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[75] Ich bin mit der Witwe Pulko gut bekannt, um nicht zu sagen befreundet. Sie wohnt in Wismar, am Hafen, nicht weit von jener kleinen, verräucherten Kneipe, die »König Christian« oder so ähnlich heißt und in der es für 30 Pfennig einen Grog und einen Glühwein gibt, wie auf der ganzen Welt sonst nicht: ein Wein, der wirklich glüht und glühen macht – ein Glühwein also, der (wenn diese Redensart nicht ein wenig deplaziert wäre) sich gewaschen hat.
Es ist einige Wochen her, daß ich wieder einmal in Wismar war. Wismar ist das Sinnbild einer blonden und blauäugigen nordischen Stadt. Die Backsteingotik der Kirchen und alten Häuser macht sie schwer, trotzig und massiv. Eine Stadt, die weiß, was sie will, und nur will, was sie kann. Eine alte Stadt, voll geschweifter Straßen, in denen braune Gebäude, wie die gotische alte Schule, der erratische Block der Georgenkirche oder der von der Renaissance stilisierte Fürstenhof einen wie steinerne Hunde anfallen. Eine »beschränkte« Stadt,[75] deren steife und kalte Strenge durch vorzügliche warme Grogs angenehm gemildert wird, die einem wie Kinderballons leicht und lustig ins Hirn steigen. Die Menschen und die Kirchen stoßen nicht in den Himmel: die Türme sind abgestumpft. Die stumpfen Türme und die stumpfen Menschen geben der Stadt eine gemessene Haltung und gedrungene Geschlossenheit.
Ich saß mit meinem Freunde Hanns Schmidt, der gerade vom Osten, von Iwangorod, zurückgekommen war, im »Alten Schweden« beim Bier. Wir sahen durch die Scheiben hinaus auf den Marktplatz. Vor der Wache standen breitbeinig ein paar Soldaten. Am Schöpfungsbrunnen wandelte ernsthaft ein Liebespaar. Ältere Herren betrachteten aus vorsichtig geöffneten Fenstern prüfend das Wetter am Himmel. Kinder verschwanden mit eiligen Beinen spielend um eine Ecke. Frauen, grau gekleidet, durchschritten mit großen Körben diagonal den Platz.
Ein dumpfes Geräusch wie sehr ferner Donner ließ die Luft leise klirren.
»In Swinemünde oder Kiel oder auf der See draußen haben sie wieder Übungsschießen«, sagte Hanns. Dann lachte er. Er lachte wie eine Lachtaube. Gurrend. Auf der Schule habe ich ihn schon immer wegen seines Lachens gern gemocht. »Die Wismarer alten Tanten glauben[76] immer, es seien Russen, die mit ihrer sogenannten Ostseeflotte da draußen herumschießen. Und sie hätten es auf den Wismarer Wasserturm abgesehen ...«
Wir tranken, allen alten Tanten zur Beruhigung, auf ihr Wohlergehen.
Die Dämmerung hängte sich wie eine Spinne zwischen die vielen zierlich aufgetakelten Briggs und Schoner, die zum Schmuck der Kneipe oben an der Decke angebracht waren.
»Du,« sagte ich, »Hanns: es wäre Zeit, die Witwe Pulko über die allgemeine Weltlage zu befragen. Was meinst Du?«
Und wir schlichen durch die dämmernden Gassen zur Witwe Pulko, die unten, am Hafen wohnt, in einem kleinen einstöckigen Haus, in einer feuchten kalten Stube, nach hinten heraus – die Witwe Pulko, mit der ich gut befreundet bin, die mir, ganz Wohlwollen und Biederkeit, unermüdlich ein langes Leben, Ruhm, Ehre, eine unverhoffte Erbschaft, eine erfolgreiche Reise über das große Wasser, eine millionenschwere Heirat mit der Tochter eines ungarischen Magnaten (amerikanische Millionärinnen sind seit dem Krieg bei den Wahrsagerinnen offenkundig nicht mehr beliebt ...) und was dergleichen erfreuliche Dinge mehr sind, zu prophezeien pflegt.
Ihre Prophezeiungen haben, im Gegensatz zu denen[77] großstädtischer Vertreterinnen der geheimen Kunst, den großen Vorzug der Billigkeit. Sie kosten durchschnittlich nur 50 Pfennig, und sind darum doch nicht weniger wahr als die Wahrsagungen zu 5, 10 und 20 Mark – Preise, wie man sie wahrsagenden »Damen der Gesellschaft« in Berlin zu zahlen pflegt.
Die Witwe Pulko hat verschiedene Methoden. Man kann ihr eine gewisse Reichhaltigkeit ihrer geistigen und manuellen Gaben nicht absprechen. Sie liest aus dem Kaffeegrunde die Zukunft. Aus behutsam aufgeschichteten Sand- oder Salzhäufchen liest sie die Vergangenheit. Sie kennt das Zigeuneralphabet. Sie beherrscht die deutsche, spanische und französische Kartenkunst. Sie ist im Besitze eines polnischen Traumbuches. Sie hat die Geheimnisse des 13. Buches Moses' erschlossen.
Als wir bei der Witwe Pulko eintraten, saß sie unter der Petroleumlampe und studierte den »Ostseeboten«.
»Ja, Witwe Pulko, da bin ich mal wieder,« ich verneigte mich höflich, »und möchte mir wieder mal erlauben, Sie zu konsultieren.«
Damit legte ich ein Markstück auf den Tisch.
»Herrgott, Herrgott, junger Herr, was is es denn? Haben Sie Liebeskummer? Soll ich die Karten befragen?«
»Nein, Witwe Pulko, diesmal ist es kein Liebeskummer.[78] Diesmal brauchen Sie auch Ihre Karten nicht zu befragen. Es handelt sich um den Krieg ...«
»Und was wollen Sie über den Krieg wissen?«
»Wann ist der Krieg aus, Witwe Pulko? Wissen Sie das?«
Witwe Pulko wiegte ihren Pelikankopf.
»Ich weiß es, junger Herr, ich weiß es. Aber Sie dürfen mich nicht verraten ...«
Sie holte eine Schiefertafel vom Schrank, legte sie vor sich auf den Tisch und begann Zahlen zu schreiben. Dann zeigte sie mir die Zahlen. Und die Zahlen sahen so aus:
»Eine einfache Addition. Die heilige arabische Addition,« sagte Witwe Pulko. »Am zehnten im fünften, das heißt am zehnten Mai 1871, wurde der Friede zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossen.«[79]
Hanns und ich haben keine Kenntnis in Geschichtszahlen und so glaubten wir der Witwe Pulko aufs Wort.
»Für 1915,« fuhr Witwe Pulko belehrend fort, »ergibt sich durch die heilige arabische Addition der elfte November als Friedenstermin ...«
*
Ich ließ der Witwe Pulko noch ein blankes Zweimarkstück zurück. (Papiergeld gilt bei den Wahrsagerinnen noch immer nicht als voll ...)
Auf dem Nachhauseweg meinte Hanns und sah auf seine Stiefelspitzen:
»Es ist ja zweifelhaft, daß sich der Geist des historischen Geschickes ausgerechnet in der Witwe Pulko offenbart und manifestiert – aber schön wär es schon ...«[80]
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