Die schwarze Fahne

[60] Ein Zurückgebliebener saß im Café, bestellte einen Eierpunsch und erzählte:

Ich habe eine unmenschliche Sehnsucht zu sterben. Jeder Feldpostbrief, den ich von draußen bekomme, erweckt in mir das Gewissen einer schmerzlichen Scham, weil ich noch lebe. Was rede ich noch? Was schreibe ich noch? Der Streusand der Schrapnells trocknet jede Tinte. Und jede Träne. Manchmal, in dem kleinen stillen Zimmer der Vorstadt, drei Treppen hoch, abends, wenn das Hupen eines fröhlichen Automobils, das Kreischen einer deflorierten Katze oder der klappernde Huf eines betrübten Pferdes gedämpft durch die geschlossenen Fensterläden lärmen, schreie ich nach einer Erlösung vom Leben, das mir nur noch wert ist, weil man es wegwerfen kann. Wie eine angerauchte Zigarette. (Zu einer Zigarre langts bei mir nicht.) Was sind alle Leiden unseliger Liebe gegen die qualvolle Begierde nach dem Tod. Ich könnte mich hier zu Hause hinter den Kulissen erschießen – aber ich ränge nicht mit dem Tod, ich verblutete nicht,[60] ich würde nicht um seine Liebe. Und ich könnte mich mit meiner schönen Geliebten auch nicht sehen lassen. (Was hat es für einen Sinn zu lieben, wenn andere Leute nicht sehen, daß man geliebt wird?) Ich hätte mir hier zu Hause den Tod wie ein schmutziges Straßenmädchen erkauft. Um den Preis meines Revolvers. (Ein guter Browning kostet 80 Mark. Ich würde also auf den Wert des Mädchens beträchtlich draufzahlen.) Ich will werben um den Tod. Um das Fräulein Tod. Sie soll mich lieben lernen. Ich werde ihr schmeicheln müssen. Geschenke machen. Kostbare Geschenke. Beispielsweise ein hübsches Gedicht, das ich noch schreiben würde. Oder einen treuen Freund, den ich ehre wie keinen anderen Menschen. (Aber ich habe die Pferde ja viel lieber als die Menschen. Auch die Schildkröten.) Oder ich muß ihr meine Mutter opfern. Eine Frau hat immer am liebsten, daß man ihr eine Frau opfert. Und welche Frau haßt sie inniger als die Mutter des Geliebten? (Weil sie ihn nicht selbst auch noch gebären durfte.)

Ich werde in einem Bauernhaus sitzen, an der Marne, heiter mit einigen Kameraden. Plötzlich fällt eine Granate durchs Dach. Alle meine Kameraden sind auf der Stelle tot. Richard hat keinen Kopf mehr, und von Hagen sieht man nur noch eine beschmutzte Litewka. Ich selber aber blieb am Leben. Ich allein: heil an allen[61] Gliedern. Meine Angehörigen, denen ich den Vorfall geruhsam auf einer Feldpostkarte berichte, jubeln und geben die Anekdote in die Zeitung. Ich bin unglücklich. Ich fühle, daß man mich noch verschmäht. Daß ich mein Herz noch nicht völlig entschleiert habe. Man glaubt mir noch nicht. Man mißtraut meiner Liebe.

Nun versuche ich es mit dem Hohn. Ich höhne die Geliebte: frech, bitter, schamlos. Ich gehe auf die gefährlichsten Posten. Vermeide beim Patrouillenreiten jede Deckung. Ich sitze ab. Die Kugeln scharen sich pfeifend um mich. Ich stehe wie ein Indianer am Marterpfahl und kein Pfeil trifft. Ich stecke meinen Kopf über den Schützengraben. Wie man einen Kürbis an einer Stange als Zielscheibe hinhält, zum Spaß und Zeitvertreib. Der Feind langweilt sich nur. Er schießt gar nicht.

Aber ich werde ein Mittel finden, den Tod zur Gegenliebe zu zwingen. Und wenn ich mutterseelenallein gegen eine ganze Batterie angaloppieren sollte. (Die Franzosen werden glauben, ich sei ein Parlamentär und werden das Feuer einstellen.)

Ich halte es nicht mehr aus daheim. Wenn der Krieg noch lange dauert, werden die Zurückgebliebenen nicht mehr wissen, was sie vor Verlangen nach dem Tod im Feld machen sollen. Sie werden den Größenwahn bekommen und glauben, sie seien unsterblich. Sie kennen den Tod[62] nur aus den Zeitungen. Es wird eine Selbstmordepidemie ausbrechen. Man wird sich gegenseitig zum Dessert totschlagen.


*


Ein kleiner buckliger Herr, mit roten Haaren und einer Hornbrille, der in einer Schale Nuß rührte, schwappte wie ein Frosch von seinem Sitz auf und kreischte:

So wird die schwarze Fahne über uns wallen und der Himmel wird von Nacht dunkel bersten.

Millionen und Abermillionen Freiwilliger, Männer, Frauen, Greise, Kinder werden dem Rauschen des schwarzen Banners folgen. Verliebt wie Tänzer vor dem ersten Walzer und streng und heilig wie Priester der Verklärung.[63]

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 60-64.
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