, so lieb und herzerfreulich wie der warme Himmel auf ihn hernieder.

Ein heller, lichter Blütenzweig bildete, eine Glorie um sein Haupt. Die klaren Bilder verschwanden, er schiffte mit fremden, unheimischen Leuten über die dunkle See, dann sah er sich mit Sililie im Korbe eines Maultiers in ein nächtlich Gebirge geführt.

Der tobende Sturm draußen hatte sich gelegt, die Wolken zerteilten sich, und der volle Mond trat übers Gebirge und erleuchtete Serpentins Gemach mit unbeschreiblicher Klarheit. Es war Mitternacht, noch lag Serpentin träumend auf dem Lager. Da erschien ihm auf einmal eine runde wogende Feuermasse, die war auf himmelblauem Grunde und warf an ihrem Umkreise rings goldene Blumen, brennend wie von Feuer,[20] in den blauen Himmel hinaus. Inmitten der Klarheit aber stand Sililie; sie hatte eine hohe weiße Lilie in den Händen und nickte mit ihr ihm freundlich zu. Er erwachte. Noch nie hatte er eine innigere Sehnsucht nach dem freien Himmel, nach der hellen Heimat in sich erfühlt. Rasch sprang er von seinem Lager auf und lief schnell wie ein gescheuchtes Reh im Waldgebirge weiter.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 18-21.
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