Das Kalb

[179] Du Tier, im dunklen Stall geboren,

Eh' du des Lebens recht bewußt,

Greift dich ein Schlächter bei den Ohren

Und reißt dich von der Mutterbrust.


Dein großes Auge, fromm und helle,

Sieht da die Au zum erstenmal,

Doch angstvoll; denn des Hunds Gebelle

Treibt rastlos dich durchs grüne Tal.


Bald binden sie dir deine Glieder,

Sie achten nicht dein Angstgeschrei,

Man wirft dich auf die Schlachtbank nieder

Und schneidet dir den Hals entzwei.


Doch bei dem letzten Hauch der Kehle

Ein Glanz aus deinem Auge spricht:

»In mir auch wohnet eine Seele,

Für mich auch hält ein Gott Gericht.«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 179.
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