Vierte Vorstellung.

[99] »Eine ähnliche Geschichte, die aber von einer Meerfrau handelt,« versetzte die Frau, »hat mir einst mein Vater, der ein Schiffer war, erzählt.«

Ich hat sie um Mitteilung derselben, und sie begann:

»Es begab sich einmal, daß ein junger Geselle, der in dem Wasser wohl schwimmen könnt', beim Mondschein im Meere gebadet; der hat eine Meerfrau ergriffen, sie mit starker Kraft erwünscht und sie mit ihm an das Land gebracht, mit seinem Mantel bedeckt, in sein Haus geführt und öffentlich zu der Ehe genommen. Sie war ihm auch recht freundlich und hielt ihn schön und wohl; doch redete sie kein Wort mit ihm.

Auf einmal meinten seine Gesellen und Nachbarn, es wäre nicht ein recht natürlich und menschlich Weib, sondern ein Betrug und Gespenst, und rieten ihm, er solle sie nötigen, zu sagen, woher sie wäre, und warum sie nicht rede.

Nun hatte sie von ihm empfangen und ihm einen Sohn geboren, den nahm er auf eine Zeit und dräuete der Frau: wo sie nicht sage, woher und wer sie denn wäre, so wolle er den Sohn ertöten. Auf das sprach die Frau: ›O du unseliger Mensch! gewiß du verlierest eine gute Hausfrau, darum, daß du mich zwingest, zu reden; denn ich wäre bei dir allweg geblieben, und[99] dir wäre mit mir wohl gewesen, hättest du mich lassen stumm bleiben; aber nun hinfüro siehst du mich nicht mehr.‹ Und damit verschwand sie.

Aber der Sohn badete oft im Meere: da begab sich einmal, daß er abermals im Meere gebadet, da schwamm die Frau, seine Mutter, hinzu, ergriff den Sohn, und man sah ihn nimmer.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 99-100.
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