Mittenwald

[106] Man liegt in Decken gehüllt auf der Veranda. Es ist zehn Uhr abends. Das Karwendel schwimmt wie ein großer Dampfer in Dunkel und Wolken. Am Tage sieht es wie ein Tier aus: wie eine riesige ruhende Kuh. Aus Mittenwald, aus dem Tale herauf, äugen zwischen niedrigen steinbelegten Dächern ein paar verschlafene goldene Lichter. Zuweilen leuchtet ein kleiner Mond wie mit einer elektrischen Taschenlampe über die Felsen am Karwendelabsturz. Als wolle er einen Verstiegenen suchen. Oder ein verscheuchtes Reh.

Von fern klingt eine Glocke: sehr hoch und leise. Wie ein Vogel zwitschert sie aus den Wäldern. Sie läutet schon jenseit der Grenze. Aus Scharnitz vielleicht. Oder ist es die Eisenbahn?

Ein Bach, eine Grille und ein Stern tönen.

Nebenan im Zimmer lacht ein Kind. Scheppernd und fast wie ein alter Herr.

Es wird immer dunkler, und man denkt an seine Mutter. So oft es dunkel wird, denkt man an seine Mutter.[106] Am Morgen, wenn es wieder hell wird, denkt man an seinen Sohn. Daß man einen haben möchte: einen schlanken, blonden. Eine Brille soll er nicht tragen. Und Förster soll er werden. Oder Steward auf einem Ozeandampfer.

Ein Wind weht in den Bäumen auf. Die schmale Fahne am Giebel knattert.

Um vier Uhr kam die Nachricht, daß Brest-Litowsk fiel. Von den Hügeln wurde über das Tal hin Salut geschossen, den die Wände des Karwendel knallend zurückgaben. Dann läuteten alle Glocken im Tal. Das große Geläut! Es vermischte sich mit dem Geläut der vom Lautersee heimkehrenden Herden. So läutete es zugleich Krieg und Frieden.

Es schlägt elf Uhr. Ein paar Wolken fallen von den Bergen und es beginnt zu regnen ...

Neun Monate bist Du schon im Krieg, mein Bruder, neun Monate, und wir wissen so wenig von Dir. Siebzehn Jahre bist Du alt. Bei den ...ern stehst Du. Im Osten. Als Gefreiter. Von der Sekunda in den Krieg.

Deine Karten sind kurz wie Telegramme.

»Heute habe ich in der Bzura gebadet. Gruß, Hans.«

Oder:

»Auf der Verfolgung. Gestern 1600 Russen gefangen. Ganz Polen steht in Rauch und Brand. Hans.«

Lieber Bruder – wen hab ich wohl lieber als Dich![107] Du weißt es nicht, denn Du bist zu jung, es zu wissen. Nun hast Du den Sturm auf Warschau mitgemacht und liegst verwundet in einem Warschauer Lazarett. »Leicht verwundet an Kopf und Auge durch Schrapnellschuß,« schreibst Du.

Aber Du schreibst keine Adresse. Wie soll ich wissen, wo Du liegst, in welchem Lazarett und ob man Dir etwas schicken darf. Zigaretten. Oder Schokolade. (Die hast Du ja doch lieber.)

Wenn Dir diese Zeilen zu Gesicht kommen sollten, so schreib sofort Deine Adresse. Vergeßlicher Junge! Und denk einmal an Deinen Bruder, der immer an Dich denkt. Und dem Krieg und Du dasselbe ist ...[108]

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 106-109.
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