Die Wahl

[173] Europa herrschet. Immer geschmeichelter

Gebietest du der Herrscherin, Sinnlichkeit!

Die Blumenkette, die du anlegst,

Klirret nicht, aber umringelt fester,


Als jene, die den bleichen Gefangenen

Im Turme lastet. Zauberin Sinnlichkeit,

Du tötest alles, was erinnert,

Daß sie nicht Leib nur, daß eine Seele


Sie auch doch haben! Von der Erhabenen,

Von ihrer Größe red ich nicht, sage nur:

Du schläferst ein, daß sie in sich nichts

Außer der schlagenden Ader fühlen.


Das soll nun endlich enden! Der edle Krieg

Der großen, liebenswürdigen Gallier

Raubt bis zum letzten Scherf. Euch sinket

Welkend vom Arme die Blumenkette.


Die Donnerstimme schallt euch der eisernen

Notwendigkeit! Ihr strauchelt des Lebens Weg

Verarmt: wie wär es möglich, daß ihr

Nun in der Zauberin Schoß noch ruhtet?
[173]

Doch wenn ein Funken Seele vielleicht in euch

Aufglimmet, wenn ihr zürnt, daß ihr Knechte seid ...

Was frommts? Ihr habt zum Flintenstein die

Pfennige nicht, noch zu einer Kugel!


Ihr saht es welken, hörtet die eiserne

Notwendigkeit. Was wollet ihr tun? Wohlan,

Zur Wahl: Verzweifelt! oder macht euch

Glücklicher, als es der Zauber konnte.


Wer, was die Schöpfung, und was er selbst sei, forscht;

Anbetend forscht, was Gott sei, den heitert, stärkt

Genuß des Geistes: wen nach diesen

Quellen nie dürstete, der erlieget.


Der Künste Blumen können zur Heiterkeit

Auch wieder wecken; führt euch des Kenners Blick.

Die Farbe trüget oft; der Blumen

Seelen sind labende Wohlgerüche.

Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 173-174.
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