Die heilige Regiswind von Laufen

[150] Herr Ritter Ernst, der war ergrimmt zu einer bösen Stund',

Er schlug die falsche Dienerin mit seinen Fäusten wund;

Er schlug die falsche Dienerin, er stieß sie mit dem Fuß:

»Herr Ritter Ernst! o wißt fürwahr, daß Euch dies reuen muß!«


Es war die falsche Dienerin, die eilte durch den Saal,

Sie eilte durch den weiten Hof, hinab ins grüne Tal.

Da saß Herrn Ernstens Töchterlein, ein Fräulein fromm und zart,

Es spielt' mit bunten Blümelein nach andrer Kinder Art.


Da pflückt die falsche Dienerin drei Röslein auf dem Plan,

Zu locken dieses stille Kind zum wilden Strom hinan:

»Komm, liebes Kind! komm, süßes Kind! da blühen Röslein rund!«

Sie faßt es an dem goldnen Haar, sie schleudert's in den Grund.


Eine Weil' die Tiefe barg das Kind, eine Weil' es oben schwamm,

Auflacht die falsche Dienerin, doch bald ihr Reue kam.

Sie flieht von dem unsel'gen Strom, flieht über Berg und Tal,

Sie irrt so viele hundert Jahr', kann ruhn kein einzig Mal.[150]


Es sah Herr Ernst von hoher Burg, sah in den grünen Grund,

Sie brachten tot sein süßes Kind, auf Rosen man es fund.

Es blüht wie eine Rose rot, wie eine Lilie weiß;

Er legt's in einen goldnen Sarg, bestattet es mit Fleiß.


Manch Mutter kniet' mit ihrem Kind auf Regiswindens Gruft,

Doch wenn Herr Ernst, ihr Vater, kam, entstieg ihr Rosenduft.

Seitdem erscheint zur Todesnacht gar manchem frommen Kind,

Bekränzt mit duft'gen Röslein rot, die heil'ge Regiswind.

Auch liegt seitdem manch frommes Kind, das nachts erlitt den Tod,

Am Morgen in der Wieg' umkränzt mit jungen Röslein rot.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 150-151.
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