In der Sturmnacht

[25] Es kommt mein Freund, schon hör' ich laut ihn singen,

Der Sturmwind ist es, der mit mächt'gen Schwingen

Hinfähret durch die finstre Mitternacht,

Sein Lied hat mich aus trägem Schlaf gebracht.


Der Wälder Rauschen und des Wassers Wogen,

Der Wolken Tanz am finstern Himmelsbogen

Und drein des Sturmes donnergleiches Lied

Mit Macht hinaus in die Natur mich zieht.


Da möcht' ich mich mit ihm so ganz verweben,

Ein Luftgeist – singend mit dem Sturme schweben,

Mit Wäldern, Bergen und dem Meer im Bund,

Nicht mehr genannt von eines Menschen Mund.[25]


Sturm! sing dein Donnerlied, Luftgeisterheere

Einstimmend – fahrt mit ihm durch Land und Meere!

Noch hält der Erde Band fest meinen Geist.

Doch Lust! zu wissen, daß dies Band zerreißt.


Dann heb mich auf, o Sturm! mit deinen Schwingen,

Dann, Freund! laß mich dein Donnerlied mitsingen,

Mitfliegen laß mich über Land und Flur

Wie du – ein Teil der schaffenden Natur.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 25-26.
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