Dritter Akt


[495] Im Hintergrund Mitte Sessel des Hauptrichters mit Tisch. Links und rechts Sessel für Beisitzer. In der Mitte über dem Sessel Gobelin mit dem Bildnis des fünfklauigen Drachen. Rechts und links daneben lange schmale Fahnen mit chinesischen Schriftzeichen. Vor dem Sessel des Richters ist ein Kreidekreis gezogen, in den die Angeklagte zu knien hat. Links und rechts im Vordergrund der Raum für Zeugen und Publikum, vom Mittelraum durch Barrieren getrennt. Tschu-tschu, der Richter, sitzt auf dem Richterstuhl und frühstückt.


TSCHU. Mein Name ist Tschu-tschu, ich bin der von Seiner Kaiserlichen Himmlischen Majestät Erhebt sich, setzt sich wieder. eingesetzte oberste Richter von Tscheu-kong. Das Publikum erwartet deshalb nicht, von mir mit der üblichen Devotion begrüßt zu werden. Ich neige weder meine Knie noch meine Stirn vor einer derartigen Gesellschaft miserabler Kreaturen, wie ich sie hier zu meinem Abscheu versammelt sehe. Es dürfte nicht einer im Publikum sein, der es mir an Rang, Ansehen und Bildung gleichtut, und deshalb dürfte es weit eher am Platze sein, wenn sich das Publikum zu meiner Ehre von seinen schmutzigen Bänken erhöbe und dem Prinzip des Staats, der Rangordnung, des Rechtes und der Sittlichkeit denjenigen Respekt bezeigte, der diesen erhabenen Prinzipien der Menschheit zukommen dürfte. Um neun Uhr sollen die Gerichtsverhandlungen beginnen, jetzt will ich erst einmal in Ruhe frühstücken. Er knabbert an Früchten, beißt in ein Brot. Das Frühstück gehört zu den angenehmsten Dingen des Lebens. Mit vollem Magen kann man einen Angeklagten, einen Dieb etwa, der aus Hunger gestohlen, nochmal so leicht und mit doppelt gutem Gewissen zum Galgen verurteilen. Heute bin ich leider ein wenig verkatert. Ich habe Kopfweh. Ich habe die Nacht im Hause des Herrn Tong verbracht in Gemeinschaft mit den drei reizenden Mädchen Yü, Yei, Yau. Sie haben mich mit Gong, Flöte und Geige in den Schlaf musiziert, nachdem[495] wir Reiswein in erheblichen Portionen zu uns genommen und die reizende Yau mir mit Seele und Leib, besonders Leib, hihi, angehört hatte. Ich habe hier eine kleine, farbige Tuschzeichnung, welche die drei Mädchen völlig unbekleidet in allerlei verfänglichen Stellungen zeigt. Die will ich mir jetzt in Muße betrachten, indem ich mich würdig auf den heutigen Abend vorbereite. Der Nacken von Yü, alle Achtung! Aber die Schenkel von Yau, auch nicht zu verachten! Aber erst die kleinen Brüste von Yei, ihnen muß ich doch den Preis zuerkennen!


Tschao tritt ein.


TSCHAO. Ich bitte um Vergebung, wenn ich Sie in Ihren Meditationen störe, Exzellenz. Frau Ma, die Klägerin in dem ersten der heute angesagten Prozesse, beauftragt mich, Ihnen als Zeichen ihrer devotesten Unterwürfigkeit unter EuerExzellenz richterliche Einsicht diesen kleinen Beutel übersenden zu dürfen. Überreicht ihm einen Beutel mit Gold und zieht sich zurück.

TSCHU läßt das Gold über den Tisch rollen. Gold – Gold – keine schönere Musik, als wenn Gold über den harten Tisch rollt. Es klingelt wie Pagoden- Glocken. Beim Geläut des Goldes werde ich förmlich fromm. Frau Ma ist eine überaus freigebige Dame. Sie dürfte ihr Recht finden. Man nennt mich im Volksmund nicht umsonst den Herrn Doppelkopf mit der gespaltenen Zunge. Ich werde schon alles so drehen und deuteln, daß der Schein des Rechtes hell leuchtet und man mir auf keinen Fall an den Wagen fahren kann. Jetzt will ich mich aber noch ein wenig in das Strafgesetzbuch vertiefen Packt das Gold und sein Frühstückszeug zusammen. und mich in das Beratungszimmer zurückziehen. Die Paragraphen über Beamtenbestechung werden mir keine Kopfschmerzen machen. Ich entferne sie einfach, ritsch, ratsch, Reißt Blätter heraus. aus meinem Buch. Da ich jedesmal dieses Buch, Gesetze und Verordnungen des Herrscherhauses der Mantschu, beschwöre, danach Recht zu sprechen, so werde ich keinen Meineid leisten, und mein Herz ist rein wie die Wolle eines jungen Lämmchens. [496] Ab durch eine Tapetentür im Hintergrunde. Der Raum hinter der Barriere füllt sich. Frau Ma erscheint. Frau Ma winkt einer dicken Frau, der Hebamme; zieht sie in die Mitte des Raumes.

FAWU MA. Vorsicht, treten Sie nicht in den Kreidekreis, sonst werden Sie selbst angeklagt, oder der Zauberkreis bannt Sie.

HEBAMME. O je, o je, wie habe ich's nur verdient, aufs Gericht zu kommen. Die Schande, die Schande! O je, o je, mein Herz schlägt, als sollte es mir die Brust zerschlagen. Was wird mein Mann sagen? Ich habe solche Angst, Frau Ma. Was wird mit mir geschehen? Wird man mich foltern?

FAWU MA. Reden Sie keinen Unsinn, Frau Lien. Sie sind nur hier als Zeugin geladen. Sie sollen zeugen –

HEBAMME. O je, o je, ich glaubte immer, daß nur die Männer zeugen können, wovon ich ja in meinem Berufe mich hinlänglich überzeugen konnte, und nun soll ich selbst zeugen?

FAWU MA. Sie sollen Zeugnis ablegen, Frau Lien, daß der Knabe Li mein Kind ist und nicht das der Haitang.

HEBAMME. Aber wie soll ich dieses Zeugnis ablegen, da es doch nicht wahr ist?

FAWU MA. Pst!

HEBAMME. War ich doch selbst es, die die Nabelschnur zwischen dem Kinde und der Frau Haitang trennte.

FAWU MA. Frau Lien, Sie irren sich! Hier haben Sie zwanzig Goldtaels, um Ihrem Gedächtnis auf die richtige Spur zu helfen.

HEBAMME. Frau Ma sind zu gütig, zu gnädig zu einer armen, alten Frau. Ja, ja, ja, ja, jetzt dämmert es mir, mir ist da in der Dämmerung eine Verwechslung unterlaufen – ich habe Sie und Haitang verwechselt! Diese Haitang ist eine stolze und hochmütige Person, und obwohl aus dem gleichen niedrigen Stande wie ich, hat sie nie ein freundliches Wort für mich gehabt. Immer von oben herab!

FAWU MA. Da ist es ja wohl kein Wunder, daß sie Herrn Ma, Schluchzend. meinen geliebten Mann, vergiftet hat.

HEBAMME. Was Sie nicht sagen! Vergiftet? Ja, ja, ja, ja, es gibt böse Menschen auf der Welt. Da kann ja auch wohl das Kind nicht von ihr sein.[497]

FAWU MA. Kommen Sie nach Schluß des Prozesses zu mir nach Haus, ich habe noch einige abgelegte Kleider, glänzend erhalten, es wird sich gewiß noch ein Staatskleid für Sie darunter finden.

HEBAMME. Meinen innigsten Dank, Frau Ma. Küßt ihr die Hand. Frau Ma sind zu gütig zu mir, zu herablassend.


Frau Ma läßt sie gehen und zieht zwei Kulis nach vorn.


FAWU MA. Ihr seid doch Männer, die wissen, was sich schickt?

ZWEI KULIS. Das wollen mir meinen! Spucken in den Saal und sprechen immer gleichzeitig.

FAWU MA. Die der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wollen?

ZWEI KULIS. Gerechtigkeit, was ist das?

FAWU MA. Gerechtigkeit ist, wenn ich Euch hier ein paar Taels gebe und ein Päckchen Kautabak, und Ihr sagt hier als Zeugen vor Gericht das aus, was ich Euch vorsagen werde.

ZWEI KULIS. Wir haben in der Schule immer gut auswendig gelernt. Also schießen Sie nur los. Wir werden es genau behalten, denn wir sind helle Köpfe, daran ist kein Zweifel. Wir haben in der Schule gelernt, uns in unserem moralischen Lebenswandel nach Sprichwörtern zu richten. Wir kennen einige treffliche Sprichwörter, nach denen wir uns richten werden: Geld kommt vor allen Tugenden der Welt. Oder dieses: Hast du von jemand Geld bekommen, so handle ihm zu Nutz und Frommen.

FAWU MA. Ich sehe, ich kann mir weitere Belehrungen ersparen. Ihr seid in der Tat aufgeweckte Burschen. Ihr werdet also bezeugen, daß Ihr Nachbarn von Herrn Ma seid, der, als ich seinerzeit den Knaben Li gebar, ein Fest für das ganze Stadtviertel und jedem der armen Leute eine Unze Silber als Festgabe gab. Ihr werdet bezeugen, daß Ihr mich, Herrn Ma und den Knaben oft genug zum Tempel Fo habt pilgern sehn, wo wir zu Ehren des Fo, und daß er den Knaben in seine Hut nehme, Weihgeschenke niederlegten und Weihrauch entzündeten. Ihr müßt beschwören, daß der Knabe mein Kind, und nicht das Kind Haitangs ist.

ZWEI KULIS heben grinsend die Finger zum Schwur.[498] Haben wir den Schwur erst mal auf der Gabel hier, dann wird er auch heruntergeschluckt. Der Eid wird geschworen, darauf können Sie das Gift nehmen, das, wie wir hören, Haitang Herrn Ma in den Tee gerührt hat.

FAWU MA. Sie ist eine Mörderin, vergeßt das nichtl Sie verdient das Schlimmste.


Kulis zurück in den Haufen.

Die Gerichtsglocke ertönt. Die Tapetentür öffnet

sich, und es erscheinen in gemessenem Zug: Tschu-tschu, Tschao und noch drei Richter. Sie nehmen ihre Plätze ein, bleiben stehen. Zwei Gerichtsdiener halten Zeugen und Publikum, darunter Tschang-ling, im Schach.


TSCHU. Im Namen Seiner Kaiserlichen Himmlischen Majestät Brabbelt unverständliches Zeug. eröffne ich die heutige Sitzung.


Die Richter setzen sich.


739. Sitzung, 850. Verfahren, Abteilung Ma contra Ma. Gerichtsdiener, führen Sie die Angeklagte herein.


Gerichtsdiener führt aus einer zweiten Tür im Hintergrund Haitang herein.


TSCHU. Angeklagte, nehmen Sie Ihren Platz dort innerhalb des Kreidekreises.

HAITANG macht einen dreimaligen Kotau und steht dann wieder aufrecht da.

TSCHU. Herr Tschao, Sie protokollieren?

TSCHAO. Sehr wohl, Exzellenz.

TSCHU. Angeklagte, Sie heißen?

HAITANG. Tschang-Haitang, Tochter des Tschang, Frau des hochgeborenen Herrn Ma.

FAWU MA unterbrechend. Nebenfrau des hochgeborenen Herrn Ma, seine bloße Beischläferin, Konkubine sozusagen, aus einem Freudenhause aufgelesen, die Gattin ersten Ranges bin ich.

HAITANG. Ich war Herrn Ma rechtlich angetraut. Da ich ihm einen Knaben geboren hatte, der Schoß seiner ersten Gattin unfruchtbar geblieben war, gedachte er, mich in den Rang der Hauptfrau zu erheben und sich von Frau Ma zu scheiden.[499]

FAWU MA. Sie lügt wie eine Elster. Seht nur die freche Person. Sie hat ihm ein Kind geboren? Ei, wann denn?

TSCHU. Beruhigen Sie sich, Frau Ma. Im Laufe der Verhandlung wird sich ja alles der Wahrheit gemäß herausstellen. Wer erhebt die Anklage?

FAWU MA. Ich, Yü-pei, rechtmäßige Hauptgattin des verewigten Herrn Ma, klage Haitang, Tochter des Gärtners Tschang und Nebenfrau des hochgebornen Herrn Ma, des versuchten Kindesraubes und des vollendeten Giftmordes an Herrn Ma an.


Bewegung im Zuschauerraum.


TSCHU. Angeklagte, was haben Sie zu dieser außerordentlich präzisen Anklage zu bemerken?

HAITANG leise. Ich bedaure, dieser Frau Unangenehmes sagen und sie Lügen strafen zu müssen.

TSCHU. Welches ist die erste der fünf Haupttugenden?

HAITANG. Liebe.

TSCHU. Haben Sie Ihren Gatten geliebt, wie es das Gesetz fordert?

HAITANG. Ich bin ihm stets mit Achtung begegnet und habe ihn lieben gelernt am letzten Tage seines Lebens. Da hat er mir die Kammer seines Herzens geöffnet und ein Licht darein gestellt, und ich konnte sehen, in diesem Herzen war ein Sessel für mich errichtet; der Sessel aber, auf dem einst jene Frau gesessen, war leer. Ein welker Pfirsichblütenzweig lag auf dem Polster.

FAWU MA. Sie rezitiert Gedichte, wie sie es in ihrem schimpflichen Beruf gelernt. Denn Liebe machen und Verse machen gilt gleich viel.

TSCHU. Welches ist die zweite der fünf Haupttugenden?

HAITANG. Gerechtigkeit.

TSCHU. Nach Recht und Gerechtigkeit wird hier geurteilt. Um nichts anderes geht es.

HAITANG. Gerechtigkeit – ich bitte, daß sie mir zuteil werde, obwohl ich ihrer vielleicht nicht wert bin. Denn habe ich selbst immer recht gehandelt und geurteilt? Habe ich nicht über meinen Gatten ein Jahr lang eine ungerechte Anschauung gehabt in meinem Innern? Ich bitte die Götter, daß sie alle[500] Schleier von meinen Augen nehmen und ich klar sehe und nicht ungerecht urteile über jene Frau, die mir so bitter feind gesinnt ist und der ich als erster Gattin zu dienen stets bestrebt war; der ich nie ein böses Wort gesagt habe, über die ich nie einen bösen Gedanken gehegt, der ich nie eine böse Tat getan habe. Diese Frau, ich habe es bemerkt, wenn ich sie morgens schminkte, hat viel Gesichter, wie ein Schauspieler viele Masken trägt und bald diese, bald jene Rolle spielt. Welches ihrer Gesichter ist echt? Welches wahre Gesicht liegt hinter all den Masken? Kann eine Maus die Rolle einer Libelle spielen? Kann eine Hyäne ein Lamm oder einen Hasen vortäuschen?

FAWU MA. Den Tiernamen der Frau, der ich immer nur Gutes getan und die mich so schamlos verleumdet, ich nenne ihn: sie ist eine zischende Schlange.

TSCHU. Welches ist die dritte der Haupttugenden, Angeklagte?

H AITANG. Schicklichkeit.

TSCHU. Sie ließen sie in Ihren Äußerungen eben vermissen.

HAITANG. So bitte ich um Vergebung. Aber es geht um mein Leben, Herr Richter, es geht um mein Kind. Soll ich aus Gründen der Schicklichkeit und des Wohlanstandes mir mein Kind stehlen lassen? Herr Richter, man hat mir im Gefängnis mein Kind verweigert! Man hat mich ohne Nachricht von ihm gelassen! War das wohl anständig, war das schicklich gehandelt, einer Mutter dieses Folterspiel zu bereiten? Li, mein Knabe, erkennst du mich?

FAWU MA. Sie heuchelt. Nie sah man das Laster sich so frech mit Tugenden wie falschen Papierblumen schmücken. Wie kann sie Muttergefühle vortäuschen, da ihr Schoß verdorrt ist wie ein Baum in der Wüste Gobi ohne Wasser?

HAITANG. Mein Schoß verdorrt? Ich unbegnadet? Das heiligste Recht des Weibes mir nicht verliehen? Trug ich doch in diesem meinem Leibe unter diesem meinem Herzen neun Monate lang meinen Knaben Li, die Erfüllung meiner Sehnsucht, die Hoffnung meines Alters. Ich blühte nur, damit ich eine Frucht trüge. Die Blüte fiel ab, die Frucht reifte, reifte in Sonne und Sturmgewitter, in Wollust und Schmerzen. Ich, die ich keine Wollust empfunden, da ich ihn empfing, ich verging vor Wolllust,[501] da ich ihn gebar. Fo hat mich begnadet, gesegnet. Ich habe ihm Weihrauch entzündet jeden Tag meines Lebens.

FAWU MA. Seht doch die ausgezeichnete Schauspielerin, wie sie fremde Charaktere spielt, sich gebärdet wie auf dem Holzgerüst einer Schmiere, wie auf dem Jahrmarkt! Warum ist sie nicht Naive geworden bei einer Wandertruppe? Den dummen Bauern auf den Dörfern hätte sie diese Mätzchen vormachen können, aber nicht einem hohen Gerichtshof von Tscheu-kong.

TSCHU. Welches ist die vierte der fünf Haupttugenden, Angeklagte?

HAITANG. Wahrheit.

TSCHU. Halten Sie sich streng an diese Tugend?

HAITANG. Meine Augen sollen erblinden, mein Mund verstummen, mein Ohr taub werden, wenn ich nicht die lautere Wahrheit sagte. Dies Kind ist mein. Mein Schoß hat es geboren.

TSCHU. Wir wollen zu diesem Punkt die Hebamme vernehmen, die der Mutter bei der Geburt des Knaben Li in ihren Wehen behilflich war. Treten Sie vor, Frau Lien!

HEBAMME. O je, o je, womit habe ich das verdient, vor dem hohen Gerichtshof erscheinen zu müssen.

TSCHAO. Fürchten Sie sich nicht, gute Frau! Sie haben nur der bereits soeben erwähnten vierten Kardinaltugend, der Wahrheit, die Ehre zu geben.

HEBAMME. Ich werde mir die Ehre geben, der Ehre die Ehre zu geben.

TSCHU. Also wie war der Hergang?

HEBAMME. Der Hergang war damals ein großer Hin- und Hergang, als der Knabe Li geboren wurde.

TSCHAO zu Tschu. Die gute Frau steht dem gebildeten Idiom, das Eure Exzellenz zu sprechen belieben, unverständlich gegenüber.

HEBAMME. Alles, was recht ist, oder alles, was un recht ist: beleidigen lassen brauch ich mich auch von dem hohen Gerichtshof nicht. Wenn ich auch eine einfache Frau aus dem Hefeteig des Volkes bin, ein Idiom bin ich darum noch längst nicht.

HAITANG. Frau Lien, Sie waren es doch, die mir bei der Geburt des Knaben die Schnur gelöst hat! Frau Lien, erkennen Sie mich denn nicht wieder?[502]

HEBAMME dicht herantretend. Ich bin ein wenig kurzsichtig und muß Sie mir deshalb aus der Nähe betrachten.

TSCHU. Frau Lien, erkennen Sie die Angeklagte?

HEBAMME. Ich kenne die Angeklagte schon. Es ist die Haitang, die Nebenfrau des verstorbenen hochgeborenen Herrn Ma, Fo hab ihn selig!

TSCHU. Und ist sie die Mutter des Knaben Li?

HEBAMME. Sie hat den Knaben wohl oft auf den Armen getragen, gewartet und in den Schlafgewiegt, wie es die Pflicht der Nebenfrauen ist; aber die Mutter des Knaben ist jene! Zeigt auf Frau Ma. Obwohl das Zimmer der Wöchnerin wie üblich verhängt war und man in der Dunkelheit kaum die Mutter vom Kinde unterscheiden konnte, so ist doch kein Zweifel, daß Frau Ma den Knaben geboren hat.

HAITANG.

Frau Lien, als ich in Wehen lag,

Da waren Sie um mich Nacht und Tag.

Wie waren Sie zärtlich, waren gut,

Stillten mein fast verrinnendes Blut.

Haben meinem Kind und dem Leben

Mich, die dahin schon, zurückgegeben.

Betteten mich mit freundlichem Sinn

Auf das Lager von Matten hin.

Sie lösten die Nabelschnur, riefen meinen Mann,

Zündeten vor dem Hausaltar die Kerzen an.

Sie weinten mit mir um mein Mutterglück.

O rufen Sie die Tränen zurück!

Die Wahrheit, die Wahrheit: dies Kind ist mein

Und darf mir nicht genommen sein.

FAWU MA. Das listige Weib macht sich der Beeinflussung der Zeugin schuldig.

TSCHU. Man schlage die Angeklagte wegen ungebührlichen Benehmens vor Gericht. Im Wiederholungsfalle werden ihr Heißwasserschlangen angedroht. Sie wird auf Glassplittern knien, und man wird ihr die Knöchel zerquetschen.


Zwei Soldaten springen vor und schlagen sie zwei-, dreimal mit eckigen Bewegungen.[503]


HAITANG.

Wie Feuer brennt mein Rücken,

Wie Sturm weht mein Atem.

Verflöge doch meines Lebens Hauch

Der Nachtschmetterling.


Das Kind beginnt zu weinen.


TSCHU. Still! Ich rufe das Kind zur Ordnung!

TSCHAO zu Frau Lien. Können Sie Ihre Aussagen beschwören?

HEBAMME. Das will ich meinen!

TSCHU. Die Zeugin wird vereidigt. Sprechen Sie die Worte nach: Ich schwöre bei den Gebeinen meiner Ahnen –

HEBAMME. Beinen meiner Ahnen –

TSCHU. Daß ich die reine Wahrheit gesagt –

HEBAMME. Keine Wahrheit gesagt –

TSCHU. Nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt habe – So wahr mir Fo helfe!

HEBAMME. So wahr mir Fo helfe!

TSCHU. Die Zeugin ist abzuführen.

TSCHAO. Die Zeugen Gebrüder Sang!

ZWEI KULIS die immer gleichzeitig sprechen, treten vor und leiern sofort herunter. Hoher Gerichtshof, Herr Ma war ein sehr Vermöglicher, womöglicher und viel vermögender Mann. Wir konnten uns natürlich nicht schmeicheln, zu seinem näheren Umgang zu gehören. Aber als seine erste hochgeborene Gattin einen Knaben gebar, gab er seinem Stadtviertel, in dem auch wir die Ehre haben zu wohnen, ein Fest, eine Festivität, wo es so lustig herging, daß wir beide noch heute betrunken sind, wenn wir daran denken. Jeder von uns erhielt auch eine Unze Silber als Festgeschenk. Später haben wir noch oft Gelegenheit gehabt, Herrn und Frau Ma, letztere den Knaben auf dem Arm, zum Tempel des Fo, des Beschützers des Kleinen, wandeln zu sehen.

HAITANG. Ihr lügt, bestochen von Frau Ma. Saht Ihr nicht täglich mich, mein Kind auf Händen, zum Tempel Fos, des Gottes, eilen, es seiner Obhut zu vertraun?

ZWEI KULIS. Die Wahrheit, die wir bekunden, wird wahrscheinlich so ziemlich beinahe fast immer wahr sein. Daran ist[504] nicht zu tüfteln. Sollte eine Lüge über unsere wahrheitllebenden Lippen gekommen sein, so möge uns daran ein Geschwür wachsen, so groß wie eine Teetasse.

TSCHU. Können die Zeugen die Wahrheit ihrer Aussagen beschwören?

ZWEI KULIS. Und ob!

TSCHU. So sprechen Sie den Schwur nach.


Zeremonie wie oben.


Die Zeugenvernehmung über den geplanten Kindesraub wird geschlossen. Es bleibt die Frage des Giftmordes. Wer hat gesehen, daß die Angeklagte ihrem verewigten Gatten statt Zucker Gift in den Tee schüttete, um sich unrechtmäßig Knabe und Erbteil anzueignen?

FAWU MA. Ich!

HAITANG.

Himmlisches Licht, du hast dich ganz vermummt.

Wo leuchtest du?

Himmlische Glocke, du bist verstummt.

Wann läutest du?

Kommt es nie an den Tag, bleibt es in Nacht,

Wer Herrn Ma zu Tod gebracht?

Ich bin wehrlos, ehrlos ganz,

Trag auf meinem armen Kopf einen Brennesselkranz.

TSCHAO. Frau Haitang hatte wohl noch ein anderes Motiv, sich Herrn Mas zu entledigen.

TSCHU. Das wäre?

TSCHAO. Darf ich an die Angeklagte eine Frage stellen?

TSCHU. Ich bitte darum.

TSCHAO. Angeklagte, wer war die Ursache des selbstgewählten Todes Ihres Herrn Vaters?


Haitang schweigt.


So will ich selbst die Antwort übernehmen. Herr Ma war die Ursache seines Todes. Man schuldete ihm Abgaben, die man nicht aufbringen konnte. Seit jenen Tagen trug die Angeklagte ein Gefühl der Rache im Busen gegen ihren Gatten, der ihren Vater in den Tod getrieben. Zu dem Motiv der Erbschleicherei gesellt sich das Motiv der Rache.

TSCHU. Ihre Beweisführung leuchtet mir vollkommen ein,[505] Herr Kollega. Die Angeklagte erscheint auf das schwerste belastet.

HAITANG. Das Schicksal lastet auf mir wie ein Grabstein.

TSCHU. Können Sie Ihre Wahrnehmung beschwören?

FAWU MA. Ich beschwöre bei den Gebeinen meiner Ahnen, daß die, die nicht die Mutter des Kindes ist, ihren Gatten mit Gift aus dem Wege geräumt hat, um sich unrechtmäßig Knabe und Erbteil anzueignen.

HAITANG entsetzt. Sie schwört die Wahrheit.

TSCHU. Die Inkulpatin hat gestanden! Die Zeugenaussagen werden geschlossen. Das Gericht zieht sich zum Urteilsspruch zurück.


Tschu, Tschao usw. ab.


FAWU MA. Ihr habt das Spiel verloren.

HAITANG. Ich spielte nicht.

FAWU MA. Ihr werdet bald um ein Viertel kleiner sein als jetzt.

HAITANG. Man kann mir den Kopf abschlagen, man kann mir das Herz aus dem Leibe reißen, aus meinem zerrissenen, aufs Rad geflochtenen Leib wird noch die Flamme der Wahrheit emporspringen.

FAWU MA. Ich sprach die Wahrheit.

HAITANG. Ihr sagtet sie. Seht mich vor Euch knien. Nehmt das Vermögen des Herrn Ma, nehmt alles, was Ihr wollt. Seht, diese kleine Kette gefällt Euch vielleicht, es sind indische Perlen; diese Schuhe sind bestickt, nehmt alles, alles, nur laßt mir mein Kind.

FAWU MA. Das Kind bleibt mein.


Gericht zurück.


TSCHU. Im Namen Seiner Himmlischen Majestät Brabbelt. erkennt der hohe Gerichtshof als zu Recht folgendes Urteil: Die Angeklagte Tschang Haitang wird wegen versuchten Kindesraubes und vollzogenen Giftmordes an ihrem Gatten Ma zum Tod durch des Henkers Schwert verurteilt. Gerichtsdiener, legt ihr den neunpfündigen Block um den Hals.

DIENER. Zu Befehl, Exzellenz, Er legt Haitang den Block um. Hinein mit dem Hals in den Block, du Weibsstück.[506]

HAITANG. Mein Recht! Mein Kind!

TSCHU. Unverschämtes Geschöpf! Ich sollte dich mit dem Pantoffel ins Gesicht schlagen. Merke dir eines: wenn ich ein Urteil spreche, so ist es gerecht, die Verhandlung führe ich streng unparteiisch und alles geht objektiv und absolut gesetzmäßig her.


Ein Kurier tritt auf, Haitang wird abgeführt.


KURIER. Stafette aus Peking.

TSCHU erbricht sie. Ich bin erschüttert. Ich ersuche alle Anwesenden, mit der Stirn die Erde zu berühren. Seine Himmlische Majestät ist im hohen Alter von fünfundsiebzig Jahren an Altersschwäche verschieden. Zum Nachfolger wurde durch das Los Prinz Pao erkürt, der den kaiserlichen Thron bestiegen hat. Er entbietet seinen Untertanen seinen kaiserlichen Gruß. Alle Todesurteile werden suspendiert und kraft seiner Machtvollkommenheit Richter und Gerichtete nach Peking berufen. Denn seine erste Amtshandlung soll im Zeichen der Gerechtigkeit stehen. Großer Fo, im Zeichen der Gerechtigkeit! Wischt sich den Angstschweiß von der Stirne.

TSCHANG-LING im Zuschauerraum des Gerichtes. Was fürchtest du alter Mann, alter Narr? Kaiser und Richter, Ihr steckt ja doch unter einer Decke. Der neue Kaiser wird nicht besser sein als der alte. Wir Armen werden auch unter seinem Drachenbanner rechtlos am Straßenrand verrecken. Haitang ist unschuldig wie eine Sonnenblume oder der Abendstern. Sie soll nicht sterben. Die Unschuld ist unsterblich. Mit meinen Fäusten will ich dem Henker das Beil aus der Hand reißen und der Ungerechtigkeit in den erhobenen Arm fallen.

TSCHU. Wer ist der Kerl, der die Majestät lästert? Gerichtsdiener, auch mit ihm in den Block. Er hat des Kaisers Majestät gelästert. Seine Majestät wird sich mir erkenntlich zeigen, wenn ich ihr einen solchen Übeltäter bringe, der das Fundament des Staates unterwühlt wie ein Maulwurf. Es soll nicht heißen, daß ich es an Strenge revolutionären Elementen gegenüber fehlen lasse. Auf nach Peking!


Vorhang.[507]


Quelle:
Klabund: Der himmlische Vagant. Köln 1968, S. 495-508.
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