Mitternachtsszene

[45] Vögel, die mit Wolken schifften,

Sanken in der Wälder Nacht,

Schlummer liegt auf Wald und Triften,

Einsam nur der Hirte wacht.


Freude macht es mir, zu lauschen,

Wie sich regt ein Lüftchen dort,

Wie vom Baume Blätter rauschen

Und ein Bächlein rieselt fort.


Durch des Himmels Wolkenhülle

Leise jetzt der Vollmond dringt,

Und nun plötzlich in die stille

Mitternacht die Glocke singt.


Weckest mich aus süßen Träumen,

Alte Glocke! Sängerin!

Und ich rufe nach den Räumen

Blauen Himmels zu dir hin:


»Tausende, die in den Hallen

Lichten Tages laut gelebt,

Tausende von Nachtigallen,

Die mit Sang die Nacht durchschwebt,


Schwanden aus des Lichtes Reichen,

Schweigen stumm, im Tod verblüht,

Du doch über all den Leichen

Singest fort das alte Lied.


Erdensänger kurz nur singen,

Bald zerreißt der Gram ihr Herz,

Glocke! würdest du zerspringen,

Macht es nicht der Erde Schmerz.[45]


Denn du singst, ob Lust, ob Jammer,

Gleichen Ton stets durch die Luft,

Ob der Schlag von deinem Hammer

Bräute oder Leichen ruft.


Und du, Mond! aus gleichen Erzen,

Änderst nie dein Angesicht,

Ob auch Tausende von Herzen

Unten bittres Leid zerbricht.


Glocke! singe! schwebt, Gestirne,

Ob der Erde Lust und Grab!

Hoch ob euch auf ew'ger Firne

Schwingt ein Gott den Hirtenstab.«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 45-46.
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