Aus Lichtenthal

[175] (Im Sommer 1843.)


Frag' nicht, warum war deine Wahl

Das ferngelegne Lichtenthal,

Statt Badens stolzer Quelle?

Fliehst du nicht gern ins Mondenlicht,

Mein Freund! wenn Gram dein Herz zerbricht,

Vom Markte zur Kapelle?


Die Sonne bist, o Baden, du!

Europas Menschenmarkt ohn' Ruh',

Glanzvoll und wert zu schauen.

Doch du, mein stilles Lichtenthal,

Du bist des Mondes milder Strahl,

Mit frommen Klosterfrauen,


Mit tausend Wassern frisch und rein,

Melodisch rieselnd aus dem Stein,

Den Moos und Sinngrün decket,

Mit Wäldern, drin die Nachtigall

Statt der Musiken lautem Schall,

Den müden Schläfer wecket.[175]


Glanzreiche Sonne! dir sei Preis!

Doch wem du bist zu licht, zu heiß,

Der flieh' mit seinen Wunden

Ins Tal, das wie ein Zauberstrahl

Des Monds verklärt, nach Lichtenthal –

Gewiß, er wird gesunden!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 175-176.
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