Zweiter Akt


[481] Garten und Veranda vor dem Hause Mas. Im Hintergrund zieht die Straße vorbei.


FAWU MA. Mein Name ist Yü-pei, das bedeutet Kleinod. Ich bin die erste Gattin, die Gemahlin erster Klasse des Herrn Ma. Es ist jetzt ein Jahr her, daß Herr Ma eine zweite Gattin ins Haus genommen hat, eine unausstehliche Person namens Haitang, über deren sittliche Qualitäten ich mich nicht äußern will. Aber es sagt wohl schon genug, daß Herr Ma sie von der Straße aufgelesen, wo sie in einem Teehause die zweifelhafte Rolle einer Sängerin, Tänzerin und Kurtisane – ich gebrauche dieses beschönigende Wort – spielte. Ich bin in tiefster Seele verletzt, daß Herr Ma mir, seiner Gattin ersten Ranges, eine solche Persönlichkeit vorzieht. Zu allem Überfluß hat sie ihm einen Knaben geboren, einen Erben, während mein Schoß unfruchtbar geblieben ist. Die Götter wägen das Schicksal der Menschen wohl auf der Goldwaage. Weh mir, was habe ich zu erwarten, wenn ich nicht selbst mein Geschick entschlossen in diese kleinen Hände nehme? Zum Glück wird mir jemand beistehen, der mir ergeben ist auf Leben und Tod.

TSCHAO auftretend. Und das ist niemand anderer als Ihr dienstwilliger Knecht Tschao, Gerichtsbeamter am hiesigen Amtsgericht.

FAWU MA. Ich freue mich, Sie zu sehen, Tschao. Wo kommen Sie zu dieser Stunde her?

TSCHAO. Herr Ma hatte die Freundlichkeit, mich in einer geschäftlichen Angelegenheit zu sich zu bitten.

FAWU MA. Was ist das für eine geschäftliche Angelegenheit?

TSCHAO. Ich bin leider noch nicht unterrichtet, gnädige Frau.

FAWU MA. Ich hatte diese Nacht einen Traum. Ich träumte, wir beide gingen eine steinige Straße, viele, viele Stunden lang. Die Sonne brannte unerträglich. Kein Baum, kein Strauch, nicht der Schatten eines Schattens. Mich dürstete, daß ich zu sterben meinte; kein Quell weit und breit. Da nahmen Sie ein Messer, Tschao, stießen es sich ins Herz, Ihr Blut rann nieder, und Sie sprachen, schon vergehend:[481] Yü-pei, trinken Sie mein Blut, das ich gern für Sie verströme.

TSCHAO. Und Sie?

FAWU MA. Ich trank und war gerettet. Ich bereitete Ihnen ein prunkvolles Begräbnis und verbrachte meine Tage damit, Ihren heroischen Tod zu bejammern und zu beweinen. Und fast schien es mir im Traum, als liebte ich Sie, da Sie tot waren, noch inniger, als da Sie noch lebten.

TSCHAO. Wann werden wir einander völlig angehören dürfen, frei vor aller Welt, und nicht heimlich wie jetzt im Garten, wenn Herr Ma einmal ausgegangen ist?

FAWU MA. Bald, vielleicht eher, als Sie meinen.

TSCHAO. Seit ich Sie sah, Yü-pei, ist das Sternbild der Weberin von seinem Platz am Himmelsgewölbe verschwunden und leuchtet nun auf Erden. Wie ein Glühkäfer schwirrt es vor mir her, und manchmal darf ich es fangen, und erstaunt halte ich es in meiner Hand; es leuchtet, aber es verbrennt mich nicht. Es bleibt aber nicht bei mir. Immer wieder fliegt es davon, und immer wieder muß ich durch Gebüsch und Gesträuche ihm nach. – Yü-pei, zuweilen bin ich ganz verzweifelt, und zuweilen will es mich würdiger dünken, ich machte diesem qualvollen Leben ein Ende, als daß ich noch weiter dahinsieche und meine Tage dahinschleppe wie ein Kahntrecker seinen elenden Kahn den Yang-tse- kiang hinauf. In den Falten meines Mantels trage ich ihn immer bei mir, den Tröster, der ewigen Trost brächte.

FAWU MA. Süßer Tschao, was haben Sie für schreckliche Gedanken! Zeigen Sie, was Sie in den Falten Ihres Mantels tragen.

TSCHAO holt ein kleines Büchschen hervor. Ich kaufte es einem Mönch ab im Tempel des Wuwang.

FAWU MA. Gift!

TSCHAO. Ich habe mich in den Schutz des Gottes der Krähen gestellt. Niemand wird mich begraben; ich habe keine Anverwandten. Auf das freie Feld wird man meinen Leichnam werfen. Die Krähen werden kommen und ihre Mahlzeit halten.

FAWU MA. Süßer Tschao, gib mir das Gift, gib es mir, du darfst es nicht bei dir tragen in einemZustand, da dein Gemüt verdunkelt ist. Sie entwindet ihm die Büchse.[482] Ich hebe es auf! Wer weiß, ob nicht die Stunde einmal kommt, da wir gemeinsam die Reise in die unteren Bezirke antreten.

TSCHAO. Mit dir zu sterben, wäre mir höchste Seligkeit.

FAWU MA. Jetzt sollst du noch mit mir leben, und diese Seligkeit wird süßer sein. Zieht ihn hinter einen Baum. Umarmung. Ich bat dich bei unserer letzten Zusammenkunft, die Gesetzesbücher auf einen strittigen Punkt durchzusehen und mir Auskunft zu geben über die Frage: wer ist Erbe von Geld und Gut, Haus und Hof, wenn der Mann stirbt?

TSCHAO. Erbe, und zwar Alleinerbe, ist die erste Frau, die Gattin erster Klasse.

FAWU MA freudig. Tschao!

TSCHAO. Doch tritt in der Erbfolge eine Änderung ein, falls sie kinderlos bleiben sollte.

FRAU MA stampft mit dem Fuß auf.

TSCHAO. Hat eine Nebenfrau einen Knaben geboren, dann tritt sie und das Kind in die Rechte der Alleinerben, und die Hauptfrau wird auf ein Pflichtteil gesetzt.

FAWU MA. Das ist also mein Schicksal, wenn Ma stirbt. Habe ich ihm nicht schon treu gedient, als diese Hure von Haitang noch gar nicht auf der Welt war? Jetzt soll ich mein Alter in Armut und Elend wie einen Leinensack tragen, während sie mit ihrem Bankert in goldener Sänfte an mir vorbeigetragen wird, und ich hocke am Straßenrand und bettle um ein paar Kesch.

TSCHAO. Das wird nie geschehen, solange ich lebe.

FAWU MA. Großes Kind – bist du nicht arm wie eine Kirchenmaus? Dein dürftiges Gehalt, um das dich Herr Tschu, der Oberrichter, obendrein noch meist betrügt, reicht kaum zum Tabakkauen für dich. Muß ich dir nicht immer von mir aus noch einige Taels zustecken und dir Reis und Kuchen schicken? Du wärst wohl längst verhungert ohne mich.

TSCHAO. So siehst du keinen Weg aus dem Elend?

FAWU MA langsam. Ich sehe – einen. Wirst du mir versprechen, mir auf diesem Wege zu folgen, auch wenn dieser Weg ein krummer Weg sein sollte? Wirst du die Augen schließen und dich ganz meiner Führung anvertrauen? Mir zuliebe?[483]

TSCHAO. Ich will es versprechen, weil ich keinen Weg sehe.

FAWU MA. Die Stunde des Gerichts hat eben zu schlagen begonnen. Ich werde gehen, dich Herrn Ma zu melden.


Ab.


TSCHAO. Tschao-hai nennt man mich auf dem Gericht: Tschao, den sich durch Tugenden Auszeichnenden. Werde ich diesen Ehrentitel noch lange tragen dürfen? Ich werde heute abend Räucherwerk entzünden, um die bösen Geister, die sich in meinem Hause und meinem Herzen schon festgenistet haben, zu vertreiben.


Ma erscheint auf der Veranda, hinter ihm Frau Ma, Haitang, die sich alle drei verneigen. Tschao ebenfalls.


MA.

Wie tief im Tal der schwarze Fluß, daran

die Stadt gelagert wie ein Haufen

von den Söldnern nach der Schlacht!

Es warf ein jeder

sich in das Feld, grad wo er stand, so sehr

ermüdeten ihn Blutrausch, Mord und Tod.

Also die Häuser, da und dort verstreut,

gehalten nur

von einem Turm, der herrisch in der Mitte

den Strahlenhelm nach allen Seiten dreht.

Der Yang-tse-kiang, so sagt man, berge Perlen

in seinen schwarzen Wassern. Wer um Mittnacht,

mit reinem Sinn und Zauberspruch begabt,

sich an das Perlenfischen macht, dem ist

zuweilen wohl ein seltner Fund gegönnt.

Ich ging die Nacht an seinen dunklen Ufern

und fand ganz ohne Zauber – auch das Herz

war nicht so rein, wie die Beschwörung fordert –

ich fand ein Perlchen doch und hob es auf.

Und strahlender als des Mikado Perlen

hat's mir die Nacht erleuchtet, süßer mich

als alle Perlen Indiens beglückt.

TSCHAO. Ihr Knecht Tschao ist auf das höchste geehrt, mit seinen geringen seelischen und geistigen Kräften Euer Hochgeboren[484] vielleicht einen bescheidenen Dienst leisten zu dürfen.


Frau Ma und Haitang bringen je eine Strohmatte, die sie ausbreiten.


MA. Ich bitte Platz zu nehmen.


Ma und Tschao setzen sich auf die Strohmatten. Zu den Frauen.


Laßt uns allein.


Haitang und Frau Ma ab.


TSCHAO. Ein herrlicher Frühlingstag!

MA. Lau und milde wie ein Sommertag. Er tut meinen alternden Gliedern wohl. So ist Haitang.

TSCHAO schweigt.

MA. Man nennt Sie auf dem Gericht Tschao-hai: der sich durch Tugend, Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit auf das höchste auszeichnet.

TSCHAO. Meine Verdienste sind unbeträchtlich, meine Charaktereigenschaften einer Hervorhebung nicht würdig – man übertreibt.

MA. Ich möchte Sie daher ersuchen, meine Interessen in einer juristischen Angelegenheit zu vertreten, die mir schon lange im Kopfe herumgeht.

TSCHAO. Ich werde nicht verfehlen, Ihnen nach Möglichkeit zu dienen.

MA. Über das Honorar werden wir uns leicht einigen. Ich höre, daß Sie nicht in den besten Verhältnissen leben.

TSCHAO. Ich kann leider nicht widersprechen.

MA. Ich bitte Sie, im Rahmen des Möglichen natürlich, jede beliebige Summe als Vorschuß entnehmen zu wollen.

TSCHAO. Und worum handelt es sich, wenn ich mir die Frage gestatten darf?

MA. Ich habe beschlossen, mich von meiner Gattin ersten Ranges, Yü-pei, scheiden zu lassen und Haitang in ihren Rang zu erheben. Ich liebe Haitang, sie hat mir einen Erben geboren. Ich beauftrage Sie mit der Erledigung der juristischen Formalitäten.

TSCHAO ist aufgesprungen.

MA. Warum bleiben Sie nicht sitzen?

TSCHAO. Ich leide in letzter Zeit an Rheumatismus; die Strohmatte[485] hält die Feuchtigkeit des Erdbodens, zumal im Frühling, nicht genügend zurück. Ich bitte für meine Formlosigkeit um Entschuldigung.

MA. Nun? Wollen Sie meine Angelegenheit führen?

TSCHAO. Ich bin selbstverständlich entzückt, Ihnen behilflich sein zu können.

MA. Es würde die Lösung erleichtern, wenn man Frau Ma eine Untreue nachweisen könnte, irgendein Verhältnis mit einem Mann, das die Sittenlehre nicht billigt.

TSCHAO. Ein solches Verhältnis läßt sich zur Not auch künstlich herbeiführen. Man konstruiert einen Ehebruch.

MA. Ich sehe, wir verstehen uns.


Klatscht dreimal in die Hände, Frau Ma und Haitang erscheinen.


Yü-pei, geleite den Herrn bis an das Tor. Haitang, du hast mir heute den Knaben noch nicht gezeigt? Komm, zeige ihn mir!


Beide ab ins Haus.


FAWU MA. Was wollte er?

TSCHAO. Er will sich scheiden lassen.

FAWU MA. Von mir?

TSCHAO. Von dir. Er beauftragt mich, die Scheidung einzuleiten.

FAWU MA. Wir müssen handeln, jeder Aufschub wäre Torheit und Verrat am eigenen Geschick.

TSCHAD. Was willst du tun?

FAWU MA. Schließe die Augen! Der Gott des Dunkels sei mit dir!


Frau Ma ab ins Haus. Am Gartenzaun erscheint, völlig zerlumpt, Tschang-ling.


TSCHANG-LING.

Nun bin ich gegangen

Von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt,

Blieb niemand an mir hangen.

Es rollt des Schicksals Rad,

Und Stunde rollt und Tag und Jahr,

Stein ward mein Herz, staubweiß mein Haar;[486]

Wie doch die Landstraß staubig war.

Trugglanz ist alles, und nichts ist wahr.

Ich hab keine Heimat, wenn nicht das Feld.

Ich habe kein Haus, wenn nicht die Welt.

Kein Geld, kein liebes Lächeln, das mich hält.

Ihr Herren und Damen, in aller Heiligen Namen,

Wollet mir etwas schenken!

Und wenn ich's versaufe, wer kann mir's verdenken?


Ich laufe durch die Welt, wie elend, wie schwelend mein Herz! Flamme unter der Asche! Rauch und Ruß überall. Tags saß ich in hohlen Baumstämmen und schlief. Nachts machte ich mich auf den Weg und lief da- und dorthin. Schwirrte wie eine Fledermaus; die Dunkelheit tat mir wohl. Das Licht schmerzte mich. Wohin sind meine eleganten Kleider? Die trunkenen Abende in den Schenken? In Fetzen hängen mir einige Lumpen am Leibe. Mein Magen ist eine gedörrte Pflaume. Vor den Tempeltüren knie ich und flüstere heiser: einen Kesch, schöne Dame, im Vorüberwandeln, im Namen der Göttin Kwanyin, die Ihr selbst eine Göttin seid, geschnitzt aus Bergkristall. Einen Kesch, hoher Herr, im Namen des Gottes Fo, den zu besuchen Ihr Euch anschickt, um sein brüchiges Standbild neu vergolden zu lassen. Vergolde mir Eure Güte eine Stunde meines schwarzen Tages. – Ich traf einen alten Zauberer. Ich bat ihn um Aufklärung über das Wesen Himmels und der Erde. Er sagte mir: Bruder, tritt der Gesellschaft Himmels und der Erde bei, so wirst du es erfahren. Die drei großen Mächte sind: Himmel, Erde, Mensch. Warum willst du, der Mensch, dich deiner Macht begeben? Einsicht und Nachdenken wird dich zu den Gestirnen erheben. Du wirst neben der Weberin im goldenen Kreise ziehen. Ich schwieg und dachte, und nachdem ich nachgedacht, trat ich der Gesellschaft bei, die das Los der armen Menschen bessern will. – Das höchste Wesen will nicht, daß Millionen Sklaven sind von einigen wenigen, denen der Zufall Gold und Edelsteine in Fülle in den Schoß warf. Der furchtbare Unterschied von arm und reich muß aufgehoben werden. Weh uns, daß Männer ihre Seele, Mütter ihre Töchter verkaufen müssen, um des nackten, dürftigen Lebens willen. Vater Himmel und Mutter Erde haben[487] nie und nimmer Tausenden ein Recht gegeben, das Eigentum ihrer Millionen Brüder zur Befriedigung ihrer Üppigkeit zu verschlingen. Sie prassen von dem Schweiß und der Arbeit ihrer unterdrückten Brüder. Die Sonne mit ihrem strahlenden Antlitz, die Erde mit ihren reichen Schätzen, die Welt mit ihren Freuden ist gemeinschaftliches Gut, das zur Bestreitung der dringendsten Bedürfnisse Millionen nackter Brüder aus den Händen der paar Tausend zurückgenommen werden muß. Die Menschheit muß endlich einmal von ihrem Jammer erlöst werden. Der edle Same des Menschentums darf nicht unter dem Unkraut der Unmenschlichkeit erstickt werden. Ein solch verruchtes Unkraut, das den Blumen und nützlichen Pflanzen die Erde wegnimmt, ist Herr Ma, der Besitzer dieses Hauses. Er hat meinen Vater in den Tod, mich in das Elend getrieben und meine Schwester gezwungen, sich ihm zu verkaufen. Sein Name ist in der Liste der Brüderschaft längst mit einem Kreidekreis umgeben. Das bedeutet seine Trennung von dieser Welt. Sein Urteil ist gesprochen. Und ich bin erkoren, es zu vollstrecken.


Haitang erscheint.


HAITANG. Was will der fremde Mann am Zaun?

TSCHANG-LING. Er bittet demütigst um eine Schale Reis. Ihn hungert.

HAITANG. Warte, fremder Mann. Geht und kommt im Augenblick mit einer Schale Reis wieder, die sie ihm bietet. Wer bist du, fremder Mann?

TSCHANG-LING. Der Sohn eines Vaters, der sich erhängte, der Sohn einer Mutter, die in Kummer starb. Der Bruder einer Schwester, die sich verkaufte.

HAITANG. Bruder! – Laß mich vor dir niederknien und den Staub von deinen Füßen küssen. Wie weit bist du gewandert durch Schmutz und Kot?

TSCHANG-LING. Kannst du mir verzeihen, daß ich dich einst schlug wie man ein Maultier schlägt? Wie darf Mensch den Menschen schlagen, Bruder die Schwester?

HAITANG. Unsere Mutter starb, als du in der Fremde warst. Herr Ma, mein Gebieter, hat ihr ein sieben Stock hohes Denkmal errichtet.[488]

TSCHANG-LING. Hätte Herr Ma unserm Vater ein einstöckiges Haus errichtet, da er lebte, und ihm die geringen Schulden erlassen, Herr Ma hätte besser gehandelt.

HAITANG. Er handelte, wie seine Natur ihm gebot.

TSCHANG-LING. Gebot sie ihm, dich zu kaufen und als seine Sklavin zu halten, seinen bösartigen Trieben dienstbar?

HAITANG. Herr Ma kaufte mich als seine Sklavin, er hat mich als seine Gattin ehren und achten gelernt.

TSCHANG-LING. Und worin besteht diese Achtung?

HAITANG. Er hat mir ein Kind geschenkt.

TSCHANG-LING. Wie, du hast dich dazu hergegeben und erniedrigt, diese verfluchte Rasse der Ma fortzupflanzen?

HAITANG. Es ist auch mein Kind, und auch ich werde in ihm auf Erden wandeln, wenn mein Leib längst im Sarge fault. Ich flehe dich an, Ma nicht zu hassen. Dein Elend macht dich ungerecht gegen ihn. Ich werde Ma bitten, dir eine Stellung zu verschaffen. Er hat ausgedehnte Geschäfte, es wird sich gewiß etwas für dich finden.

TSCHANG-LING. Ich will von seinen verbrecherischen Händen Güter nicht empfangen.

HAITANG. Er ist kein Verbrecher. Er ist weder gut noch schlecht. Dies ist sein Charakter. Er kennt weder das eine noch das andere. Er lebt wie der Panther im Busch.

TSCHANG-LING. Das Raubtier, das sich vom Blute lebender Menschen nährt, muß zur Strecke gebracht werden.

HAITANG. Was willst du tun?

TSCHANG-LING zieht ein Messer. Sieh dieses Messer –

HAITANG. Ich beschwöre dich –

TSCHANG – LING. Siehst du das Zeichen hier am Knauf?

HAITANG. Es ist das Zeichen der weißen Lotosblume.

TSCHANG-LING. Ich bin Mitglied der Bruderschaft vom weißen Lotos. Die Bruderschaft hat sein Todesurteil gesprochen. Sein Haus soll angezündet und in der Verwirrung geplündert werden. Der Verband der Feuerwehr ist von der Bruderschaft benachrichtigt. Er wird zum Löschen zu spät kommen.

HAITANG. Das Rad des Schicksalswagens rollt, und ich bin mit Stricken daran gebunden. Gewähre Aufschub, ihm und mir. Ich will mit ihm reden. Er wird der Bruderschaft eine[489] Stiftung von tausend Taels in Gold machen; gewiß, das wird er.

TSCHANG-LING. Er wird sich nicht vom Gericht loskaufen. Das Gericht der Bruderschaft ist unbestechlich.

HAITANG. Das Orakel – laß mich das Orakel des Kreidekreises befragen. Sie zieht einen Kreis. Gib mir das Messer. Ich werfe mit dem Messer nach dem Kreis. Der Kreis umschließt sein Leben. Trifft das Messer den Raum innerhalb des Kreises, so haben die Götter gerichtet, so soll die Lotosblüte sich entfalten, so muß er sterben. Sie schleudert das Messer; das Messer trifft genau die Kreislinie. Das Messer hat nicht innen, nicht außen, es hat genau die Linie des Kreises getroffen. Bruder, nimm das Messer, und berichte der Bruderschaft von dem wunderlichen Orakel. Laß es die Weisesten der Bruderschaft deuten. Dies eine versprich mir, das Urteil nicht eher zu vollziehen, als bis der Sinn des Orakels geklärt.

TSCHANG-LING. Ich werde es den Brüdern berichten. Ich werde wiederkommen.

HAITANG. Bruder, lieber Bruder, wie siehst du so armselig drein. Komm, nimm dieses Pelzgewand Sie zieht es aus. über deine Lumpen, und nun geh! Fo sei mit dir! Er gebe dem Pfeil deines edlen Willens das rechte Ziel.

TSCHANG-LING. Kwanyin segne dich!


Ab. Haitang sieht ihm am Gartenzaun nach, Frau Ma erscheint.


FAWU MA. Sie sprachen am Gartenzaun mit einem fremden Mann. Wer war es?

HAITANG schweigt.

FAWU MA. Ich kann mir wohl denken, wer es war. Es gehört keine üppige Phantasie dazu. Schämen Sie sich nicht, an der Straße mit Männern anzubändeln? Sie haben wohl Ihre Teehausmanieren noch nicht verlernt? Haben Sie vergessen, daß Sie die, wenn auch zweite, Gattin eines hochgeachteten Mannes geworden sind? Sie treten die Ehre des Herrn Ma, meines[490] hohen Gebieters und Herrn, mit Füßen. Wissen Sie, was Ihnen gebührt? Dreißig Stockschläge auf die Sohlen! Und was sehe ich soeben? Wo ist der kleine Mantel geblieben, den Sie heut früh noch über dem Kleid trugen?

HAITANG. Ich habe ihn verschenkt.

FAWU MA. Ein Geschenk des Herrn Ma zu Ihrem Geburtstag haben Sie verschenkt?

HAITANG. Ich habe ihn jenem armen Mann am Zaun geschenkt. Er ist so arm, und wir sind so reich. Es war ein Bettler.

FAWU MA. Bettler hin, Bettler her. Sind Sie schon soweit heruntergekommen, daß Sie sich unter den Bettlern einen Liebhaber suchen?

HAITANG. Das Sittengesetz gebietet, den Armen wohlzutun.

FAWU MA. Das, was Sie »wohltun« nennen, wird das Sittengesetz nicht gemeint haben.

HAITANG. Wie viel Elend ist in der Welt, wollen wir nicht versuchen, nach unsern schwachen Kräften dazu beizutragen, es zu lindern?

FAWU MA. Herr Ma zahlt pünktlich seine Kirchensteuern, das genügt. Aber jetzt genug der überflüssigen Kontroversen. Herr Ma will hier im Garten bei dem schönen Wetter seinen Tee nehmen. Richten wir den Teetisch.


Tun es, Ma kommt aus dem Hause. Frau Ma und Haitang verneigen sich.


MA. Wo bleibt der Tee?

HAITANG. Sofort, lieber Herr.


Geht ins Haus.


FAWU MA. Darf ich eine Frage an meinen Herrn richten?

MA. Ich bitte darum.

FAWU MA. Haitang scheint Ihrem Herzen seit einiger Zeit besonders nahe zu stehn?

MA. Sie schenkte mir einen Erben.

FAWU MA. Sie haben mir seit Monaten nicht mehr die Ehre eines nächtlichen Besuches erwiesen.

MA. Ich bin Ihnen Rechenschaft nicht schuldig.

FAWU MA. Haitang betrügt Sie! Ich sah sie mit einem fremden Menschen am Gartenzaun stehen. Vielleicht hat sie gar dunkle Pläne, wer weiß? Sie hat dem Fremden ihren mit Pelz[491] besetzten Überwurf geschenkt, den Sie ihr zum Geburtstag verehrten.

MA. Ich werde Haitang sofort zur Rede stellen.

HAITANG kommt mit einer Tasse Tee.

MA. Haitang, man hat mir eben schlimme Dinge berichtet.

HAITANG. Nicht alle Zungen reden wahr.

FAWU MA. Ich pflege nicht zu lügen.

MA. Du hast mit einem fremden Mann hier am Gartenzaun geredet?

HAITANG. Ich habe mit einem Bettler gesprochen.

MA. Du hast ihm den kleinen, mit Pelz besetzten Mantel geschenkt, ein Geschenk von mir? Achtest du so die Geschenke deines Mannes, der dich liebt?

HAITANG. Ich diene in Demut meinem Herrn und weiß seine Güte gebührend zu schätzen. Aber der Bettler hatte nur Lumpen auf seinem Leib. Er fror. Er dauerte mich.

MA. Sahst du den Bettler heut zum ersten Male?

HAITANG. Nein.

FAWU MA. Erkennen Sie nun ihre Treulosigkeit?

MA. Wer war der Bettler?

HAITANG. Mein Bruder.

FAWU MA. Glauben Sie der lügnerischen Person?

MA. Ich glaube, denn ich liebe. Seit ich dich kenne, Haitang, hast du mein Herz verwandelt. Du hast nichts dazu getan, mich zu überzeugen, dein einfaches Dasein wirkte. Hättest du mich, der ich deinen Vater in den Tod, deine Familie in Jammer und Elend gestürzt, nicht hassen müssen? Hättest du mir den Tod gewünscht, es wäre nur allzu natürlich gewesen. Ich habe dich aus dem Teehaus geraubt wie ein wilder Affe im Urwald ein Menschenweib. Du warst immer gleich, immer du, sanft wie eine Göttin. Daß es Göttinnen gibt, habe ich durch dich erfahren. Durch dich habe ich erst an das höchste Wesen glauben gelernt. Haitang, fühlst du, daß ich zu lieben vermag, und daß ich dich liebe?

HAITANG. Tränen der Freude steigen mir ins Auge. Am Himmel die Sonne lächelt wieder. Es wird alles wieder gut werden, da du, Ma, wieder gut wurdest.

MA. Zum erstenmal sagst du »du« zu mir, Haitang. Wie bin[492] ich froh darüber, daß die Wand zwischen uns fiel, daß ich wie im Hause des Herrn Tong nicht mehr durch die Wand zu kommen brauche. Himmel, Erde, Mensch sind die drei großen Mächte. Du, ich, das Kind – wir werden die drei kleinen Mächte sein. Eins und drei in der einen, seligen Dreieinigkeit.

FAWU MA. Sie wollten Tee trinken, gnädiger Herr.

HAITANG. Ich vergaß den Zucker. Wie nachlässig ich bin.

FAWU MA. Geben Sie die Tasse! Ich werde den Zucker hineintun. Sie nimmt die Tasse, geht bis zur Veranda, zieht die Büchse, die ihr Tschao gegeben, heraus; leise. Ich werde den Zucker hineintun, den mir Tschao gegeben. Schüttet das Gift in den Tee.

HAITANG. Die Liebe zu dir hat sich heut wie eine Lotosblume in mir entfaltet.

MA. Ich danke dir für deine Liebe.

HAITANG. Warum sprach ich soeben von einer Lotosblüte? Erinnere mich, wenn du den Tee getrunken hast, daß ich dir von einer Lotosblüte erzählen muß.

FAWU MA gibt Haitang die Tasse mit Tee. Kredenzen Sie ihm den Tee. Aus Ihren Händen mundet er ihm doppelt gut.

MA. Erzähle mir, während ich trinke, das Märchen von der Lotosblüte ... Er trinkt, läßt die Tasse fallen, die in Scherben klirrt. Faßt Haitang am Handgelenk. Haitang – ich – sterbe – Fällt tot zusammen.

HAITANG. Mein lieber Mann – mein lieber Mann – ich wollte dir noch das Märchen von der Lotosblume erzählen – hörst du mich nicht? Siehst du mich nicht? Bist du nicht mehr bei mir? Sie kniet hin vor Ma, legt seinen Kopf in ihren Schoß.

FAWU MA. Hilfe! Hier ist jemand ermordet. Herr Ma ist vergiftet.


Hin- und Herlaufen von Dienern und Dienerinnen. An der Straße tauchen Tschao und Tschang-ling auf. Eine Polizeipatrouille erscheint.


FAWU MA. Ma ist tot. Wir sind frei!

TSCHAO entsetzt zurückweichend. Wer hat ihn getötet?


Polizei.[493]


EIN POLIZIST. Was gibt es?

FAWU MA. Diese Person da, Herrn Mas zweite Gattin, ehemals ein Teehausmädchen niedersten Ranges, hat meinen erlauchten Gatten, Herrn Ma, vergiftet.

POLIZIST. Bindet sie!

HAITANG. In der ersten Stunde, da ich dich kennen lernte, muß ich dich verlieren, Ma. – Gebt mir mein Kind! Reißt mich nicht von meinem Kinde!

FAWU MA. Von ihrem Kinde? Ihr Geist ist verwirrt oder voll böser Anschläge. Sie hat kein Kind. Das Kind im Hause ist mein Kind, das ich von Herrn Ma empfangen, und das sie nur gewartet hat.

POLIZIST. Führt die Verbrecherin ab!

TSCHANG-LING. Ein Gott hat gerichtet!

HAITANG vor Mas Leiche. Er wird abwischen alle Tränen von meinen Augen.


Vorhang.[494]


Quelle:
Klabund: Der himmlische Vagant. Köln 1968, S. 481-495.
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