Tod im Mai

[42] Macht's der Glocken lautes Hallen?

Blüten schneien lind herab

Auf den Sarg, mit dem zum Grab

Sie dort unter Bäumen wallen.


In so lichtem Frühlingsleben,

Wo sich die Natur erneut,

Vogel singt, der Mensch sich freut,

Sollt' es keine Leiche geben.


Doch wenn sich der Lenz erhebet,

Mensch und Blüte fröhlich lacht –

Habt ihr das noch nie bedacht? –

Da der Tod am liebsten lebet.


Da mit gier'gen Armen greift er

Oft am liebsten nach dem Kind,

Eine Blütenwelt geschwind

Durch den Hauch des Nachtfrosts streift er.


Siehst du jenen Sarg nun offen

Vor dem Grab? – sie beten leis.

Schau'! ein Knäblein lilienweiß,

Tot jetzt, jüngst ein süßes Hoffen.


Lüfte! weht die Blütenfülle

Nur herab aufs bleiche Kind!

Bei Geschwistern, Blüten lind,

Schlaf' und träum' es süß und stille.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 42.
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