Sechste Vorstellung.

[62] Es wehte kalte Morgenluft, die Schiffer zündeten ein Feuer an, und um dasselbe setzten sich die Mädchen. Das fremde Mädchen fing bald an, von dem Meere zu erzählen, von den großen Schiffen, von der Ebbe und Flut und den Seemuscheln und Korallen. »Oft gibt es Stellen im Meere,« sprach sie, »wo das Wasser ruhig steht und klar wie ein Kristall ist. Da ist es gar herrlich, in die Tiefen zu schauen und die wundersamen Gärten da unten zu ersehen. Da erblickt man in unermeßbarer Tiefe Berge und Täler, mit den allerbuntesten Blumen, welche die Korallen, die Wasserkräuter und das Meergras bilden, so daß einem recht ein Sehnen ankömmt, hinabzusteigen und sich darin zu ergehen.

Als Kind hab' ich wohl oft mit Tränen in diese Gärten verlangt, wenn die Amme mir davon erzählte; da hab' ich die ganze Nacht von ihnen geträumt und war mir gar sonderbar zumute, wenn ich an die Meerfräulein dachte, die darin wohnen.

Oft schlich ich mich auch hinaus an das Meerufer und hörte, dem wunderbaren Tone der Wogen zu, der oft wie ein entfernter Donner, dann wieder wie ein aus der Tiefe steigender Seufzer tönte; lauschte auch so lange, bis es mir plötzlich ganz bange wurde und ich schnell wieder in das Land zurücklief, Gesang oder das Läuten einer Glocke zu hören.«

»O! das sah ich alles auch und werde es nächstens noch näher sehen«, sprach der Schifferjunge, der während der Erzählung des Mädchens mit der gespanntesten Aufmerksamkeit dastand.

»Wie, Kerl!« sagte ein Schiffer, »du sahst das Meer und kamst noch nie über den Neckar hinaus!« – »Ich sah's,« sprach[62] der Junge, »denn von all dem hat es mir schon tausendmal geträumt und geradeso, wie die Jungfer erzählt. Und eh' drei Wochen vergehen,« sprach er zu dem Mädchen leis, »steh' ich am Meere.« – »Wie?« begann der Jäger, »der Kerl ist da! Der war ja bei uns Jägersjunge und wurde weggejagt. Der dumme Kerl hielt zahme Enten für wilde, sprang ihnen vom See bis in den Stall nach und schoß sie dort nieder.«

»Der Teufel!« sprach der Mühlknecht, »das ist ja der nämliche, der vor vier Wochen aus unserer Mühle gejagt wurde, weil er Gips unter das Mehl brachte!«

»Freilich ist der's,« sprach der Schiffer; »pfeif nur, Taugenichts! Es ist ein Erzgalgenstrick; ich hab' ihn von einem Seiler erhalten, ihn bei der nächsten tiefen Stelle ins Wasser zu werfen. Bei zwanzig Meistern kam der Kerl nun herum, nirgends tut er drei Tage gut!«

Der Junge pfiff ruhig fort, obgleich nun alles mit Schimpfreden über ihn herfiel.

Das ist ja ein Kerl wie Eulenspiegel, dacht' ich, und als ich ihn genauer beim Lichte betrachtete, erkannte ich in ihm meinen Volkssänger und Laternenputzer Felix.

Er hatte noch den nämlichen Rock an, den er vor vier Jahren trug, wo er mir auf meinem Schattenspieltheater als Gläserputzer Dienste leistete; nämlich seines Vaters alten Grenadiersrock, den er aber immer noch nicht zur Hälfte ausfüllte, ihn auch immer noch wie einen Fischschwanz hinten nachschleppte.

Sonntags trug er ihn auf der rechten, Werktags auf der umgekehrten Seite. Da er ihn heute auf letzterer trug, so erkannt' ich, daß es Werktag war.

Ich winkte ihm; er erblickte mich, kam auf mich zu, bezeugte viele Freude, mich wiederzusehen, zog ein Stück Kreide aus der Tasche, zeichnete in aller Schnelligkeit mit ein paar Zügen dem Schiffer einen Esel auf den Rücken, räusperte sich und fing an, aus voller Kehle zu singen:


1»Einstmals, als ich ging allein.

Sah in einen Wald hinein,

Sitzt ein Häslein in dem Strauß,

Guckt mit einem Aug' heraus.


Armes Häslein weint und klagt,

Heimlich zu sich selbsten sagt:[63]

Jäger, was hab' ich getan,

Daß d' Hund' auf mich hetzest an?


Wenn das Windspiel mich erschnappt,

Gleich der Jäger nach mir tappt,

Trägt mich auf dem Buckel her,

Als wenn ich kein Häslein wär'.


Er mit mir dem Markt zulauft,

Mich um halbes Geld verkauft.

Jener sich nicht lang besinnt,

Lauft mit mir zur Küche g'schwind.


Komm' ich dann dem Koch in d' Händ',

Werd' ich vorne aufgetrennt,

Zieht mir Pelz und Hosen aus,

Dies zu sehen ist ein Graus.« – – –


Die Mädchen bemerkten den Esel auf dem Rücken des Schiffers und fingen zu lachen an. Darauf sah der Schiffer, hinter sich, und da der Galgenjunge ihm schon öfters diesen Streich gemacht, so drehte er sich wie ein angeschossener Eisbär grimmig gegen den Jungen um, nahm ihn beim Haar und schmiß ihn, trotz dem Geschrei der Mädchen und den Vorstellungen aller, in das Wasser.

Auf den Jungen machte dies neue Element aber keine Veränderung, er schwamm ruhig ans Ufer und sang uns von demselben, die noch übrigen Verse des Liedes also zu:


»Steckt mich in ein' Hafen 'nein,

Gießt den schärfsten Essig drein,

Darin soll ich werden mahr,

Glaub', der Koch sei gar ein Narr.


Wenn ich bin ganz fein und mahr,

Mein', ich sei nun aus der G'fahr,

Zieht der Koch mich listig 'raus,

Richtet mich nach seinem Brauch.


Er mich auf das Herdbrett legt,

Spickt den Buckel mit dem Speck,

Steckt den Spieß zum Hintern ein –

Ich möcht' ja so grob nicht sein.


Dieses ist noch nicht genug,

Glühend' Kohlen legt man zu,

Gießet Fetten oben ab,

Daß ich g'nug zu schwitzen hab'.[64]


Wenn ich alsdann fertig bin,

Trägt man mich zur Tafel hin,

Schneid't der erst' herab sein Teil,

Reißt der ander' mich entzwei.


Der dritte schneid't herab das Best' –

Frißt, daß dir das Herz abstößt;

Beiner wirft man hinter Tür

Oder gar den Hunden für.


So nimmt man mir's Leben ab,

Eilt mit mir ins kühle Grab.

Fragt auch niemand, wie es geht,

Weil kein Hahn mehr um mich kräht.«


Fußnoten

1 Dieses Klagelied eines Hasen ist ein wirkliches Volkslied und aus den fliegenden Blättern von Reutlingen abgedruckt.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 62-65.
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