Das Gegenwärtige

[127] Ehmals verlor mein fliegender Blick in des Lebens

Künftiges sich, und ich schuf dann, was mir Wunsch war,

Fast zu Wirklichkeit: seine Freuden

Hatte das schöne Phantom!


Denn das Gesetz der Mässigung wurd' ihm gegeben,

Wurde gethan mit der Strenge, die zu Hofnung

Leitet: aber der Wunsch ist dann selbst

Thor, wenn er Hofnung verdient.


Freue dich dess, das da ist! so sagt' ich mir öfter,

Als dem Getäusch ich es zuliess mir zu gleissen:

Sagt' es, thats! und erlebt' auch, was sich

Über Gewünschtes erhob.
[128]

Jetzo verweilt der festere Blick in des Lebens

Vorigem sich; und ich fühle, was dahinfloh,

Fast, als hielt' ich's noch: süssre Freuden

Giebt es mir, war nicht Phantom!


Freue dich dess, das da ist! so sag' ich mir dennoch

Jetzt auch. Obwohl sich der Scheitel mit des Alters

Blütheuhaare mir deckt; ich wandle

Froh um das nähere Grab.


Aber ich werd' auch Leiden gewahr im Vergangnen,

Wehmuth! es geht mit den Leichen der Geliebten

Mir vorbey: wie vermöcht' ich dann mich

Dessen, das da ist, zu freun!


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 2, Leipzig 1798, S. 127-129.
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