Zweite Vorstellung.

[97] Da ersah ich einsmals in einer so engen Schlucht, über der himmelhoch die Felsen mit ihren schwarzen Tannen ragten, eine Hütte, die war gestaltet recht wie das Nest eines Greifs oder eines andern unmenschlichen Wesens. Ich ging auf sie zu. Da ersah ich ein Männlein vor ihr, das hatte weder Füße noch Hände, sondern seine Gliedmaßen waren bloß kurze Stumpen. Sein Gesicht war lang, alt und voll Runzeln, und sein langer weißer Bart reichte tief in das Waldgras.

Das Männlein aber grüßte mich bald freundlich und erzählte mir wohlgemut sein Schicksal: wie es nämlich so ohne Hände und Füße geboren, einst durch die halbe Welt in einem Kasten, zur Schau getragen worden, wie es dann dieser Lebensart überdrüssig, von Menschen abgesondert, in Wäldern sein Leben zu beschließen sich vorgenommen.

Ich verwunderte mich, wie es möglich, daß es so, ohne Hände und Füße, sich Nahrung verschaffen könne?

Siehe! da sprang das Männlein mit einem Sprunge, ganz leicht, wie ein Grashüpfer über seine Hütte hin und her, nahm einen Stein mit dem Munde auf, brachte ihn durch eine geschickte Wendung unter den Stumpen der rechten Seite und schleuderte[97] ihn so weit in die Höhe, daß erst nach einigen Sekunden sein Fall wieder vernommen wurde.

Es versicherte mich, seine Hütte selbst gebaut und die Kartoffeln und das Wurzelwerk, welches ich um sie aufsprossen sah, selbst gepflanzt zu haben, überhaupt zu keiner Verrichtung irgendeiner menschlichen Hilfe zu bedürfen. Ja, man erzählte mir nachher, wie es öfters von den Fuhrleuten zu Hilfe geholt werde, wenn ein Wagen in den Sümpfen steckenbleibe: denn da springe es mit einem Sprunge auf eines der Pferde und klemme sich fest wie eine Beißzange mit seinen Stumpen in dasselbe ein, daß das Tier, wie vom Alp gedrückt, voll Beängstigung ausreiße. Das Männlein zählte achtzig Jahre, und schon über fünfzig hielt es sich hier zwischen diesen Felsen auf.

Das Männlein nahm von mir kein Geschenk an, so arm es auch schien, sondern schenkte mir noch einige seltene, alte Münzen von Kupfer, die es in den Felsen gefunden, auch gab es mir eine Wurzel, welche man Alraun, Mandragora, nennt, und die fast die Gestalt eines Männleins hat.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 97-98.
Lizenz:
Kategorien: