[15] Er saß ganz oben an der Tafel, neben dem Sekretär der Kurverwaltung. Sein rundes, rosiges, glattes Gesicht, große blaue Kinderaugen, ein kahl geschorener, blonder Schädel und die kurzen, schwarzweißkarrierten englischen Pumphosen ließen ihn beim ersten Anblick als einen Gymnasiasten von höchstens 18 Jahren erscheinen. Als ich die Unvorsichtigkeit beging, ihn an der Tafel zu fragen, wann er sich dem Abiturium zu unterziehen gedenke, begegneten seine Blicke den meinen mit einem liebenswürdig überlegenen Spott, und er stellte sich als Referendar Dr. jur. S. vor, nicht ohne seine Titel als Lächerlichkeiten mokant zu betonen. Er war sehr schwer krank, obgleich er niemals hustete und ein blühendes Aussehen zur Schau tragen mußte. Er saß an der Tafel zwischen fünf jungen Damen und wurde von ihnen zärtlich verwöhnt und (vielleicht) geliebt. Da er Süßspeise sehr gern aß, stellten ihm die Damen reihum ihren Anteil daran zur Verfügung, und er quittierte über ihre Freundlichkeit mit einem stets neuen und stets anmutigen[15] Scherzwort, nahm sie aber im übrigen als selbstverständlich und berechtigt entgegen.
Er spielte schlecht Klavier (und wußte es). Dennoch mußte er sich jeden Abend nach dem Souper ans Klavier setzen und »In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht« spielen – eine Melodie, die er selbst als niederträchtig blödsinnig empfand, mußte spielen, nur damit die jungen Mädchen seine schlanken, schönen, spielerischen Hände in der Bewegung beobachten und verehren und in Gedanken streicheln durften. Dies aber wurde mir bald klar: wie er Klavier spielte, spielte er sich selbst: als eine Operettenmelodie. Aber er spielte sie schlecht. Man hörte deutlich Schmerz und Seele hinter den Mißtönen klingen, merkte die Absicht und wurde nicht verstimmt. Im Gegenteil: man fühlte sich in Moll berührt, angeklungen, beinahe gemartert von dem Schauspiel des kranken Menschen, der man selbst war. Der Referendar machte schon fünf Jahre hintereinander Kur, in allen berühmten Höhenorten für Lungenkranke. Tag für Tag acht Stunden liegen, bei gutem Wetter auf der Veranda, bei schlechtem im Zimmer. Spazierengehen war ihm täglich eine halbe Stunde erlaubt. Wenn er die halbe Stunde überschritt, bekam er Atemnot, Temperaturen und kroch auf eine Woche ins Bett.
Ich fragte ihn einmal, ob ich ihm Bücher borgen solle?[16] Er schüttelte dankend den Kopf. Sie langweilten ihn. Er lese nicht einmal mehr die Zeitung. Er sehe den Himmel, er sehe die Wolken, die Berge, die Sterne, und zuweilen ins eigene Herz. Mehr brauche, wolle – und könne er nicht mehr »tun«. Wie er das aussprach, setzte er es ironisch in Anführungszeichen.
Drei Damen waren seine besonderen Trabanten: eine junge Schweizer Lehrerin aus Zürich, eine kleine Bajuvarin aus Kempten im Allgäu, und eine Italienerin. Die Italienerin (»Die Königin der Berge« nannte sie einst Herr K., Xylograph aus Braunschweig), galt als seine Geliebte, denn sie benutzte seinen Privatbalkon mit. Die drei spielten abends mit ihm Bridge (wobei er merkwürdigerweise immer gewann, obgleich doch die Parteien wechselten), kochten ihm auf einem Spirituskocher – was doch eigentlich in der Pension verboten war – seine Milch, (er trank Kindermilch), nähten ihm Knöpfe an, wuschen ihm die Kissen vom Liegestuhl mit Salmiak. Als ihn neulich ein kleines Geschwür am Hinterkopf plagte, mußte er sich in die sachverständige Behandlung der kleinen Schweizer Lehrerin begeben, die einen Samariterkursus durchgemacht hatte.
Manchmal saßen sie zu dreien an seinem Bett, und er erzählte ihnen merkwürdige Geschichten, die er selbst erlebt haben wollte, sehr lustige Geschichten in einem traurigen[17] Tonfall, worüber sie sehr lachten. Il Santo Bubi nannten die drei ihn unter sich. Bubi hatte ihn das bayerische Mädel getauft. Il Santo, der Heilige, setzte die Italienerin dazu, denn, sagte sie: er ist gewiß ein Heiliger. Er tut, denkt, spricht nie etwas Schlechtes. Und hat es nie getan. Nur ist er krank. Aber alle Heiligen sind krank.
Kürzlich, bei der Untersuchung, verkündete ihm der Arzt, er könne vorläufig nicht mehr hier oben bleiben. Er müsse ins Tiefland hinab. Möglichst bald. Nach Heidelberg in die Klinik. Zu einer kleinen, ganz unbedeutenden, ganz ungefährlichen Operation. – Wir wissen alle hier, was es heißt, wenn einer der Unsern (wir sind ein Volk, wir Kranken) mit dieser Beschwichtigung in die Ebene zurückgesandt wird. Die Operation ist das letzte Mittel. Und hilft in einem von hundert Fällen. Manchmal schickt man die Leute auch nur hinunter, damit sie hier oben nicht sterben. Wegen der Statistik ...
Der Referendar weiß das alles. Während seine drei Trabanten weinen, lächelt er. Er hat eine Extrapost bestellt, die drei werden ihn begleiten.
Ich sprach mit ihm über sein Schicksal, ruhig, sachlich, wie man über Geschäfte spricht. Die Krankheit ist schließlich ein Geschäft.[18]
»Ich werde nicht sterben,« seufzte er, und sein junges Gesicht verwandelte sich in das eines Greises, »ich kann nicht sterben, glauben Sie mir ...«
*
Am nächsten Tage fand ich zwei Gedichte von seiner Hand auf meinem Platz am Frühstückstisch liegen. Mit einem kurzen Abschiedsgruß. Er war früh um sechs mit der Italienerin davongefahren.
Das erste Gedicht, bissig, von verzweifelter, verzweifelnder Komik, lautet:
Sie müssen ruhn und ruhn und wieder ruhn.
Teils auf den patentierten Liegestühlen
Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,
Teils haben sie im Bette Kur zu tun.
Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch
Und schlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.
Auf einmal klingt ein Frauenlachen, qualreich,
Wie eine Aeolsharfe zauberlich.
Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet
– Er ist am nächsten Tage nicht mehr da–
Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet.
Ein andrer macht sich dick und rund und rot.
Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!
Er ward gesund! ( ...und ward ein Halbidiot.)[19]
Über dem zweiten Gedicht steht die Überschrift:
Ewig bist du Meer und rinnst ins Meer,
Quelle, Wolke, Regen – Ahasver.
Tor, wer um enteilte Stunden träumt,
Weise, wer die Jahre weit versäumt.
Trage so die ewige Last der Erde
Und den Dornenkranz mit Frohgebärde.
Schlägst du deine Welt und dich zusammen,
Aus den Trümmern brechen neue Flammen.
Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt ...
Weh, Sterblicher, daß du unsterblich bist!
*
Il Santo Bubi ist bei der Operation gestorben. Oder ist er nicht gestorben, der kranke Ahasver, der ahasverische Kranke? Lebt er noch? In Heidelberg? Oder sonst wo? Bin ich es vielleicht? Liegt er immer noch acht Stunden am Tag, und geht eine halbe Stunde spazieren, gestützt von seinen Trabanten, daß er beim Glatteis mit seinen schwachen Beinknochen nicht fällt?
Was bedeutet das: tot sein? Il Santo Bubi war gewiß kein richtiger Dichter. Aber wie schön ist jene Zeile »Tod ist nur ein Wort, damit man sich vergißt« ... Damit man sich vergißt ...[20]
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