Vierte Scene.

[99] Die Bühne verwandelt sich in diesem Augenblicke wie durch einen Zauberschlag in eine heitere Frühlingsgegend. Aus dem Boden steigt dicht vor Faust, vermöge einer Versenkung, eine Rasenbank empor, auf der Helene von einem Schleier bedeckt schlummernd ruht. Von oben fallen aus den Soffitten Blumengultlanden herab, die eine Laube über derselben bilden.[99] Eine ferne Musik von sanften Blasinstrumenten läßt sich hören.

Faust steht entzückt. Der Fremde blickt ihn lauschend von der Seite an.


Eine verhältnißmäßige Pause.


Der Fremde tritt hinzu und hebt langsam den Schleier von der Schlummernden, die in ein feuerfarbenes idealisches Gewand gekleidet, unbeweglich liegen bleibt.

Faust breitet in einer Entzückung noch sprachlos die Arme aus.

Der Fremde beobachtet ihn seitwärts mit einem höhnisch stechenden Lächeln, und geht dann leise ab.


FAUST allmählig der Worte mächtig werdend.

Bin ich's noch selbst? – Ha, sind es meine Augen,

Die, wie die Erde die Sonnenflammen,

Alle Lebensreize zusammen

Durstig und glühend in sich saugen! –

Ist diese Brust, ist dieses Herz noch mein?

Zerfließt nicht alles schnell wie Zauberschein?

Und wird dies Leben wahrlich Stand mir halten,

Mit seinen überirdischen Gewalten?


Die Schlummernde mit heimlicher Sehnsucht betrachtend.


Du lebst! – ha denn – jetzt fühl' ich mich auch leben!

Erstanden bin ich aus der alten Nacht;

Mein eignes Herz hast du mir neu gegeben,[100]

Durch dich ist meine Flamme angefacht;

Den Himmel brauch' ich nicht mehr zu erstreben,

Die Erde glüht ringsum in Liebespracht!


Wild und kühn.


Das Feuer brennt! – In dir bin ich gefangen;

Jetzt kenn' ich selbst mich und mein wild Verlangen!


Er schaut begeistert um sich.


Ein neuer Frühling glüht in allen Zweigen,

Die Nachtigallen jubeln ihren Chor;

Wie sich die Blüthen liebend zu mir neigen!

Das Herz der Erde drängt sich heiß hervor,

Und läßt sein Feuerblut hoch aufwärts steigen,

In grünen Flammen wogt der Wald empor;

Das volle Leben prangt im höchsten Glanze,

Nichts reizt allein – verbunden schwelgt das Ganze!


Er beugt sich glühend zu ihr nieder.


Ha, wie die Purpurwangen flammend glühen,

Ein heißer Traum des Busens Rosen hebt!

Wie auf zum Liebeskuß die Lippen blühen,

Das Herz in heimlich süßer Sehnsucht bebt!

O laß das Schattenbild dir nicht entfliehen;

Faust brennt für dich, und sein Verlangen lebt!


Er knieet außer sich vor ihr nieder.
[101]

Erwache! – Wehe mir –! Siehst du's zerrinnen?

HELENE schlägt die Augen auf, und streckt ihm die Arme entgegen.

O weiche nicht, du holder Traum, von hinnen!


Während dieser Attitüde fällt der Vorhang.
[102]

Quelle:
Klingemann, August: Faust. Ein Trauerspiel in fünf Acten. Leipzig und Altenburg 1815 [Nachdruck Wildberg 1996], S. 99-103.
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