Zweiundzwanzigster Auftritt

[101] Die Oberpriesterin, bleich im Gesicht, mehrere andere Priesterinnen und Amazonen.


DIE OBERPRIESTERIN.

Schafft Stricke her, ihr Frauen!

DIE ERSTE PRIESTERIN.

Hochwürdigste!

DIE OBERPRIESTERIN.

Reißt sie zu Boden nieder! Bindet sie!

EINE AMAZONE.

Meinst du die Königin?

DIE OBERPRIESTERIN.

Die Hündin, mein ich!

– Der Menschen Hände bänd'gen sie nicht mehr.

DIE AMAZONEN.

Hochheil'ge Mutter! Du scheinst außer dir.

DIE OBERPRIESTERIN.

Drei Jungfraun trat sie wütend in den Staub,

Die wir geschickt, sie aufzuhalten; Meroe,

Weil sie auf Knien sich in den Weg ihr warf,

Bei jedem süßen Namen sie beschwörend,

Mit Hunden hat sie sie hinweggehetzt.

Als ich von fern der Rasenden nur nahte,

Gleich einen Stein, gebückt, mit beiden Händen,

Den grimmerfüllten Blick auf mich gerichtet,

Riß sie vom Boden auf – verloren war ich,

Wenn ich im Haufen nicht des Volks verschwand.

DIE ERSTE PRIESTERIN.

Es ist entsetzlich!

DIE ZWEITE.

Schrecklich ist's, ihr Fraun.

DIE OBERPRIESTERIN.

Jetzt unter ihren Hunden wütet sie,

Mit schaumbedeckter Lipp, und nennt sie Schwestern,

Die heulenden, und der Mänade gleich,

Mit ihrem Bogen durch die Felder tanzend,

Hetzt sie die Meute, die mordatmende,

Die sie umringt, das schönste Wild zu fangen,

Das je die Erde, wie sie sagt, durchschweift.

DIE AMAZONEN.

Ihr Orkusgötter! Wie bestraft ihr sie![101]

DIE OBERPRIESTERIN.

Drum mit dem Strick, ihr Arestöchter, schleunig

Dort auf den Kreuzweg hin, legt Schlingen ihr,

Bedeckt mit Sträuchern, vor der Füße Tritt.

Und reißt, wenn sich ihr Fuß darin verfängt,

Dem wutgetroffnen Hunde gleich, sie nieder:

Daß wir sie binden, in die Heimat bringen,

Und sehen, ob sie noch zu retten sei.

DAS HEER DER AMAZONEN außerhalb der Szene.

Triumph! Triumph! Triumph! Achilleus stürzt

Gefangen ist der Held! Die Siegerin,

Mit Rosen wird sie seine Scheitel kränzen!


Pause.


DIE OBERPRIESTERIN mit freudebeklemmter Stimme.

Hört ich auch recht?

DIE ERSTE PRIESTERIN UND AMAZONEN.

Ihr hochgepriesnen Götter!

DIE OBERPRIESTERIN.

War dieser Jubellaut der Freude nicht?

DIE ERSTE PRIESTERIN.

Geschrei des Siegs, o du Hochheilige,

Wie noch mein Ohr keins seliger vernahm!

DIE OBERPRIESTERIN.

Wer schafft mir Kund, ihr Jungfraun?

DIE ZWEITE PRIESTERIN.

Terpi! rasch!

Sag an, was du auf jenem Hügel siehst?

EINE AMAZONE die währenddessen den Hügel erstiegen, mit Entsetzen.

Euch, ihr der Hölle grauenvolle Götter,

Zu Zeugen ruf ich nieder – was erblick ich!

DIE OBERPRIESTERIN.

Nun denn – als ob sie die Medus' erblickte!

DIE PRIESTERINNEN.

Was siehst du? Rede! Sprich!

DIE AMAZONE.

Penthesilea,

Sie liegt, den grimm'gen Hunden beigesellt,

Sie, die ein Menschenschoß gebar, und reißt, –

Die Glieder des Achills reißt sie in Stücken!

DIE OBERPRIESTERIN.

Entsetzen! o Entsetzen![102]

ALLE.

Fürchterlich!

DIE AMAZONE.

Hier kommt es, bleich, wie eine Leiche, schon

Das Wort des Greuelrätsels uns heran.


Sie steigt vom Hügel herab.


Quelle:
Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1978, S. 101-103.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Penthesilea
Penthesilea
Penthesilea: Ein Trauerspiel. Studienausgabe
Penthesilea: Ein Trauerspiel
Penthesilea: Ein Trauerspiel (Suhrkamp BasisBibliothek)
Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden: Band 2. Dramen 1808-1811. Penthesilea / Das Käthchen von Heilbronn / Die Herrmannsschlacht / Prinz Friedrich von Homburg

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon