Der Onkel

[79] Lieber Leser, du hast gewiß auch einen Onkel, welcher über deine Taten und noch mehr über deine Träume die Stirn runzelt und immer davon spricht, daß zu seiner Zeit dies und das ganz anders (und natürlich besser) gewesen sei. Mit einem solchen Onkel ging ich am Rheinufer spazieren, und da es ein schöner Tag war – der Kölner Dom schmetterte seine gotische Fanfare am Horizont in den durchsonnten Nebel –, ein schöner Tag, den man unbedingt ausnützen mußte, so warf ich meinen Onkel in den Rhein. »Fahr hin,« so sprach ich, »lieber Onkel, und schwimme zu deiner Zeit. Schwimme stromaufwärts bis nach Konstanz, vielleicht, daß du sie dann noch findest. Aber auch Konstanz ist eine achtbare Stadt, ich vermute, sie wird dich übel aufnehmen. Und selbst der Bodensee ist tiefer als du denkst. Jedenfalls nicht so flach wie du.«[79]

Mein Onkel wehklagte und versuchte, mit dem Fluß zu schwimmen. Ein Strudel packte ihn. Er schrie, bis ihm die dreckigen Wasser das Maul stopften und er versank.[80]

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Klabund: Kunterbuntergang des Abendlandes. München 1922, S. 79-81.
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