Hölderlin

[125] Ich wohne bei dem Tischlermeister Zimmer in Tübingen. Meine Stube ist klein gewölbt und empfängt die Sonne durch ein erblindetes Fenster. Wenn man es aufreißt, hat man weite ovale Blicke glänzend über belaubte Hügel und bergige Bäume. Herr Zimmer verfertigt Tische, braune Geräte, darauf der Wein in goldenen Karaffen steht, und Stühle, darauf zu sitzen und ferner Schiffe zu gedenken in Dämmerung und Seeflut. Wo seid ihr, Schwärme der Schwalben? Und kehrt ihr zurück mit klingenden Fittichen bald, da April den Besen ergriff und warme Winde die Straßen fegen? Schon reiten die Herren Studenten die wandernden Alleen entlang, die Hufe klappern, und höflich schwingen Bauern ihre Hüte.

Begegnet mir Professor Conz und sagt: Guten Tag, Herr Magister. Daß sie mich nie bei rechtem Namen nennen! Bin ich Magister? Bin ich nicht, bei allen Engeln, Diotima, Engelschönste, bin ich nicht fürstlicher Bibliothekarius? Nie gibt man doch bedeutenden Naturen, was ihnen ziemt und frommt. Professor Conz trug den Homer[125] in der Tasche. Er ließ den weißen Vogel aus seinem Käfig fliegen und rief: Sehen Sie, unser alter Freund! Ich griff nach den Blättern und fing ihn und schlug jene Stelle auf, wo Nausikaa am Torpfosten des Saales steht und elfenbeinern zu Odysseus niederlächelt. Träne auf Träne tropft in die blaue Grotte ihres Herzens. Wir können nichts besseres machen, als was Homer gemacht. Und sind doch 1300 Jahre älter als er. O, sagte Professor Conz, Sie sind bescheiden, und er zitierte einiges aus meiner Elegie an die Natur. Die Menschheit, sagte ich, hat das Reißen bekommen und die Gicht. Und Gicht und Reißen machen unklare Gedanken. Eine Elegie ist nichts weiter als eine Kette unklarer Gedanken, bunt wie Lampions in die verworrenen Nebel einer Frühlingsnacht gehängt.

Das Wams und die drei paar Strümpfe und die Handschuh, die mir meine Frau Mutter schickte, hab ich erhalten. Oft bringt der Mai noch feuchte Dünste und späten Frost. Ich schriebe gern meiner verehrungswürdigen Frau Mutter, wenn ich wüßte, was ich ihr schreiben sollte. Sie versteht mich leicht nicht mehr. Hat sie mich je verstanden? Sie ist von einer unsicheren und allzuzarten Beweglichkeit, schwankend wie eine silberne Möwe auf stürmischer Rhede. Ich aber wünsche mir eine feste Natur. Ich gehe aus allen Fugen. Musik nur schweißt mich noch zusammen. Dann bin ich ein Akkord und der Herr Kantor spielt mich auf der[126] Orgel, in der Kapelle von Maulbronn. In der Sommerfrühe um sechs schlich er durch Tau und Morgen auf hellen grünen Wegen zu mir und spielte einen Choral, damit er bei Gott in Gnaden stünde.

Ich esse täglich Trauben. Herr Zimmer bringt sie auf einem Teller, darauf Ranken und erdbeerrote Herzen gemalt sind. Ich denke: wenn jemand dein Herz auf einem solchen Teller malte, von einem schwarzen befiederten Pfeil durchbohrt und einem lateinischen Spruch dazu: per aspera ad astra. Dann müßte man Trauben über mich schütten in italischen Weinbergen oder an den Ufern der Dordogne gepflückt von tanzenden Frauen.

Herr Zimmer zeigte mir gestern eine Zeichnung von einem dorischen Tempel. Ich glaube nicht, daß Herr Zimmer sie entworfen hat: aber der Zug der Linien und der gleichsam in Stein gemeißelte Traum der Vollendung entlockten mir Tränen.

Herr Zimmer, sagte ich, möchten Sie statt der Tische, auf denen goldener Wein in Karaffen steht, und statt der Stühle, auf denen man, das Haupt in die Hände gestützt, der gleitenden Schiffe gedenkt, nicht einmal einen Tempel erbauen aus Holz, so klein wie Sie wollen? Damit ich wieder beten darf.

Beten Sie zu Gott, Herr Hölderlin, sagte Zimmer.

Aber Gott wohnt in kleinen dorischen Tempeln aus[127] Holz. Herr Zimmer meint, er habe leider keine Zeit für Spielzeuge, er müsse um Brot arbeiten, und wer bezahle ihm einen solchen dorischen Tempel und die nutzlos vertane Zeit? Ich wußte nicht weiter, denn ich habe kein Geld und habe wohl nie welches gehabt.

Ich suchte nach der Zeichnung mit dem Tempel, betrachtete sie und schrieb mit Blaustift auf ein Brett, das in der Werkstatt herumlag, diese Verse:


Die Linien des Lebens sind verschieden,

Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen,

Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen

Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.


*


Täglich muß ich die verschwundene Gottheit wieder rufen. Wenn ich an große Männer denke in großen Zeiten, wie sie, ein heilig Feuer um sich griffen und alles Tote, Hölzerne, das Stroh der Welt in Flamme verwandelten, die mit ihnen aufflog zum Himmel – ahne ich mich, wie ich oft, ein glimmend Lämpchen, umhergehe und betteln möchte um einen Tropfen Öl, um eine Weile noch die Nacht hindurch zu scheinen ...

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 125-128.
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