Revolution in Montevideo

Als ich vorhin in einer Redaktion war, fielen mir unverhofft ein paar Mark in die Hand. Ich kaufte mir davon einen Reisekoffer, denn ich will nächsten Mittwoch nach Berlin fahren. Danach ging ich ins Café Fahrig zum Nachmittagskonzert.

Gerade setze ich mich nieder, als eine rauschende, enervierende, tropische Musik über mich hereinbricht. Und Echo klingt von selber in mir auf. Ich balle die Faust und lasse sie wie Paukenschlag auf die Marmorplatte klirren. Was für eine Musik! Bin ich nicht einmal unter ihren Fahnen marschiert? Im Rhythmus einer irren Besessenheit? O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter!

Ich sehe im Programm nach: ... Volkshymnen ... 878 ... Uruguay ...

Libertad! Libertad orientales!


*


Als ich mit 17 Jahren das Abiturium bestanden hatte, lud mich mein Vetter, der Schiffsarzt, ein, ihn auf einem Postdampfer nach Südamerika zu begleiten.[9]

Von Hamburg bis nach Madeira lag ich bespien und verdreckt in der Kajüte und flehte den grinsenden Steward an, mich mit seinem Tranchiermesser zu durchbohren.

Auch Madeira ist mir nur mehr in Erinnerung als ein Berg, der wie eine Zuckertüte aus den Wellen sah.

Dann legte sich der Sturm, meine Übelkeiten schwanden langsam, und ich durfte besonnt und beglückt meine Augen dem Ozean entgegenbreiten.

Ich war drei Tage glücklich.

Am vierten schon begannen mich Himmel, Meer und Sonne (und die überreichliche Schiffskost) zu langweilen. Frauen führten wir nicht an Bord.

Ich war froh, als Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, uns hügelig entgegenschwamm: ein klein wenig der Anblick von Zürich, wenn man von Chur her am Züricher See entlang streicht.


*


Ich ging mit meinem Vetter an Land. Der Zufall wollte, daß wir uns verloren. Ich war darüber nicht betrübt. Im Gegenteil: frei war ich, ganz von mir selbst aus wollte ich Montevideo »entdecken«; den Weg nach dem Schiff würde ich schon zurückfinden.

Ich fühlte nach meinem Geldbeutel, nach meinem Revolver und ließ mich durch die glitzernden Straßen[10] treiben, die, zum Teil nur chaussiert, regenbogenfarbenen Staub aufwirbelten.

In irgendeiner Bank ließ ich wechseln. Daß ich nur ein Dutzend Brocken Spanisch sprach, bekümmerte mich nicht weiter. Bei einem Café im Angesicht der großen Kathedrale hielt ich zuerst an und schlürfte ein sorbetähnliches erfrischendes Eisgetränk.

Verliebt wie ich war, erwachte mir der Abend wie eine junge Frau, die ihre dunklen weichen Arme um mich warf; die mich (das Bild wurde ich nicht los) mit ihren Armen wie mit Schiffstauen an sich kettete.

Nunmehr von der A.E.G., Berlin, finanzierte Straßenbahnen flogen wie Libellen durch das Gestrüpp der Stadt.

Ich bestieg eine und war wie in einem Aeroplan.

Plötzlich fiel ich wieder auf die Erde hinab und klatschte geradeswegs in eine Singspielhalle.

Ein blondes, grünbehängtes, amerikanisches Girl tanzte mit einem wolligen Nigger etwas Ähnliches, wie das, was man heute Tango nennt. Kreolen, dicht geballt, belachten und beschrien die wirksame Rassenmischung. Dann trat eine Art Ureinwohner auf, ein verkommener Winnetou, ein Stück bemalter Kot, mit Schild und vergiftetem Speer bewaffnet, und plärrte Kriegslieder.[11]

Er hatte gerade geendet, als rasendes Geheul und Geräusch wie von fernen Schüssen uns auf die Straße warf.

Alles lief durcheinander, lachend, weinend, brüllend, pfeifend. Niemand schien recht zu wissen wohin und wie und warum.

Ist das ein Volksfest? Oder irgendeine Vorstadthochzeit? Polterabend oder so was? dachte ich.

Vor unserem Tingeltangel standen schon zehn Straßenbahnen, denen der Weg versperrt war, mißmutig wie blau angestrichene Elefanten zu einer Herde getrieben.

Gerade wollte ich einen der sinnlosen Schreier und Läufer nach Ziel und Ursache dieser Volksbewegung fragen, da quoll Musik aus dem Trichter der langen Straße herauf. Wie Ameisen, auf die der Ameisenlöwe lauert, fielen wir alle in diesen Trichter. Musik verschlang uns löwenhaft. Auf einmal marschierte ich in Kolonne, in Schritt und Rhythmus der Musik, den Revolver gezogen. Im Rhythmus einer irren Besessenheit. O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter! Meine Hände zitterten wie die Pranken eines jungen Leoparden, der zum erstenmal auf Raub schleicht. Englischer Gesang umdonnerte mich, und ich sang, entflammt, entkettet, jene Worte, die, trotz mangelhafter spanischer Kenntnisse, auch ich verstand:[12]


Libertad! Libertad orientales!

Freiheit! Freiheit den östlichen Leuten!

Freiheit des Ostens! Freiheit von Osten!


*


Meine Beteiligung an der Revolution in Montevideo ist mir gut bekommen; ich befand mich zufällig bei der Partei, die siegte. Es ging noch glimpflich ab: am anderen Morgen lagen auf dem Platz vor der Kathedrale einige zwanzig Leichen wie Pfeffer und Salz versprenkelt.

Die Kinder gingen zur Schule und stießen mit den Beinen nach den Leichen.

Für heute hatten die Roten (oder die Weißen? – in Uruguay benennen sich die politischen Parteien wie in England nach Farben –) gesiegt.

Fiebernd vor Erregung, Anstrengung und Schlaflosigkeit taumelte ich auf das Schiff zurück.

Mein Vetter fieberte ebenfalls: vor Angst, ich wäre zertreten oder zerschossen worden.

In Wiedersehensfreude schmiß er eine Flasche billigen Bowlensekt. Wir hoben unsere Gläser und stießen klingend an.

»Worauf trinken wir?« sagte mein Vetter, »auf deine Gesundheit! Prost!«

»Waschlappen,« sagte ich und meine Blicke brannten,[13] »Gesundheit! Trinken wir auf die Freiheit! Die Freiheit des Ostens! Libertad! Libertad orientales!«


*


Und wenn wieder einmal Musik ertönt ... Volkshymnen ... 878 ... Libertad! Libertad orientales! Freiheit! Geist des Morgenrotes! ... dann will ich wieder in Reihe und Rhythmus der Kämpfer schreiten, entflammt und entkettet, ein Krieger des Geistes – und gebe Gott, daß ich wiederum bei der Partei fechte, der der Sieg von den Fahnen weht ...

Libertad![14]

Quelle:
Klabund: Der Marketenderwagen. Berlin 1916, S. 9-15.
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