Der goldne Tod

[21] Spitze Gipfel traten wie beschneite Tannen aus den Wolken, als der Zweispänner in Chur, wie ferner Donner dunkel von den Bergen niederrollend, einfuhr. Ein frischer Luftstoß fuhr durch die Tür, die sich im Nebel aufgetan hatte, und der blaue Himmel wehte uns wie die Tapete in gewissen Berliner Salons an: ein wenig eisig, ein wenig zimperlich. Ein wenig unmodern.

»Es zieht«, sagte Annette.

Der Kutscher knallte. Ein paar Kinder spielten Kreisel. Ein Dienstmädchen ging einholen: ein gelber Korb von kühn geschweiften Formen umrankte ihren rechten, nackten Arm, eine saubere Schürze war vor das blaukarrierte Kleid gebunden.

»Sie dient gewiß bei einem Architekten. Er hat ihr den Korb entworfen.«

»Architekten entwerfen keine Körbe. Sie bauen Häuser,« sagte Annette.

Ein Hund, scheinbar zu dem Mädchen gehörig, schnob bellend wie ein kleiner Wind um unsere Pferde.[21]

Annette fröstelte.

»Wir sind erst sechs Stunden von Arosa fort. Glaubst Du das?«

Nein, ich glaubte es ganz gewiß nicht.

»Wie die Anemonen aus dem Schnee emporblühten? Erinnerst Du Dich? Direkt aus dem Schnee!«

Ich erinnerte mich.

»Die Frühlingssonne brachte sie auf der schneegedüngten Erde so schnell zum Blühen, daß man sie förmlich mit den Augen emporschießen sah. Als griffe eine heiße Hand vom Himmel und zerre sie aus der Erde. Glaubst Du nicht, daß die Blumen für die Sonne da sind?«

Nein, das glaubte ich nicht. Ich hatte mich über das Bild von der schneegedüngten Erde beunruhigt, fand es nicht sehr poetisch, aber bei Annette, der Tochter eines Rittergutsbesitzers, begreiflich und entschuldbar.

Ich saß, blaß und zurückhaltend, in den Polstern.

Plötzlich mußte ich lachen.

Ein Radfahrer in zigeunerhafter Bluse kreuzte unsern Weg. Sein Rad schwankte und es sah aus, als führe er nicht auf der Straße, sondern auf einem Seile zur Belustigung eines festlich erregten Publikums Korso.

Annette rückte sich im Sitz zurecht.

Sie hört es nicht gern, wenn ich laut lache. Sie denkt immer, ich mache mich über sie lustig.[22]

»Was hast Du?«

Ich zeigte ihr den Radfahrer.

»Ist ein Radfahrer etwas Besonderes? Oder etwas besonders Lustiges?«

»Aber wir haben seit neun Monaten keinen gesehen!«

»Ein Radfahrer ist nie lächerlich. Auch wenn man ihn neun Monate nicht gesehen hat. Du bist ein Kind.«

Sie tastete unter der Pelzdecke nach meinen Händen. Meine Hände staken, mit Glyzerin eingerieben, in großen wollenen Fausthandschuhen.

»Übrigens: was rede ich: neun Monate ... und: Du bist ein Kind! Neun Monate waren wir in Arosa. Wenn Du doch ein Kind wärst! In neun Monaten kann man doch ein Kind bekommen? Warum habe ich keins bekommen?«


*


Als wir im Zuge Chur-Zürich im Kupee saßen, sagte Annette:

»Warum bist Du krank?«

Sie sagte es sehr ruhig und unbekümmert. Man kann ihr nicht böse sein. Obgleich sie in neun Monaten immerhin Zeit genug gehabt hätte, mich zu fragen, warum ich krank sei.[23]


*


Wir machten in Weesen am Wallensee Station, nach Anordnung des Sanitätsrats Dr. Römisch, eines kleinen rötlichen Herrn aus Sachsen, der eine lesenswerte Broschüre »Der Einfluß des Hochgebirges auf den Intellekt« geschrieben hat.

Das Schloßhotel Mariahalden in Weesen ist ein erstklassiges Hotel und liegt auf einer steinernen Terrasse etwa 30 Meter über dem See. Es wird sehr viel von Engländern frequentiert und macht einen langweiligen Eindruck. Einige hölzerne Gestalten, bei deren bloßem Anblick einem schon das Gähnen kam, lagen bei unserer Ankunft wie Kroquethämmer im Garten zerstreut; bei näherem Zusehen sah man sie in Hängematten liegen.

Das Abendessen war das übliche Abendessen der erstklassigen Hotels: Suppe, Scholle mit Remouladensauce, Rostbeef mit verschiedenem Gemüse und eine formlose Nachspeise. Ich trank eine halbe Flasche roten Waadter dazu, Annette nahm einen Gießhübler.

Wir gingen herunter an den See.

Ich habe die Berge nachts sehr gern, wenn man sie nicht sieht und hinter den Lichtern einer fernen Ortschaft nur ahnt.

Ein weicher Wind strich zwischen den Kastanien. Vor einem Café saß jemand mit dem Rücken gegen die Straße und bestellte schnarrend ein Vanilleeis.[24]

»Es ist doch ziemlich warm,« sagte Annette.

Ich hing an ihrem Arm. Sie stützte mich.

Die Wellen plätscherten leise, wie wenn jemand aus Versehen die Wasserleitung nachts laufen läßt.

Von einem Kahn draußen auf dem See schaukelte Musik zu uns. Ein Walzer.

»Die Wellen tanzen Walzer«, sagte Annette.

Und wirklich: ich hörte das auch.

»Wenn man Musik hört, bekommt man Sehnsucht nach dem Tode«, sagte Annette.

Sie sagte es leichthin. Aber wie Altweibersommer, wie Herbstschleier, auf denen unsichtbare Spinnen sitzen, fingen sich die Worte in meinem Gesicht.

Sie weiß nicht, wie gern ich sterben würde, wenn ich nicht sie verlassen müßte und wenn ich einen anständigen Tod für mich wüßte. Soll ich als alter Kavallerieoffizier (»alter« Kavallerieoffizier! ich bin 31 Jahre alt) im Bett sterben. Nicht getötet werden – sondern den Tod erdulden? Wenn doch Krieg würde!

Ich darf es Annette nicht erzählen, daß ich immer denselben Traum träume: ich sehe den Tod vor mir als goldenes Skelett, leuchtend auf schwarzem Grunde.[25]

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 21-26.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Marketenderwagen
Der Marketenderwagen, Ein Kriegsbuch Von Klabund
Der Marketenderwagen, ein Kriegsbuch von Klabund (German Edition)

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon