Preis der Tanne

[24] Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe

Mit der Tanne sprach und schalt:

»Stolze! himmelwärts dich hebe,

Dennoch bleibst du starr und kalt!


Spend' auch ich nur kargen Schatten

Wegemüden, gleich wie du,

Führet doch mein Saft die Matten,

O wie leicht! der Heimat zu.


Und im Herbste, – welche Wonne

Bring' ich in des Menschen Haus!

Schaff' ihm eine neue Sonne,

Wann die alte löschet aus.«


So sich brüstend sprach die Rebe;

Doch die Tanne blieb nicht stumm,[24]

Säuselnd sprach sie: »Gerne gebe

Ich dir, Rebe, Preis und Ruhm.


Eines doch ist mir beschieden:

Mehr zu laben, als dein Wein,

Lebensmüde; – welchen Frieden

Schließen meine Bretter ein!«


Ob die Rebe sich gefangen

Gab der Tanne, weiß ich nicht;

Doch sie schwieg, – und Tränen hangen

Sah ich ihr am Auge licht.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 24-25.
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