Dritte Vorstellung.

[98] Die Nacht war gekommen, und ich erblickte noch kein Dorf. Endlich stieg der Mond blutrot über die schwarzen Felsenmassen, und ich erblickte eine Kapelle, die stand in einem Tale, welches von Felsen umgeben; ob ihr stürzte sich ein Waldstrom hernieder und lief still und fromm zu ihren Füßen hin.

Nebenbei stand ein einsames Haus; in dem erblickte ich Licht und ging, hier den Postwagen zu erwarten, hinein.

Dieses Haus wurde von einem Mann bewohnt, der die Aufsicht über diese Kapelle hat. Ein Mädchen saß hinter dem runden Tisch und schien in der Bibel zu lesen; Mann und Frau aber waren mit Aushülsung von Mohnsamen beschäftigt.

Die Leute empfingen mich recht freundlich und schienen mir fast alte Bekannte zu sein.

Wir sprachen vieles über Lust und Unlust des Reisens, über die Hallwälder und ihre Gebirge und das alte Männlein; auch zog ich bald meinen Alraun heraus und wies ihn den Leuten.

»Bei dieser Wurzel«, so sprach der Mann, »nehme ich Gelegenheit, Euch eine wundersame Seltenheit, die in meinem Besitz ist, vorzuweisen.«

Da brachte er einen zum Erstaunen feingesponnenen Knaul Garn, dessen Geschichte er, wie folgt, er zählte:

»Noch aus alter Zeit geht die Sage, daß in einem dieser[98] Berge ein alter König wohne, der eine überaus schöne Tochter habe, die man das Nachtfräulein nennt, und die auch Jäger, die im Mondschein jagten, erblickt haben wollen.

Als ich nun noch als Knabe mit meinem Vater dieses Haus bewohnte und wir mit mehreren Jungen und Jungfrauen, die mit meinen Schwestern zu spinnen kamen, hier beisammen saßen; so begab sich, daß plötzlich ein gar wunderschönes Frauenzimmer in einem weißen, lichthellen Kleide und einer goldenen Krone auf dem Haupte hereintrat und durch Zeichen zu verstehen gab, daß man ihr einen Spinnrocken reichen solle. Dies geschah, und da saß sie zu jedermanns Verwundern inmitten der andern Jungfrauen lange Zeit stillschweigend und spann.

Ein Jägersjunge aus der Gesellschaft aber fing bald an, sie durch allerlei Scherze und Fragen zum Sprechen nötigen zu wollen, machte auch Miene, seinen Arm um sie zu schlingen, da verschwand die Jungfrau urplötzlich und wurde nie wieder gesehen.

Den Knaul Garn aber, den sie gesponnen, ließ sie zurück, und der wird von mir zum Angedenken an diese Begebenheit treulich aufbewahrt.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 98-99.
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