Die vier wahnsinnigen Brüder

[29] Ausgetrocknet zu Gerippen

Sitzen in des Wahnsinns Haus

Vier; – von ihren bleichen Lippen

Gehet keine Rede aus;

Sitzen starr sich gegenüber,

Blickend immer hohler, trüber.


Doch schlägt Mitternacht die Stunde,

Sträubet sich ihr Haar empor,

Und dann tönt aus ihrem Munde

Jedesmal in dumpfem Chor:

»Dies irae, dies illa

Solvet secla in favilla.«


Waren einst vier schlimme Brüder,

Hatten nur gezecht, gelärmt,

Beim Gesang verbuhlter Lieder[29]

Durch die heil'ge Nacht geschwärmt;

Keines freundlichen Beraters

Warnung half, kein Wort des Vaters.


Noch im Sterben sprach der Alte

Zu den schlimmen Söhnen vier:

»Warnt euch nicht der Tod, der kalte?

Alles führt er fort von hier:

Dies irae, dies illa

Solvet secla in favilla.«


Und er sprach's und war verschieden,

Jene aber rührt' es nicht;

Doch er ging zum ew'gen Frieden,

Jene, wie zum Hochgericht,

Treibt es in der Welt Getümmel,

Nah der Hölle, fern dem Himmel.


Und gebuhlet und geschwärmet

Ward es wieder lange Jahr',

Andrer Not sie nie gehärmet,

Keinem greiser ward das Haar.

»Lust'ge Brüder! habt nicht Zweifel:

Eine Mär ist Gott und Teufel.«


Einst, als Mitternacht gekommen,

Kehrten taumelnd sie vom Schmaus;

Horch! da tönt Gesang der Frommen

Aus dem nahen Gotteshaus.

»Lasset euer Bell'n, ihr Hunde!«

Schreien sie aus Satans Munde.


Stürzen die verruchten Wichte

Brüllend durch das heil'ge Tor;

Aber wie zum Weltgerichte

Tönet hier der ernste Chor:

»Dies irae, dies illa

Solvet secla in favilla.«


Und ihr Mund weit steht er offen,

Doch kein Wörtlein aus ihm geht;

Gottes Zorn hat sie getroffen,

Jeder wie ein Steinbild steht,

Grau die Haare, bleich die Wangen,

Wahnsinn hat ihr Haupt befangen.[30]


Ausgetrocknet zu Gerippen,

Sitzen in des Wahnsinns Haus

Nun die vier, – von ihren Lippen

Gehet keine Rede aus,

Sitzen starr sich gegenüber,

Blickend immer hohler, trüber.


Doch schlägt Mitternacht die Stunde,

Sträubet sich ihr Haar empor,

Und dann tönt aus ihrem Munde

Jedesmal in dumpfem Chor:

»Dies irae, dies illa

Solvet secla in favila.«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 29-31.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon