Achte Vorstellung.

[90] Dunkle Kreuzgänge, die alle mit Grabsteinen belegt waren, und in denen hie und da ein geweihtes Licht brannte, gingen von der Kapelle aus. Auf den Steinen waren die Verstorbenen, wie sie da unten in den Särgen lagen, in Lebensgröße ausgehauen, Ritter, Mönche, Kinder und Frauen in ihrer altdeutschen Tracht.

Sie hatten alle ihre Hände fromm gefaltet, oder waren sie auch kniend abgebildet. Andere Steine aber waren schon tief in die Erde gesunken und mit Moos bewachsen.

Die Töne der Orgel und des Chors aus der Kapelle wälzten sich dumpf durch die hohen Gewölbe fort; sie erloschen nach und nach, und schauerliche Stille herrschte.

Die Kreuzgänge führten in einem Zirkel herum, und in diesem Zirkel war der Garten des Klosters. Von ihm aus fiel durch hohe gemalte Fensterscheiben sparsames Licht in die Kreuzgänge.

Ein hoher Schwibbogen, mit vielem Laubwerk, Blumen und Zweigen, gleich einem steinernen Gewächs, führte in ihn, und da er rings mit Klostergebäuden umgeben war, so konnte man in ihm nirgend hinblicken als gen Himmel oder auf die Blumen in ihm. Rosen, Lilien, Tulpen und Narzissen erblühten im buntesten Gemisch in diesem Garten.

In seiner Mitte stand ein hohes Kreuz mit einem sterbenden Jesubild, an dessen Fuß, einer bleichen Lilie gleich, eine trauernde Muttergottes stand.

Der junge Geistliche war zu mir in den Garten getreten. Er sprach viel über das Wesen der Blumen und die Behandlungsart jeder einzelnen Pflanze. »Eine jede Pflanze«, sprach er, »kann, wenn sie beinahe schon am Verwelken ist, durch eine bestimmte andere, welche man neben sie pflanzt, wieder erfrischt werden.

Ein welkender Rosenstrauch wird durch neben ihn gepflanzten Lauch wieder ins Leben gebracht.

So sucht jede Pflanze eine ihr freundliche; ihr Tod ist Trennung von ihr oder Niefinden derselben. Mehrere unserer inländischen Pflanzen finden vielleicht in diesem Weltteile gar nicht ihre freundliche Pflanze: vielleicht blüht diese im Gelobten Lande oder im Grunde der See.

Wo steht der ewig blühende Garten, wo jede Pflanze ihre freundliche fand, wo sie all nach ihrer Liebe aneinandergereiht und geordnet sind??«[91]

Ein dunkler Gang führte aus dem Garten wieder hinaus; unten in einem tiefen Tale lagen Hütten und Felder, gingen Mädchen singend am Ufer eines Flusses und sahen aus einem zarten Schleier, gewoben vom Dampfe der Blüten und Kräuter, zu uns empor.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 90-92.
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