Siebentes Kapitel.

[21] Serpentin saß in der Ecke einer Wirtsstube, eines Hauses, das noch im Waldgebirge lag, von wo aus aber ein gebahnter Weg bald zu freiern Aussichten in die Ebene führte. Ein nach der Sitte der Stadt gekleideter Mann saß am Tische und faßte den Jüngling öfter scharf ins Auge. Jetzt trat ein Mädchen mit einem Harfenspieler ein, sie schien dem Manne untergeordnet zu sein; denn derselbe legte alsbald einige Speisen, die vor ihm standen, zurück und befahl dem Mädchen, ihm[21] sein Lied zu singen. Da sang das Mädchen mit Begleitung der Harfe:


»In einem dunklen Tal

Lag ich jüngst träumend nieder;

Da sah ich einen Strahl

Von meiner Heimat wieder.


Auf morgenroter Au

War Vaters Haus gelegen,

Wie war der Himmel blau!

Die Flur wie reich an Segen!


Wie war mein Heimatland

Voll Gold und Rosenhelle!

Doch bald der Traum verschwand,

Schmerz trat an seine Stelle.


Da irrt' ich weit hinaus

Durchs öde Land voll Sehnen;

Noch irr' ich, such' das Haus

Und find' es nicht vor Tränen.«


Dem fremden Manne standen nach dem Gesange helle Tränen im Auge. Rasch griff er nach Hut und Wanderstab. »Auf!« sprach er zu dem Mädchen, »heute noch auf das Schloß von Kastell!« – »Gott mit Euch, Herr Luchs!« sprach der Wirt, indem beide das Wirtshaus verließen.

Das Wesen des fremden Mannes und der Gesang hatten Serpentin wundersam ergriffen. Es schien ihm jede Strophe aus seinem eigenen Gemüte genommen zu sein. Er war im Begriffe, dem Manne nachzurufen, und doch wußte er keine Worte zu finden. Er verließ das Wirtshaus und schlug unwillkürlich die Straße nach Kastell ein. In tiefen Gedanken ging er des Wegs hin. Es war ihm, als erinnerte er sich, in frühester Kindheit dem Manne schon einmal begegnet zu sein. Da eröffnete sich auf einer Berghöhe auf einmal die Wildnis zu einer freien Aussicht. Es war ein herbstlicher Abend. Unübersehbar lag die Welt vor ihm ausgebreitet. Flüsse, weite Täler, Städte, Burgen und Dörfer, alles schwamm im Feuer der sinkenden Sonne. Wie er bei jener Glashütte die Menschen von ferne, als wie in der Feuermasse stehend, erblickte, so sah er jetzt in der Glut des Abendhimmels hohe alte Münster und Burgen. Die Umrisse der Gegenstände waren auf dem Feuergrunde alle bestimmt hervorgetreten, und so schien auch[22] das Ferne dem Auge begrenzt und deutlich. Wie er mit Lust in die geschmolzene Glasmasse geschaut, so sah er nun mit dem höchsten Entzücken in diese milde Klarheit, die auch dem Auge wohltuend erschien. Er verlor sich mit seinen Blicken weit in die Ferne hin, wo blaue Gebirge Wolken von Gold und Feuer wie lichte Kronen trugen. Dann hing wieder sein Auge auf dem alten Schlosse von Kastell, das, eine wunderbare Geisterburg, mit seinen alten Türmen schwarz wie aus gegossenem Eisen auf dem leichten Grunde stand. Die Verzierungen der gotischen Türme, die alten Ritterbilder, die Köpfe von Ungetümen und die steinernen Verzweigungen waren in ganz bestimmten Umrissen schwarz hervorgetreten und gewährten seinem Auge einen ganz seltsamen, neuen Anblick. Noch stand er im Anschauen dieser Klarheit verloren, als ein schwarz gekleideter, wohlaussehender Mann von mittlerem Alter auf einem Maultiere die Straße hergeritten kam, ihn anrief und aus seinen Träumen weckte; es war der Graf von Kastell. Der Graf war im Begriff, die Straße nach seinem Schlosse einzulenken. Serpentin fragte ihn, ob dieser Weg nach Kastell führe? Da der Weg einen steilen Berg hinabging, war der Graf von seinem Maultier abgestiegen und ging mit Serpentin zu Fuße weiter. Das eigene Wesen des Jünglings fiel dem Grafen bald auf; er erkundigte sich, von wannen er komme, und was der Zweck seiner Wanderung sei. Serpentin hatte kaum Lamberts Namen ausgesprochen, als der Graf sich mit vieler Liebe nach ihm als einem alten Freunde erkundigte. Es war ihm überraschend, ihn in jenen Gebirgen zu wissen, da er ihn an den Küsten der Nordsee begraben glaubte. Serpentin, als er in dem Manne einen Freund seines Meisters erkannte, konnte sich der Tränen fast nicht erwehren, denn er dachte seiner jetzt erst recht in Liebe und konnte eine geheime Sehnsucht nach ihm, die seit seiner Entfernung schon einigemal gewaltig in ihm aufgestiegen war, nicht länger mehr zurückhalten. Das Lob, welches der Graf über seinen alten Freund ausgoß, machte ihn recht wehmütig, und er mußte mit festen Blicken in die Glut des Himmels vor sich hinschauen, um in seinen Augen einen Strom von Tränen noch zurückzuhalten. Desto heimlicher aber kam ihm jetzt der ihm erst kurz noch so fremde Mann vor.

Als der Graf durch die freimütige Erzählung des Jünglings ganz in dessen Gemüt gesehen, als er erfahren, wie er aus bloßer innerer Sehnsucht, die Klarheit des Himmels zu schauen, die Nacht der Gebirge und seinen liebreichen Meister[23] verlassen, so schien ihm ein so klares Herz noch nie begegnet zu sein. Er machte ihm den Antrag, ihn in sein Schloß zu begleiten, indem er ihm die Hoffnung gab, ihn vielleicht bald selbst zu seinem Meister wieder zurückzuführen.

Das Wunderbare jenes Schlosses, dem sie nun bald nahe waren, und ein geheimer Zug, der ihn dahin trieb, und den wohl jener Mann, dessen Lied ihm noch so gut im Gedächtnis stand, in ihm veranlaßte, ließen ihn leicht in die Wünsche des Grafen eingehen.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 21-24.
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