Graf Olbertus von Calw

[57] (Im Winter.)


Bei hellem Vogellied

Was sollen Saitenklänge?

Was Sagen und Gesänge,

Wann bunt die Blume blüht?


Nur wann die Aue leer

Und stumm in Wintertagen,

Da kann man füglich sagen

Und singen bunte Mär. –


Bei Calw, in jenen Gaun,

Die Württemberg man nennet,

Wo man viel Sagen kennet

Von Rittern und von Fraun,


Da liegt in Waldes Schoß

Ein alter Bau verstecket,

Jahrhunderte bedecket

Von Efeu und von Moos.


Der Wind durchrauscht den Saal

Gleich klagendem Gewimmer,

Wo einst in goldnem Schimmer

Klang Laute und Pokal;


Wo einst in üpp'ger Pracht

Olbertus' Frau gelebet,

Nach Weltlust nur gestrebet,

Niemals an Gott gedacht;[57]


Olbertus aber trüb

Und still gelebt in Schmerzen,

Dem gottgeweihten Herzen

Stets fremd die Üpp'ge blieb.


»Ich scheide,« sprach er, »Weib!

Leb' wohl und sei mein Erbe!

Ich scheid', eh' ich verderbe

Allhier an Seel' und Leib!


Will sehn, wie Armut tut;

Reichtum hab' ich genossen.

Leb' wohl! Dir zum Genossen

Verbleibt der leichte Mut!«


Und fröhlich legt vom Leib

Er sein Gewand von Seide

Und zieht im Linnenkleide,

Ein Bettler, von dem Weib.


Ihr Ring nur hält ihm fest

Am Finger, eng gespannet,

Bleibt, wie ins Fleisch gebannet,

So sehr er zieht und preßt.


Es brennt wie Höllenglut

Das eitle Pfand der Bösen;

O! möcht's vom Finger lösen

Mir bald ein Engel gut!


Er wallt ins Schweizerland,

Treibt dort als Hirt die Herde

Und schläft auf harter Erde

Und trinkt aus hohler Hand,


Und kniet auf blum'ger Au

Am Kreuze manche Stunden.

Sein Fleisch, das ist geschwunden,

Sein Bart ist lang und grau.


Im späten Abendrot,

Die Sage singt's, bei Schafen

Da find't den frommen Grafen

Ein irrer Ritter tot.


Ein Glanz sein Haupt umfließt,

Licht, liegt er, wie verkläret,

Vom Finger abgezehret

Der Ring gefallen ist.[58]


Es ist dieselbe Nacht,

Da in dem hellen Saale

Beim zweiten Hochzeitmahle

Die Gräfin scherzt und lacht.


Hoch hebt sie den Pokal,

Es glühn ihr Wang' und Lippe,

Da tritt, ein bleich Gerippe,

Der Tod dumpf durch den Saal.


Der läßt, zu ihr gewandt,

Hoch vor den Gästen allen

Den Ring ins Glas ihr fallen,

Sie hat ihn wohl erkannt.


Die Saiten springen laut

Von Harfe und von Leier,

Und an das Herz dem Freier

Sinkt tot die üpp'ge Braut.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 57-59.
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