Erstes Buch.

Die Vorgeschichte.

Es war im Januar des siebenzehnhundert zwey und neunzigsten Jahrs, als mir von Stockholm aus gemeldet wurde, daß der König mir das Pastorat zu Altenkirchen auf der Insel Rügen verliehen habe. Zum letztenmal hatte König Gustav gesprochen in den Angelegenheiten seiner deutschen Staaten. Im Laufe desselbigen Monats noch erhob er sich aus seinem Hoflager, um abzugehn nach dem stürmischen Reichstage zu Gefle. Wenig Tage nach seiner Heimkunft in die Hauptstadt traf ihn das Rohr des Meuchelmörders.

Bis in das siebente Jahr hatte ich das Rectorat der Stadtschule zu Wolgast verwaltet. Allzu schwach unterstützt durch meine Gehülfen, deren die Einen durch das Alter gelähmt wurden, die andern durch die Sorge, war ich dem Uebermaß der Arbeit endlich erlegen, und fing an, eine Veränderung der Lage zu wünschen. Auch zu jenem Pastorat hatte ich mich gemeldet. Ich hatte, in Gemäßheit des Gesetzes, das die Beförderung verdienter Schullehrer vor allen andern empfiehlt, sogar ein näheres Recht an diese Stelle, als die meisten übrigen, die sich zugleich mit mir darum bewarben. Nichts desto weniger ward ich durch[3] die Nachricht, daß ich nun wirklich zu ihr ernannt sey, im höchsten Grade überrascht. Es waren nicht so sehr die sogenannten Meriten (die dann freilich in dem absonderlichen Sinn, worin das Wort in der Schwedischen Canzeleysprache genommen wird, wohl schwerlich einen sichern Maßstab der wirklichen Tüchtigkeit und Würdigkeit darbieten mögen) welche damalen bey Hofe über die Vergebung der Aemter entschieden. Es waren, wie es allwege und überall gewesen und seyn wird, die Verbindungen, die Empfehlungen, die Familienrücksichten; es waren vor allen Dingen, zumal, wann es die Verleihung einträglicher Stellen galt, die klingenden baaren Motive. Ich, der sich es wohl bewußt war, daß, wenn die Pfunde dieser Art den Ausschlag geben sollten, meine Wenigkeit gar leichtlich von dem Nächsten Besten würde niedergewogen werden, hatte daher auch nie im Ernst auf jene vielgesuchte Pfründe gerechnet; ich hatte während der zwanzig Monate, die bis zu ihrer endlichen Wiederbesetzung verstrichen, dem Gedanken an sie sogar entsagt, daß, als zu Ende des siebzehnhundert ein und neunzigsten Jahrs fast zu gleicher Zeit mehrere Anträge aus der Nähe und Ferne an mich ergingen, ich denjenigen von ihnen, der meinen Kräften und Neigungen mir am meisten zuzusagen schien, bereits wirklich angenommen, auch die Entlassung bereits nachgesucht hatte von dem Amt, das ich bis dahin verwaltet.[4]

Erst späterhin habe ich erfahren, auf welchem Wege der König sey bewogen worden, gerade mich zu ernennen zu jenem Pastorat, vorzugsweise vor dreißig andern, unter denen es an tüchtigen und verdienten Männern nicht fehlte. Ich hatte eben damalen Oliver Goldsmith's eben so anmuthig erzählte als sorglos hingeworfene Römer-Geschichte für das deutsche Publicum neu bearbeitet, und war aufgemuntert worden, dem Kronprinzen ein Buch zuzueignen, das geeignet schien, ihn zugleich zu ergötzen und zu belehren. Die Bände kommen an. Der königliche Knabe freut sich der anmuthigen Gabe. Leichtlich beredet von denen, die mir wohlwollen, geht er zum Vater, zeigt die zierlichen Bücher, die er eben jetzt empfangen, nennt den Verfasser, und wagt zu bitten, daß, da jener eine Rügische Pfarrey suche, solche ihm verliehen werden möge und keinem andern. Der König gibt dem Sohne sein Wort, und erinnert sich dessen im entscheidenden Augenblick. Der Gewährsmann, den ich für diese Umstände anzuführen habe, ist geltend genug. Es ist kein geringerer als der Kronprinz selber. Diesem, da er schon König geworden, fällt ein, daß er sich noch nicht bei mir bedankt habe. Er beschließt, mir zu schreiben, und zwar in deutscher Sprache, damit ich sehen möge zugleich, daß er mein Buch wirklich lese und verstehe. So erhielt ich denn, nachdem ich längst zu Altenkirchen eingewohnt[5] war, und an die Art und Weise, wie ich dahin gekommen, kaum mehr dachte, ein überaus gütiges, obgleich gerade nicht zum Besten buchstabirtes Handschreiben, worin der König mir seine Zufriedenheit mit den empfangenen Büchern bezeugt, und zugleich das Vergnügen ausdrückt, das er über die mir ausgewirkte Beförderung empfinde.

Nun war zwar die Stelle, wozu der König mich ernannt, im geringsten nicht bedeutender, weder was die Würde, noch was das Einkommen anlangt, als jene, zu deren Verwaltung ich nach Riga war berufen worden. Es mochte manchen bedünken sogar, daß eine erste Professur auf einem blühenden kaiserlichen Lyzeum einer schlichten Landpredigerstelle mit nichten nachzusetzen wäre. Es mochte scheinen, daß die Einbürgerung in einer volk- und geldreichen See- und Handelsstadt, deren Bewohner den Ruhm der würdigsten Gesinnung bis auf diesen Tag behaupten, unendlich vorzuziehen sey der Verweisung in einen abgelegenen, meistens nur vom niedern Volk bewohnten, den feinern Genüssen der Gesellschaft fast unzugänglichen Winkel der Erde. Allein eben die Abgeschiedenheit der Lage schmeichelte meinem tiefgewurzelten Hang zur Einsamkeit und zur Betrachtung. Die Verminderung der Berufsgeschäfte ließ hoffen, daß ich um so schneller genesen würde von der Erschöpfung, die meine bisherigen Anstrengungen mir zugezogen. Für das[6] Entbehren der sogenannten feinern Welt, und ihrer Freuden rechnete ich Ersatz zu finden in der Ideellen, die ich im Innern trug, mehr eingewickelt zur Zeit noch, als entfaltet. Die größere Muse, die tiefere Ruhe, das idyllische Stillleben, dessen ich zu genießen hoffen durfte innerhalb des romantischen Eilands, für welches ich eine frühzeitige Vorliebe gefaßt, alles dies diente, meine Wahl zu entscheiden. Ich bat die edelmüthigen Männer, die mich in jene Ferne hatten ziehen wollen, mein Wort mir zurückzugeben, und erwartete nur noch das Eintreffen der königlichen Vollmacht, um in Besitz zu nehmen kraft ihrer das mir verliehene Amt und alle aus ihm fließende, Gerechtsamen.

Allein es verzog sich mit dem Eingehen der Vollmacht. Und die Lage des Hofes war eine solche, daß zu fürchten stand, sie werde noch länger verziehen. Es ist gebräuchlich im Schwedischen Cabinet, daß, sobald die Sitzung des Staatsrathes aufgehoben worden, das während seiner Sitzung von dem expedirenden Secretair geführte Protokoll sofort ins Reine gebracht, und desselbigen Tags noch dem Könige zur Unterschrift vorgelegt wird, da dann die in der Acte niedergeschriebenen Beschlüsse den Behörden zur Ausführung mitgetheilt, und, falls Ernennungen darunter befindlich, die vom König ebenfalls zu unterzeichnenden Vollmachten ungesäumt ausgefertigt werden. In Gemäßheit[7] dessen bringt denn auch dießmal der Geheimschreiber das mundirte Protokoll des Tags dem König. Gustav, anderer Sorgen voll, und nicht allzufreundlich gestimmt, verweigert die Unterschrift für heute. Der Geheimschreiber geht. Die Acte wird hingelegt. Nie hat der König sie unterzeichnet.

Ich sitze an einem der mildern Aprilabende des Früjahrs mit meiner Gattin vor unsrer Hütten Thür. Wir hatten uns ausgeredet über die Annehmlichkeiten sowol, als über die Unbequemlichkeiten unsrer künftigen Lage. Geheftet den Blick unwillkührlich auf die Mondenstrahlen, die in den Bogenfenstern der uns gegenübergelegnen Kirche sich flitternd brechen, sitzen wir schweigend. Ein Fuhrwerk rasselt schwerfällig die nächste Straße herunter. Es scheint zu halten vor dem Posthause an der Ecke. Nicht lange und in der Stadt erhebt sich eine Art von dumpfen Brausen, das wachsend mit jedem Augenblick, einen förmlichen Volksaufstand anzudeuten scheint. Meiner Gattin wird bange. Indem sie ins Haus tritt, ich aber im Begriff bin hinzugehn und die Ursach des Tumults zu erkunden, kommt ein Bekannter den Kirchhof herunter gesprengt, und ruft im Vorübereilen uns zu: »Stellen Sie sich vor, der König ist ermordet!«

Augenblicklich knüpfte sich an den Gedanken des ungeheuern Schicksals, das ein ganzes Königreich umzuwälzen drohte, die Sorge um die eigne Zukunft.[8] »Und was, konnte ich nicht umhin, zu meiner Gattin gewendet, zu sprechen, was wird nun aus uns!«

Unmännliche Kleinmuth gehört gleichwohl im geringsten nicht zu meinen Schwächen; und von den Forderungen des Evangelii ist von jeher keine leichter von mir erfüllt worden, als die, welche verbietet, auch nur um den nächsten Morgen zu sorgen. Während andere meine Lage überaus bedenklich fanden, (und wirklich befand ich für den Augenblick mich außer Amt und Brot, dafern es, wie manchem ganz wahrscheinlich dünkte, mit der Rügischen Beförderung jetzt rückwärts ging,) fuhr ich ruhig fort, bis der mich ersetzende Lehrer eingeführt seyn würde, meines bisherigen Berufes wahrzunehmen, in den Nebenstunden aber an der Vollendung der Clarisse, deren Uebersetzung mich seit einigen Jahren beschäftigt hatte, zu arbeiten. Ich wurde dann auch bald von Stockholm aus verständigt, daß der Tod des Königs in meiner Angelegenheit nichts ändern könne, daß vielmehr, sobald die drängenden Geschäfte es nur irgend erlaubten, dem Herzog Regenten die Sache vorgelegt und sobald nur dieser das Fehlende ergänzt hätte, die Vollmacht ausgefertigt werden würde. Sie ist dann auch eingetroffen nach Verlauf einiger Wochen. Und zwar ist sie datirt vom Tage der Ernennung, und ausgefertigt unter König Gustav Namen. Alsdann folgt ein Postscript: »Wie durch Seiner Majestät mittlerweile nach[9] Gottes Willen eingetretnem tödtlichem Hintritt die Vollstreckung Seines Willens bis hieher verzögert worden; solchem Mangel aber in Kraft seiner testamentarischen Verfügung und Namens Seiner Majestät des gegenwärtigen Königs hiedurch abhelfliche Maße geleistet werde durch den Regenten des Reichs, den Herzog von Südermannland Carl.« Also ist diese meine Vollmacht unterzeichnet worden von derselbigen Hand und mit denselbigen Zügen, womit eben jetzt nach drey und zwanzig verfloßnen Jahren die Vollmacht meines auf meine Bitte mir zugeordneten Gehülfen Schwiegersohns und dermaleinstigen Nachfolgers unterzeichnet wurde. So lenkte es die göttliche Fügung.

Nichts hinderte uns nunmehr, zu unsrer Abreise aus Wolgast uns anzuschicken. Der Mühe des Einpackens überhoben uns unsre gefälligen Freunde. Alles ward an Bord einer Jagd geschaft, welche eigends von Wittow ausgelaufen war, um unsre Sachen abzuholen. Wir selbst für unsre Personen zogen freilich vor, zu Lande unsers Weges zu ziehn. Nicht ohne Schmerzen trennten wir uns von der gastfreundlichen Stadt, die seit sieben Jahren uns beherbergt und gepflegt hatte. Doch war es für mich die höchste Zeit, zu gehn. Ich hatte mehr gearbeitet innerhalb dieser sieben Jahre, als das Maß meiner Kräfte vertrug, und vielleicht jede Menschenkraft vertragen möchte.[10] Um den vielartigen Bedürfnissen der zahlreichen, auf den verschiedensten Stufen des Alters und der Ausbildung stehenden Jugend nur einigermaßen abzuhelfen, hatte ich Lectionen gegeben von fünf Uhr frühe bis zur zehnten Abendstunde, und mochte dennoch am Ende gar wenig damit gefruchtet haben. Die Begeisterung, die in mir lebte, der Medeenzauber, womit die Muse ihre Vertrauten ewig jung erhält, hatte zwar bey so austrocknenden Arbeiten vor der geistigen Abstumpfung mich bewahrt. Allein die leibliche Federkraft war erschlafft, meine Gesundheit wankend geworden, bedenkliche Brustbeschwerden machten selbst die Aerzte für mich fürchten. Gleichwohl, wenn ich späterhin, des früheren Berufes gedenkend, meiner siebenjährigen Aegyptischen Dienstbarkeit zu Zeiten erwähnt haben sollte, so will ich dieses Bild einzig nur auf das Uebermaß der Arbeit, dem ich mich dort meistens freywillig unterwarf, bezogen haben, mit nichten auf die liebreiche Gesinnung jener biedern und gefühlvollen Menschen, welche mit innigem Bedauern uns reisen sahn, und nicht aufgehört haben, mit den rührendsten Erweisungen echter Freundschaft und thätiger Erkenntlichkeit uns zu überhäufen bis zu dem Augenblick unsrer Abfahrt.

Auch die Besorgniß, vergeblich mich zerarbeitet zu haben, die ich aus jenen Mauern mit hinweggenommen, und die den Volks- und Jugendlehrer, der[11] freilich seine Saaten nicht auf der Stelle keimen und reifen sieht, nur allzuhäufig niederdrückt, habe ich zu meiner Freude durch den Erfolg beschämt gesehen. Zahlreiche Zöglinge sind ausgegangen aus meiner Schule, die ihren Platz in der Gesellschaft mit Würde behaupten und mit Nachdruck ausfüllen. Auch werde ich zum öftern, und nach so viel verstrichnen Jahren noch, durch Ausströmungen kindlicher Pietät und dankbarer Erinnerung überrascht aus Gegenden, wo ich dergleichen nicht erwartet, und von Seiten solcher, deren ursprünglich spröderer und herberer Natur ich Aehnliches nimmer zugetrauet hatte.

In der Mitte des Junius verließen wir Wolgast. Zu Greifswald, wo ich die priesterliche Weihe zu nehmen hatte, verweilten wir mehrere Tage, und gesegneten sodann diese schöne Stadt, nicht ahnend, daß wir nach einer Reihe schicksalvoller Jahre froh seyn würden, innerhalb ihrer Mauern ein rettendes Asyl zu finden. Für itzt standen uns Sinn und Seele einzig hin nach der ersehnten Insel. Die Nacht jedoch sahen wir uns genöthigt diesseit des Wassers zu verweilen in dem Hause des Fährmanns. Am folgenden Morgen zogen wir hinüber, und fanden das Fuhrwerk, das zu unsrer Abholung am vorigen Tage schon eingetroffen war, unser warten. Das Vergnügen, das wir uns davon versprochen hatten, das ganze Land in seiner gedehntesten Diagonale zu durchreisen, ward[12] ein wenig gestört durch den Regen, der den ganzen Tag nicht aufhörte, in Strömen auf uns herabzustürzen. Gegen Abend erst, als wir nun die letzten Gewässer im Rücken hatten, und jetzt den Wittowischen Boden betraten, trat die Sonne strahlend hervor aus dem grauen Duft. Wittow's gesegnete Fluren, vom überschwenglichen Regen erfrischt, prangten in erhöhter Schönheit. Zur Rechten und Linken der Straße grünte vielfarbig des Getreides üppige Fülle. Im abendröthlichen Lichte lag bald unsre nunmehrige Heimath vor uns, von nun an der Schauplatz, welcher Freuden und Leiden! Weit auseinander gestreut reiheten sich die stillen Hütten um die sogenannte Alte Kirche, die älteste des Landes, in deren Nähe wir dann auch bald unsre Wohnung entdeckten, demüthig, einfach, friedewinkend. Wir säumten nicht sie zu erreichen. Schon hielten wir unter den Kastanienbäumen, die der Vorfahr gepflanzt. Die Wittwe, die wir zu verdrängen kamen, empfing uns gleichwohl mit Herzlichkeit. Bald auch erschienen der Diaconus, der Küster, die Vorsteher, andre ehrbare Männer der Gemeine, um zu unsrer Ankunft uns Glück zu wünschen. Am nächsten Sonntag, es war der Tag Johannes des Täufers, erfolgte die feierliche kirchliche Einführung durch den obersten Geistlichen des Landes, den verewigten Schlegel; zunächst die Investitur in die zeitlichen, Gerechtsamen und das Lehn der Pfarre[13] durch den königlichen Beamten. Tags darauf wurden die Rechnungen des Kirchenwesens revidirt, sodann die Zimmer inventirt, die Bücher und Archive abgeliefert. Es folgte die Auseinandersetzung mit der Wittwe, welcher ich nach einer billigen, von zweyen einsichtigen und redlichen Gemeindgenossen gemeinschaftlich entworfenen Schätzung ihr ganzes Inventarium abkaufte, auch zugleich ihr gesammtes Gesinde in meine Dienste nahm. Mehrere Tage verstrichen über diesen, mir freilich nicht sonderlich zusagenden, jedoch unausweichlichen Geschäften. Nach und nach kam alles in seine Ordnung. Die Beamten reisten an ihren Ort. Die erbetenen Beystände thaten desgleichen. Auch die Wittwe, welche vorzog in Greifswald zu wohnen, wozu ihr die Mittel nicht fehlten, verließ uns. Wir blieben nun uns selbst überlassen, und auf das Getümmel und Geräusch der letzten Tage folgte eine um so süßere Stille.

Nichts lag mir näher itzt, als zu erkunden den Charakter der Landschaft, und die Eigenthümlichkeit der Gegend, darin mir verhängt war hinfort zu leben. Denn wiewohl ich mehrere Jahre meiner frühern Jugend auf dem Eyland verlebt, auch die verschiednen Inseln und Halbinseln des kleinen Archipelagus in jeder Richtung zu durchkreuzen, mich nicht verdrießen lassen, dennoch hatte mir nie bequem werden wollen, das entlegnere Wittow zu bereisen. Auch[14] war mir dieses allezeit beschrieben worden, als der am wenigsten anziehende Theil des Landes; es sey, hieß es, pures Blachland, dessen überaus ergiebiger Boden die Scheuern und die Speicher zu füllen zwar vortreflich tauge, dem Auge aber und der Fantasie nichts darbiete, als eine weite eintönige ermüdende Fläche. Man hatte sich geirrt gleichwohl. Man war zu nahe getreten diesem ganz still und heimlich, aber mit wunderbarer Kraft die Gemüther fesselnden Erdreich. Man hatte ihm zu hoch angerechnet den Mangel der Forste und der Anhöhen; und viel zu wenig in Anschlag gebracht die Nähe des Meers und seine mystisch verschlungnen Uferschlüchte. Zwar meines Wohnorts allernächste Umgebungen schienen auch mir flach und öde, und wenig anmuthig, also daß mir fast bange werden wollte um das Ganze. Aber ich war kaum um einige Ackerbreiten weiter hinausgetreten bis dahin, wo das Land kaum merklich sich hebt, nicht so bald hatte mir sich dargestellt jener majestätische Tromper Golf mit den ihn beherrschenden Hochgestaden, als ich gänzlich ausgesöhnt mich fühlte mit meinem Loose. Diese Buchten, diese Ufer, diese verschwiegnen Uferschründe, dieses herrliche Arkonavorgebirge, diese silberweißen Dünen, deren Schnee mit des Meeres tiefem Purpur wundersamlich absticht, diese ganze erschütternde Majestät der Natur verbürgte mir, daß solchen Erscheinungen gegenüber[15] die geistigen Flügel mir nimmer gänzlich sinken, der Funke der Begeisterung nicht in mir erlöschen würde, als mit dem Funken des Lebens selber.

Hierüber zufrieden gestellt, eilte ich, die irdischen Dinge, von deren Verwaltung des Leibes Nahrung und Nothdurft, so wie des Lebens Bequemlichkeit und Behaglichkeit abhängt, also zu ordnen, daß die Sorge um sie in dem höhern geistigen Leben mich möglichst wenig stören möchte. Das Pfarrgehöfte, was freilich seit zwey Jahren des pflegenden Hausvaters entbehrt, bedurfte überall fast und in jedem Sinne der Nachhülfe und Ausbesserung, deren Kosten in Gemäßheit des Gesetzes dem Rügischen Pfarrer allein zur Last fallen. Es mußte gedeckt, geklebt, gepflastert, das gesammte Gehöft mit Inbegriff der Gärten durchaus neu eingefriedigt werden; welches letzte insonderheit für den Anfänger eine schwere Aufgabe war. Alles griff ich gleichwohl an zur selbigen Zeit, und scheute keinen Aufwand, der mir nur um so schneller zum gewünschten Ziel verhülfe. Im Herbste ließ ich die Gärten in allen Richtungen erweitern, Teiche austiefen, Graben ziehen, Steinmauern setzen. Bäume pflanzte ich sonder Maß und Ziel. Den sonnigen Rasenplaz, der den Hofteich von dem Wohngebäude sondert, umzog ich mit einem Kranz von Espen und von Silberpappeln, welche, längst schon über des Hauses Giebel hinausgewachsen, oben im luftigen Blau[16] ihre Wipfel verschränken zu einem lebendigen der Sonne wie dem Winde wehrenden Baldachin, in dessen Schatten jezt bereits die Kinder meiner Kinder spielen.


Die sehr beträchtlichen Ländereien der Pfarrey ließ ich in den Händen, worin ich sie gefunden. Zwar ward ich berichtet und sahe selbst wohl ein, daß sie weit unter dem wahren Werthe verpachtet seyn; dennoch, und wiewohl der Werth der Aecker binnen wenig Jahren sich verdoppelte, endlich sich verdreifachte, konnte ich es nicht über mich erhalten, den Inhabern den Preis zu steigern, woraus dann freilich entstand, daß die Pachtenden bald wohlhabender wurden als der Verpachter, dieser aber binnen zwanzig Jahren um wenigstens eben so viele Tausende ärmer geblieben, als er gewesen wäre, wenn er sich hätte entschließen können, diesen überaus dankbaren Boden für seine eigne Rechnung anzubauen, oder, dafern dies einmal seine Stimmung nicht gestattete, diejenigen wenigstens, die statt seiner ihn benutzten, leisten und zahlen zu lassen, was sie schuldig waren.


Zur Führung des eignen Haus- und Feldwesens, was auch so noch bedeutend genug blieb, ward mir ein tüchtiger Wirthschafter empfohlen, dessen Leitung ich diese Dinge gänzlich heimstellte, und eben nicht Ursach[17] gefunden, meine Glaubwilligkeit und Sorglosigkeit zu bereuen. Es will zwar das Sprichwort, daß nur des Herrn Auge das Pferd gedeihen mache. Allein ich kann versichern, daß ich in meinem Leben nicht in meinen Pferdestall gekommen; und dennoch waren meine Gespanne die tüchtigsten weit und breit. Wiewohl ich weder um den Dünger sonderlich sorgte, noch mich von Herzen ereifern konnte über das heillose Verspillen der köstlichen Gottesgabe, der unschätzbaren Mistjauche; dennoch prangten meine Aecker mit den üppigsten Saaten; an Milch und Butter war kein Mangel; wenn die Bienen überall misrathen waren, so fehlte mir der Raum, die Schwärme zu beherbergen. Unfälle an Vieh und Pferden sind mir nie begegnet. Brand, Mehlthau, Hagelschlag und Windstürme sind meinen Fluren schonend vorübergegangen. Was ich pflanzte, wuchs frölich fort; was ich aufzog, gedieh; und was ich immer beginnen mochte, es ging von statten.


Möchte ich ein gleiches rühmen können von meinen geistigen Bestrebungen, von der sittlichen und religiösen Pflege des mir anvertrauten Völkchens. Das in diesem Sinn mir angewiesene Feld war groß und weit. Fünf und zwanzig, mehr und minder bevölkerte Dorfschaften und Höfe zählen zu meinem Sprengel. Bey weiten die meisten der Gemeindgenossen gehören[18] zum niedern Volke; es sind Ackerbauer, Schiffer, Fischer, Handwerker und Tagelöhner; aus jenen Ständen, die sich die gebildetern nennen, gibt es einige wenige Gutsbesitzer nur und Pächter. Ich war gänzlich fremd den Einen wie den Andern, als ich unter sie trat. Allein sie kamen mit zutraulicher Herzlichkeit mir entgegen. Diese schlichten Menschen, geschützt noch bis dahin durch ihre abgeschiedene Lage vor den Einflüssen des immer weiter um sich greifenden neuen Heidenthums, waren gewohnt noch von den Vätern her, in ihren Seelsorgern zu verehren eine Art von Gottbegeisterten Weisen, von denen sie berechtigt seyn, Rath und Trost, Mahnung und Warnung, Zurechtweisung und Ermuthigung zu empfangen in jeder geistigen und leiblichen Bedrängniß. So flüchten sie denn zu ihnen in jeder Verlegenheit. Sie ziehen sie zu Rath in ihren häuslichen und bürgerlichen Angelegenheiten. Sie stellen ihrer Entscheidung heim ihre kleinen Zwiste. Sie suchen Schutz bey ihnen gegen Druck und Drang. Sie suchen und finden in ihnen, gegenüber den höhern Behörden, ihre natürlichen Vormünder, Fürsprecher und Vertreter. Auf solche Weise bildet zwischen dem Seelsorger und seinen Gemeindegenossen sich ein schönes menschliches, fast patriarchalisches Verhältniß, in Folge dessen jedes was den andern angeht, empfindet und zu Herzen nimmt, als betreffe es das Eigne. Es freuen sich die Pfarrkinder[19] des Wohlstandes ihres geistigen Vaters. Sie rühmen sich seines Ruhmes. Sie sind stolz auf seine Gaben. Was in seinem häuslichen Kreise ihm begegnen mag, Erfreuliches oder Betrübendes; es wirkt fast eben so stark auf sie, als begegne es ihnen selber. Die Kinder zumahl, die ihm geboren werden, und die sie aufwachsen sehn in ihrer Mitte, gewöhnen sie sich zu betrachten, als gehörten sie auch ihnen an; sie sehen mit Wohlgefallen zu ihrer Entwicklung und Entfaltung. Sie interessiren sich zumahl für die studirenden Söhne, und können die Stunde kaum erwarten, wo der Sohn nun auch einmal vor ihnen auftreten werde auf der geweiheten Stätte, und zu ihnen reden im Geist und in der Kraft des Vaters .... Solchen Menschen, also gewöhnt, und also gestimmt, Zutrauen und Verehrung einzuflössen, war nicht schwer ... Es hatten seit den Tagen der Reformation fast lauter ausgezeichnete Männer dieser Gemeine vorgestanden: Leonhard Maifisch, der Herzog Philip zuerst das Evangelium in seinem Cabinet gepredigt; Gedeon von Klemzen, der anfangs die Rechte gelehrt auf der hohen Schule zu Greifswald; Johannes Runge, der alle Stürme des dreißigjährigen Krieges glaubig und großherzig bestanden; späterhin der milde menschenfreundliche Schwarze; zunächst der feurige Eiferer Almer; welcher abgelöset worden von dem gütigen und leutseligen Teenke; da dann, als dieser[20] bald abgerufen worden durch seinen Herrn und Meister, mein unmittelbarer Vorfahr an das Amt gelangt, der Schrift- und Natur-Gelehrte Wilke. Hinter solchen Männern nicht allzufern zurückzubleiben, hinderte der Gott in meinem Innern. »Der Geist des Herrn Herrn war auch über mir; er, der auch mich gesalbet, und auch mich gesendet hatte, den Elenden zu predigen, die zerbrochnen Herzen zu verbinden; zu predigen den Gefangnen eine Erledigung, den Gebundnen eine Oefnung; zu predigen ein gnädiges Jahr des Herrn, und einen Tag der Rache unsers Gottes; zu schaffen den Traurigen in Zion, daß ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit, und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden; daß sie genennet werden Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn zum Preise.« ... Es mochte wohl anfangs diesen schlichten Menschen, die ich unter mir sitzen sah, in schweigendes Erstaunen versunken, meine Rede eine fremde Zunge bedünken; es mochte mein Wort sie gemahnen, als seyn es dunkle Prophetensprüche, eine schwer zu enträthselnde Apokalypse. Allein es genügte ihnen zu sehen und zu hören. Das Feuer des Redenden, die Inbrunst, die Empfindung, der Schall der Stimme selber, die Wahrheit der Gebehrdung, die ihn zu Zeiten unwillkührlich übermannende Wehmuth, die Thränen, die ihm ungerufen in die Augen stürzten, alles mußte sie überführen, daß es[21] ihm ein Ernst sey um den Inhalt seiner Rede, es mußte die Ahnung höherer Dinge in ihnen wecken, und sie hinausheben über den beschränkten Kreis ihrer täglichen Sorgen. Nach und nach dann, da ich vertrauter mit ihnen geworden durch Gespräch und Umgang, dann zumahl, als ich dem vergeblichen Bestreben recht populär zu seyn endlich entsagt, als ich es darauf angelegt, nicht sowohl hinabzusteigen zu den Hörern, als sie zu mir heraufzuheben, als ich zurückgekommen von dem Vortrag irreligiöser Dinge (denn leider habe auch ich eine Weile gepflügt mit dem Kalbe des Tags, ich habe mich zerarbeitet zu predigen die Oekonomie, die Diätetik, und was sonst nicht alles, ich habe den Krieg gemacht dem allerdings in den Häuptern dieses Völkchens noch immer mächtig spukenden Aberglauben, habe geeifert wider die Hexen und die Gespenster und den Teufel, habe getrieben den Gesundheitkatechismus des treflichen Mannes, des Bückeburgischen Faust; wenig fehlte, und ich hätte auch Brot backen und Bier brauen gelehrt, laut des belobten Noth- und Hülfsbüchleins) als ich mich beschränkt zuletzt, auf das Einzige Nothwendige zu dringen, zu predigen Christus und sein Kreutz, und den Glauben und die Hofnung und die Liebe; dann allmählig habe ich verspührt, daß die Schuppen ihnen vom Auge fielen, und das Fell vom Ohr; ich bin inne geworden nun und dann, daß es anfange aufzugehn[22] unter ihrem Herzen, und die Wehen der neuen Geburt sich in ihnen regten.1

Jener Wilke, mein Antecessor, ein geborner Schwede, war ein sehr gelehrter Mann gewesen, ein tüchtiger Theolog aus Siegmund Baumgartens Schule, dazu ein Schüler des Linnäus, mithin ein eifriger Naturbeobachter, ein Liebhaber der Pflanzen und Blumen, wie er dann den botanischen Garten zu Greifswald, der keinem andern weicht, angepflanzt,[23] eine Flora Gryphica geschrieben, auch in seinem Garten viel ausländisches Gesträuch und Gewächs gepflegt, wovon ich denn noch manches vorgefunden, und zu des Alten Andenken zu erhalten gesucht. Eben dieser hatte, zum Gebrauch des ihm in die Hände wachsenden Geschlechts zweyerley Katechismen entworfen, den Einen, kurz, klar, naif, wahrhaft kindlich, für die Unmündigen, den andern, ausführlichern und gedachteren, für die Reifern. Auch Predigt-Concepte habe ich von ihm vorgefunden, verfaßt im schönsten Latein, disponirt nach allen Regeln der Topik, ausgestattet mit einem Reichthum der Materialien, der bewundern läßt, wie solches alles in Einer oder in anderthalb Stunden habe abgehandelt werden können. Dieser würdige Mann war dem Schwindel der Neuerung, der in seinen Tagen auch festere und gesundere Köpfe zu verrücken drohte, männlich widerstanden, so lang er gelebt. Auch nicht eines Fingers Breite hatte er dem Dämon eingeräumt innerhalb seines kirchlichen Gebietes, wohl wissend, daß er nur deren bedürfe, um sofort der ganzen Hand sich zu bemeistern. Er war treu geblieben dem alt hergebrachten Lehrbegriff; abzuweichen von dem vorschriftmäßigen Ritus hatte er sich nicht ermächtigt gehalten; auch den öffentlichen Gottesdienst hatte er mir hinterlassen in seiner ganzen alterthümlichen Umständlichkeit, Pracht und Größe; und ich meines Theils habe mich wohl[24] gehütet, solchem auch nur ein Jota abzuzwacken. Während, einem verwöhnten Zeitgeschmack sich bequemend, in der Nähe und der Ferne alles sich beeiferte, den Cultus zu vereinfachen, zu entsinnlichen, zu verwässern; ihn abzukürzen vor allen Dingen, damit der Schlaffheit und Lauigkeit des Zeitgeistes nur ja recht weiche Polster untergelegt würden; während dessen erhielt ich meinem Volke standhaft die von den Vätern herabgeerbten und ihm werth gewordnen Formen, erwehrte mich der von oben herab uns fast gewaltthätig aufgedrungenen modernisirten Gesangbücher und Liturgien, bewahrte der Gemeinde die alten Kraft- und Kernlieder, hielt streng über den durch die Agende sanctionirten Ritus, und wich nicht leichtlich ab von dem schönen sinnvollen Cyclus unsrer Evangelien und Episteln. Den Katechismus des Krakeviz zu vertauschen mit dem des Schle gel, ließ ich zwar durch die Gebrechen des Einen mich verleiten, und durch manche Vorzüge des Andern. Ich habe aber Ursache gefunden, auch dieses zu bereuen, und hätte hinterher den alten gern wiedergehabt mit allem seinen scholastischen Wust, und seiner polemischen Härte. Um so viel möglich abzuhelfen dem Schaden, der aus diesem übereilten Tausch zu erwachsen drohte, hielt ich von nun an desto strenger über dem Auswendiglernen des kleinen Katechismus Lutheri nach Wort und Buchstab. Denn es ist nothwendig, daß dem Volk ein Bleibendes und[25] Gewisses mitgegeben werde, worauf es sich stützen möge im Leben und im Sterben. Es ist rathsam in alle Wege, daß das Ewige und Unwandelbare abgespiegelt werde, auch durch die Unveränderlichkeit seiner Formen ..... Welche der beyden Verfahrungsweisen in den Dingen dieser Art dem Volk am meisten zusage, hat sich denn auch bald gezeiget. Während dieß- und jenseit der Gewässer die Gotteshäuser, worin dem Zeitgeist war gehuldigt worden, verödeten zusammt den Altären, wollte in unsrer entlegnern Kirche den Anbetern überall der Raum ermangeln, und der Tisch des Herrn ward nicht leer von solchen, die sein tröstliches Gedächtniß begingen. Aus dem Morgen und aus dem Abend kamen sie dahergezogen, mit Weib und Kind, zu Roß, zu Wagen und zu Fuß; es vermochten weder die Regenstürze des Herbstes sie zu schrecken, noch die Schneegewitter des Winters, weder der weichende Triebsand der Dünen, noch der ausgetretenen Gewässer unbekannte Gefahren. Rührend war mir in den erstern Jahren der Anblick eines fast hundertjährigen Invaliden, dem seit langer Zeit sein Standort angewiesen worden, auf dem um mehrere Meilen entlegenen Posthof an des Landes äußerster Ecke, von wannen im Fall eines dringenden Ereigniß die Packetböte pflegten abgefertigt zu werden nach den schwedischen Küsten. Die Wallfahrt zu uns mußte diesen Alten nothwendig jederzeit den besten Theil der[26] Woche kosten. Gleichwohl habe ich anfangs ihn fast sonntäglich gesehn; gelehnt an den Pfeiler der Kanzel gegen über, stand er, hoch aufgerichtet, kerzengerade, dünnes weißes Haar spielte ihm um die Stirn und die Schläfe. Späterhin, wie zu erwarten war, wurden seine Besuche seltner und seltner. Als er endlich gänzlich ausgeblieben, bin ich eines Tages unerwartet auf sein Grab gestoßen, mitten unter den Gräbern der Bernsteininsel, wohin jener Posthof eingepfarrt ist, obgleich getrennt von ihr durch ein breites Gewässer. Auf des Kirchhofs sonnigster Höhe hatten sie ihn eingescharrt; der Stein zu des Grabes Häupten nannte seinen Namen; »lang Gras, pfeifend im Winde deckte rings den mächtigen Hügel.«

Eigenthümlich diesem Lande und dieser Gemeinde ist die Sitte der jährlichen feyerlichen Gottesverehrungen unter offenem Himmel am Gestade des Meeres. Es ist diese Sitte aufgekommen in den alten längstverflossnen Zeiten, wo der Heringsfang an unsern Küsten noch zu den bedeutendsten Nahrungsquellen des Landes gehörte, und zum Einkauf des gefangenen Fisches die Handelsleute sich zusammen fanden aus dem ganzen Norden. Damit nun weder die Fischer der sogenannten Vitte über der Wandrung in die entlegne Alte Kirche des günstigen Momentes verfehlen, noch die Fremden während sie in dieser Ferne verweilten, der geistigen Pflege gänzlich entbehren[27] möchten, so war beliebet worden, daß sowohl jenen als diesen, so lange die Zeit des Fanges dauerte, ein eigner Gottesdienst gehalten werden solle auf dem Platze selber. Die Ursach hat nun zwar längst aufgehört; der Hering hat sich hinweggewöhnt von diesen Ufern, und es wird dessen nur kaum noch so viel gefangen, als die zunächst wohnenden Gemeinden zu ihrem Verbrauch bedürfen. Nichts desto weniger hat die Sitte sich erhalten. Alljährlich, sobald nur die Fischer der Vitte dem Pastor melden, daß der Hering (der liebe Hering, wie sie ihn nennen, in demselben frommen Sinn, worin wir andern das liebe Brot zu sagen pflegen) sich spüren lasse, was denn gemeiniglich zu Ende des August, oder zu Anfang des September der Fall ist, so wird der Anfang der Ufergottesdienste der Gemeinde angekündigt für den nächsten Sonntag, worauf sie denn an acht auf einander folgenden Sonntagen gehalten werden, und zwar so, daß der Pastor der Gemeinde die erste und die letzte Predigt hält, die sechs mittlern aber dessen Diaconus. Es versammelt sich das Volk zu zwey Uhr Nachmittags in einem hochgelegenen Thale oberhalb der Vitte, ganz nahe dem Meer, und unfern der Uferspitze Arkona. In der Mitte des Thales neben dem alterthümlichen Stein sitzt oder steht der Lehrer, ihm zur Rechten sind die Frauen, die Männer links. Angesichts der Versammlung wogt das Meer, und jenseit[28] seiner blauen des romantischen Jasmund waldbedeckte Gestade; da dann die Herrlichkeit der Landschaft, die stille Größe der umgebenden Natur, die rings umher ausgebreitete Unermeßlichkeit des weiten Himmels und des offenen Meers nicht ermangeln, auch ohne des Lehrers Wort und den feierlich schallenden Psalm der Gemeinde zu tiefer Rührung und ehrfurchtsvoller Andacht zu stimmen .... Daß ich eine so schöne Sitte nicht werde haben außer Gebrauch kommen lassen, daß ich vielmehr dieselbe mit Liebe gepflegt, und mit Sorgfalt ausgebildet haben werde, wird man mir ohnschwer zutrauen. Es ward dann auch, sobald nur bekannt geworden, daß die Ufergottesdienste jetzt ihren Anfang nehmen würden, gewallfahrtet zu uns, zur Vitte und demnächst gen Arkona, aus allen Gegenden der Insel, und von dem Continente selber; also daß mir zum öftern begegnet ist, die Majestät des Ewigen hier, in dessen, von ihm selbst erbautem Tempel vor ganzen Scharen andachttrunkener Anbeter zu predigen und zu preisen.2[29]

Daß inzwischen solche Andachten im Freyen auch mancherley Unbequemlichkeiten ausgesetzt seyn, wird jedem beyfallen. Die bedeutendste freilich war die, daß in Folge der spätern Jahreszeit, bis zu welcher[30] die Alten unsre Uferdienste verschoben hatten, und wo, in diesen Climaten zumal, die Witterung bereits wandelbar und abhold zu werden anfängt, durch dicke Nebel, reissende Stürme und herabstürzende Regengüsse nicht selten unsre Andacht gestört, auch wohl zu Zeiten die Feyer gänzlich vereitelt wurde. Wir pflegten in solchen Fällen in eine der geräumigern Hütten des Dorfes zu flüchten, innerhalb deren morschen Wände zusammengedrängt, wir unsere Erbauung sodann auf eine zwar minder feyerliche, jedoch um so herzlichere und vertraulichere Weise wahrnahmen. Als aber diese am Ende gar baufällig ward, und über uns zusammenzustürzen drohte, blieb nichts übrig, als für ein andres Obdach zu sorgen, oder es war zu fürchten, daß der Mangel eines solchen, trägern Gemüthern zum Vorwand dienen möchte, die löbliche Sitte überall aufhören zu lassen. Um dem zuvorzukommen, nahm ich Gelegenheit, dem König, meinem leutseligen Beförderer, als er nach seiner Heimkunft aus dem südlichen Deutschland sich mehrere Monden bey uns aufhielt, die Lage der Sache vorzustellen, und zugleich anzugeben, wie jenen Unbequemlichkeiten abgeholfen werden möge. Der König genehmigte alles. Er erlaubte mir nicht nur, auf seinem Grund und Boden, in der Nähe des geweihten Thales, ein anständiges Bethaus, das bey einfallender schlimmer Witterung die Versammlung aufnehmen könne, errichten zu lassen;[31] sondern befahl auch seiner Pommerschen Regierung, alles zu solchem Bau erforderliche Holz an Eichen und Fichten aus seinen Waldungen mir unentgeldlich zu liefern; wogegen mir dann freilich heimgestellt blieb, zur Bestreitung der übrigen, noch immer sehr bedeutenden Ausgaben aus andern Quellen Rath zu schaffen. Welche andre blieb mir übrig, als die Freygebigkeit gottliebender Gemüther! Ich beschloß dann eine Subscription zu eröffnen, schrieb die Einladung, sandte meine Blätter in alle Welt, und nicht leicht ist eins derselben leer zu mir zurückgekommen. Mehrere deutsche Fürsten (namentlich der König von Sachsen, die Königin von Baiern, der verstorbne ehrwürdige Großherzog von Baden, der Herzog von Weimar) mehrere unsrer Städtischen Gemeinden, die von Stralsund, Greifswald und Wolgast, die Landes-Universität, das hochwürdige Ministerium der Stadt Hamburg, einige Maurerlogen, eine Menge Privatpersonen endlich aus der Nähe und Ferne unterzeichneten sich, die Einen mit größern, die andern mit mindern Summen. Ungesäumt schritt ich zum Werk. Die Bäume wurden gefällt, das Holz angefahren, der Platz bereitet, Quarz- und Granitblöcke gesprengt ohne Zahl. Als es am Hafsand fehlte, dessen man hiesigen Ortes zu einem tüchtigen Mörtel nicht glaubt entbehren zu können, begegnete, was nicht begegnet war bey Menschengedenken. Drey Tage und drey Nächte[32] stürmte es aufs allerheftigste aus dem Nordost. Die furchtbar angeschwollnen Gewässer drangen tief hinein in die Buchten des Landes. Als es endlich wieder stille geworden, und die Gewässer abgeflossen waren, lag siehe! unermeßlicher Sand vom schönsten und reinsten Korn in ganzen Bänken abgesetzt am Fuß grade derjenigen Anhöhe, auf welcher das Bethaus erbaut werden sollte. Voll Freude kamen die Fischer des Dorfs, mir dies erstaunenswürdige Ereigniß anzukündigen. Eiligst versammelte ich eine Menge von Menschen, die mir den Sand auf die Höhe schaffen sollte, damit die See den Schatz, den sie mir geschenkt, mir nicht etwa wieder rauben möchte. Es war jedoch des Sandes so viel, daß zur Noth eine Egyptische Pyramide damit hätte aufgemauert werden mögen; auch meinten die Leute, daß es des Schaufelns nicht bedürfe, indem, was seit hundert Jahren nicht geschehn sey, vor Verlauf der nächsten hundert Jahre schwerlich wieder geschehen dürfte. In der That diente dieses denk- und dankenswürdige Ereigniß nicht nur des Unternehmers Muth zu stärken, sondern auch zu entzünden den Eifer der Einwohner. Das ganze Land verpflichtete sich nun, Fuhren und Handdienste zu leisten. Ein lichtes geräumiges Achteck wurde errichtet. Die Mauern wurden aufgeführt aus den gesprengten Blöcken, auf die Kuppel ward ein eisernes Kreuz gepflanzt, über dem, in den Ost und auf das Meer sich[33] öffnendem Eingang ein Marmor eingefügt, auf welchem in Goldschrift zu lesen sind des letzten Psalms letzte Worte: »Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Hallelujah!« So weit war das Werk gediehn. Der Körper desselben vollendet; die innere Ausrüstung nur fehlte noch. Sie fehlt noch immer. Der Krieg entbrannte. Die Feinde nahmen das Land. Die noch rückständigen Beyträge blieben aus. Unser Geld ward alle. Einstweilen ist denn doch die Gemeine gedeckt für den Nothfall. Die Vollendung harret besserer Zeiten.

Es machten aber die kirchlichen Arbeiten nur den geringern Theil meiner Berufsgeschäfte. Der Pfarrherr zu Altenkirchen ist zugleich ein Vasall der Krone. Er ist belehnt vom König mit dem Marktflecken Altenkirchen und dessen gesammtem Weichbilde, also und dergestalt, daß, einige wenige Familien ausgenommen, die als sogenannte Kronleute in der Mitte der Uebrigen in einer wahren Ecclesia pressa leben, die sämmtlichen Einwohner des Orts nach dem Ausdruck des Gesetzes »ihm zu eigen angehören sammt allen Diensten und Gerichten.« Sie wohnen auf seinem Grund und Boden; sie steuern ihm für ihre Woorthen und Gärten; sie müssen sich vergleichen mit ihm für die Verschonung mit der Leibeigenheit; sie sind ihm verpflichtet zu Hof-, Hand- und Nebendiensten. Sie sollen dem Grundherrn mit ihrem Handwerk arbeiten[34] vor andern. Auswärts zu dienen ist ihren Söhnen und Töchtern nur dann erlaubt, wenn man ihrer Dienste auf der Wedem nicht begehrt. Wozu noch kommen die Gerechtsamen des Vorkaufs, der Verläteltonne, der Abzugsgelder, des zehnten Pfennigs, und manche andre, welche sich herschreibend aus dem Zeitalter des Feudalism, theils außer Gebrauch gekommen sind, theils noch heute gelten. In Betracht so vielfältiger Beschränkungen sollte man glauben, daß die Angehörigen des Pastorats weder ihrer Personen noch ihres Eigenthums mächtig gewesen wären. Allein das Eine soll seyn, das andere ist. Auch hier bewährte sich die alte Erfahrung, daß unterm Krummstabe gut wohnen sey. Diese meine getreuen Untersassen, die ohne des Lehenträgers Wink und Willen in Folge des Gesetzes sich kaum hätten rühren sollen, gehuben und gebehrdeten sich, als die Freyesten und Ungebundensten im Lande. Sie zahlten mir, so viel ihnen gerade bequem fiel, gehorchten mir, in so weit es ihnen gut däuchte, und thaten im Grunde alles, was ihnen wohlgefiel. Es war dies Völkchen von Alters her im Ruf der Störrigkeit, Rechthaberey, Proceß- und Zanksucht; und ich muß bekennen, daß ich nur wenige frey gefunden von diesen Unarten. Die Ehezwiste, die Injurienklagen, die Streitigkeiten zumal über Scheiden und Gränzen (die verwirrtesten und unausgleichbarsten von allen) nahmen kein Ende.[35] Diese Menschen waren im Stande, um einen Pflasterstein, einen Eckpfosten, einen Düngpfuhl, der vielleicht um wenige Zolle hinausgerückt seyn mochte, zu hadern mit einer Wuth, Hartnäckigkeit und Erbitterung, als gölte es Hab' und Gut, Leib und Leben, Seel' und Seligkeit. Daß es an einzelnen rohern Naturen nicht gefehlt haben werde, an verdorbnen Hauswirthen, habituellen Trunkenbolden, an losem Gesindel endlich, das nicht abließ, sich bey uns einzunisteln, so strenge ich es auch verboten, läßt sich denken. Wenn nun an Sonn-und Feyertagen zu Abend die Schenken sich füllten; wenn bey Hochzeiten und Leichenbegängnissen die Ausrichtungen im Orte selbst gegeben wurden; in den Jahrmärkten vor allen, wenn die Bevölkerung des ganzen Landes zusammengedrängt war in einem Bezirk von wenigen Quadratruthen; so bedurfte es wirklich keiner geringen Kraft des Gleichgewichtes und der Selbstbeherrschung, um die weltliche Autorität geltend zu machen auf eine solche Weise, daß nicht etwa die geistliche Würde dadurch möchte gefährdet werden. Es war unbequem in dieser Hinsicht, obgleich in anderm Betracht wieder über die maßen erfreulich, daß es im ganzen Lande weder ein Gefängniß gab, noch einen Stockmeister, weder Schaarwächter noch auch einen einzelnen Häscher. Da nun auch die Nachbarn sich viel zu gut hielten, die Stelle der Letzten zu vertreten, so blieb, wenn es[36] etwa galt, einen Tumult zu stillen, oder einer Schlägerey zu steuern, oder einen Unruhstifter über Seite zu bringen dem geistlichen Herrn nichts übrig, als selbst Hand anzulegen, worauf denn auch die Nachbarn nicht länger Bedenken trugen, mit zuzugreifen. Es steht zu lesen in den Chroniken des Landes, daß ein Pfarrherr des siebenzehnten Jahrhunderts, der eben auch Grund-und Gerichtsherr gewesen, allzeit seinen Knotenstab mit auf die Kanzel genommen; wenn nun die Bauern unten im Schiff der Kirche allzulaut geworden, und seine mündlichen Vermahnungen nicht hätten anschlagen wollen, sey er einstweilen hinabgestiegen, habe den Frieden mit dem Stabe wieder hergestellt und sodann seinen Vortrag ruhig zu Ende gebracht. Wenig fehlte und ich wäre bisweilen in den Fall gekommen dasselbe thun zu müssen; wenn nicht in der Kirche, so doch in den Gast- und Trinkstuben. Die große Ehrerbietung, welche diesem Volke eingepflanzt ist für seine Lehrer und Seelsorger, als die ihnen eine Art geheiligter und unverletzlicher Personen zu seyn bedünken, kam mir zu statten in Fällen dieser Art. Es ist mir wohl eher begegnet, daß, wenn ich etwa plötzlich gerufen ward, um Mord und Todschlag, wie es hieß, zu steuern, und nun in die Stube trat voll taumelnder stürmischtobender Menschen, augenblicklich eine allgemeine Stille ward, die Reihen sich öffneten, demnächst hinter mir sich wieder zusammenschlossen;[37] man würde aus großer Begierde, mich zu sehn und zu hören, mit allem ersinnlichen Respect mich am Ende gar erdrückt oder erquetscht haben, wenn ich nicht die Partey ergriffen hätte, auf den Tisch zu steigen, und von solcher Tribune herab meine Mahnungen und Verweise auszuspenden. Allezeit ist mein bloßes Erscheinen hinlänglich gewesen, den Tumult zu stillen, und nie ist man auch nur mit einem Wort oder einer Gebehrde der Ehrerbietung, die man dem Seelsorger schuldig zu seyn glaubte, zu nahe getreten.

Diese Menge der weltlichen Händel diente freilich nicht, die Annehmlichkeiten meines Platzes zu erhöhen. Sie stimmten wenig zu meinem Hange zum ruhigen contemplativen Leben, und wurden überdieß für mich, was sie für meine Vorfahren gewesen, ein nieversiegender Quell des Verdrusses, der Verantwortlichkeit, und selbst des Aufwandes. Eben die Nähe und Unentgeltlichkeit der Rechtspflege reizte die Rechthaberey der Leute. Es durfte nur eine Dienstmagd eine Mezze gescholten seyn von ihrer Gesellin, so kam sie und verlangte einen Gerichtstag. Freilich schlichtete ich die meisten Händel ohne große Weitläuftigkeit unter vier oder sechs Augen. Allein ich hatte mich doch auch dabey wohl vorzusehn; zumal, wenn es Erbschichtungen galt, Auseinandersetzungen, Verträge, die das Mein und Dein betreffen, Verlassungen, Curatelen, Vormundschaften[38] und ähnliche Dinge. Wozu noch kam, daß innerhalb meines beschränkten Weichbildes, in Folge dessen, daß dreyerley Classen von Leuten darin wohnten, auch dreyerley Recht galt, Kaiserrecht Lübsches Recht, Bauerrecht; nicht zu gedenken des Herkommens, das noch ein Ueberbleibsel war des uralten Rügischen Landgebrauchs, der meines Erachtens wohl verdient hätte beybehalten zu werden, weil er, der hervorgegangen war aus der Natur des Bodens und des ihn bewohnenden Volks, zu den Oertlichkeiten am besten paßte. Bey solcher Gestalt der Dinge war mit dem schlichten Menschenverstande, und dem natürlichen Billigkeitsgefühl hier nicht immer auszureichen. Kein Rechtsgelehrter befand sich in der Nähe, den ich hätte zu Rathe ziehn können. Mein Justitiarius wohnte in Bergen, drey starke Meilen jenseit des Wassers. Keine ordentliche Post reiste zwischen dort und hier. Wohl sandten wir wöchentlich einen Fußboten hin, um Briefe und die Zeitungen abzuholen, was aber für die Bedürfnisse des Augenblicks nicht genügte. Waren die Geschäfte nun gerade nicht sehr verwickelt, so beschied ich die Parteien vor, berief ein paar verständige Nachbarn als Zeugen, dictirte das Protokoll in die Feder, dem Lehrer meiner Kinder etwa, oder dem Wundarzt des Orts, oder dem Cantor; am Ende ward das Protokoll aufgelesen, und, nachdem die Parteien dessen Richtigkeit erkannt, von mir und den Zeugen unterschrieben[39] und untersiegelt, dann aber ins Archiv gelegt, um, wenns Noth that, auf dem nächsten förmlichen Gerichtstag solennisirt zu werden. Ein solcher Gerichtstag war ein Tag großer Unruhe und nicht geringen Aufwandes. Tags vorher schon fand der Justitiarius sich ein für meine Rechnung. Die Herren des Landes, die zu Beysitzern erbeten worden, erschienen mit großem Gepräng und Gefolge. Nachdem nun die Parteyen sich eingefunden und gefrühstückt worden, ward das Gericht eröffnet. Der Grund- und Gerichtsherr präsidirte. Die Parteyen rechteten entweder in Person oder durch ihre Sachwalde. Die Beysitzer sagten ihre Meinung. Das Urtheil sprach Namens des Grundherrn der Justitiarius. Von dem Pastoratgericht galt die Berufung an das Landgericht, vom Landgericht an das Hofgericht, von diesem an das Oberappellationsgericht, von diesem an den jüngsten Tag. Mitunter haben wir die Acten auch verschickt, und die Urtheile sprechen lassen von auswärtigen Facultäten, der Rostockschen zumahl, deren Urtheile an Gründlichkeit der Motive, Schnelligkeit der Entscheidung, auch Billigkeit der Kostenrechnung nichts zu wünschen übrig ließen. Wir faßten übrigens die Gelegenheit am Schopf. Eine Menge Geschäfte wurden abgemacht an Einem und demselben Termin; und weil wir gern fertig seyn wollten, der Rechtsfreund auch selten Ueberfluß an Zeit hatte, so haben wir bisweilen[40] zu Gericht gesessen von früh zehn Uhr bis zwey Uhr nach Mitternacht; was uns schwerlich irgend ein Gerichtshof nachthun möchte im ganzen Römischen Reich. Ich kenne deren, die aus Einem solchen Termin ihrer dreissig gesponnen, und zu dreissigmalen die Sporteln sich hatten zahlen lassen. Ich meines Theils nahm keine Sporteln, und auch die Bewirthung that mir niemand gut. Zwar waren zur Entschädigung die etwa zu erlegenden Bußen- und Strafgelder mir gesetzlich zuerkannt. Allein ich hätte mich geschämt, solch Sündengeld zu nehmen. Ich steckte es in die Armenkasse, und habe das Recht gepflegt in meinem Volk sechszehn Jahre lang unparteiisch, unbeugsam und unentgeldlich.

Es war aber der Pfarrherr zu Altenkirchen nicht bloß seiner eignen Angehörigen Schiedsrichter und Berather; es hätten aus Gelegenheit der vielfältigen Verpflichtungen, worin solche mit den sämmtlichen übrigen Landeseinwohnern standen, auch diese nach und nach sich dazu gewöhnt, ihre Händel ebenfalls demselben geistlichen Richter vorzutragen, und sich zu beruhigen bey seiner Entscheidung. Seit undenklicher Zeit war die Altenkircher Wedem, wie die Leute sie nennen, das Hammonium oder Dodona des Landes gewesen. Wer nur irgend ein Anliegen hatte, wer etwa eines Rathes bedurfte, wer Fürsprache und Verwendung gebrauchte, wandte sich dorthin als[41] an die Quelle des Rechts, der Einsicht und der Hülfe. So kamen dann die Leute aus allen Gegenden des Landes. Klagende und Vertheidigende, Berichtende und Erkundigende, Hülfsbedürftige aller Art, die Geplagten und Gedrückten im Volk vor allen. Sie kamen zu allen Stunden des Tages, frühe, wenn ich mich so eben an den Schreibtisch gesetzt, Mittags, wenn ich mit den Meinigen über Tische saß, Abends, wenn ich etwa eben hatte anspannen lassen, um durch eine Spatzierfahrt an das Ufer mich zu erheitern; am häufigsten freilich dann, wann ich der Besuche mich am liebsten hätte überhoben gesehn, Sonnabends nämlich vor und und nach der Beichte, und Sonntags zwischen den Gottesdiensten. Wohl war mir eingefallen Anfangs, die Besuchenden zu beschränken auf gewisse Stunden des Tags, wo ich allen und jedem zugänglich seyn wolle, außer solchen aber nur dem, der meiner dringend bedurfte. In Erwägung jedoch, daß einem jeden sein Fall der dringendste bedünkt, und daß, welche Stunden mir die bequemsten wären, jenen leichtlich am wenigsten bequem seyn möchten, unterließ ich dieses. Zu rechter Zeit noch ward ich inne, daß meine Leute sich angewöhnt hatten, wenn nach ihrer Meinung des Ueberlaufens allzu viel wurde, die Kommenden fortzuschicken eignen Geheißes und nicht allzufreundlich, vorwendend, ich speise, oder ruhe, oder studire. Ich untersagte dies aufs ernstlichste; und indem ich mir einfür[42] allemal zum Grundsatz machte, keinen abzuweisen, jeden vorzulassen augenblicklich, abzumachen, was es irgend vertrug, auf der Stelle, nichts, was sofort entschieden werden konnte, zu vertagen, errang ich es, daß ich nicht nur zu allem, was vorfiel, Zeit gewann, sondern daß mir auch noch Muße übrig blieb zu Geschäften, die meiner Stimmung freilich inniger zusagten.

Von welcher Art diese letztern gewesen, daß ich Raum zu gewinnen gewußt, aller Abrufungen und Zerstreuungen ohngeachtet, nicht nur zu Fortsetzung und Erweiterung meiner Studien, sondern auch zur eignen Hervorbringung, beweisen die zahlreichen Schriftstellerarbeiten, die ich während meiner Rügischen Abgeschlossenheit zu Tage gefördert habe; Uebersetzungen die einen, eigne Erzeugnisse die andern; Werke mannigfaltigen Stoffs und Inhalts, theologische, philosophische, historische, philologische, am meisten freilich solche, die das dichtende Vermögen beschäftigen, und die Welt der Fantasie berühren. Es gab nämlich außer den einzelnen freyern Stunden, die ich jeden Tag mir zu sparen wußte, auch noch gewisse ruhigere Zeiten im Jahre, wo mir frey stand, mir selbst und meinem Genius ungestörter zu leben. Eine solche war die schöne Zeit der Ernte, wo alles in den Feldern lebte, und die Geschäfte anderer Art indessen ruhten; eine solche auch die Tiefe des Winters, wo die Strenge des Frostes die Leute in den Häusern hielt,[43] wo Schnee und Eis die Verbindungen erschwerten, wo, auch hiervon abgesehen, die Kürze des Tags die Besuchenden auf wenige Stunden beschränkte, also daß die langen Morgen und die noch längeren Abende mir gänzlich zu Gebote standen. Wer aber hat sich wohl nicht aufgeregt gefühlt, durch die begeisternde Stille der winterlichen Frühstunden, gegenüber der erquickenden Flamme im sanfterwärmten und beleuchtetem Gemach, während draußen der Schneesturm heult, und durch die noch schwarze Nacht die Raben kreischend fliegen! Wer wird nicht zurückgedrängt in sein Inneres durch das Enge, Bange, Beklemmende, was der winterlichen Jahrszeit eigen ist, durch die Abgestorbenheit der Natur selber, und das Ermatten des sinnlichen Lebens. Ich meines Theils fühlte erwachen in dieser Stille, in diesem Schweigen, während dieser feyervollen Ruhe alle schlafende Kräfte meines Geistes. Unwillkührlich tauchten die Schöpfungen herauf aus dem Abgrund des Innern. Wollte ich mich retten vor den mich verfolgenden Bildern, wollte ich Ruhe gewinnen vor der Gewalt der Erscheinungen, so mußte ich sie bannen durch Wort und Maß; oder ich wäre erlegen dem würgerischen Drang und der ungeletzten Sehnsucht.

Hat nämlich jemals jemand aus innerer Nothwendigkeit gedichtet, so ist es der Verfasser dieses Buchs. Ich bin geboren und aufgewachsen in einer Gegend unsers[44] deutschen Vaterlandes, die mehr das materielle Leben zu begünstigen taugt, als das ideale. Man hat mich großgefüttert mit schlichter hausbackener Prosa. Von den Menschen, die mich umgaben, war keiner jemals vom heiligen Geist der Dichtkunst angeblasen worden. Auch späterhin sind meine Lebensverhältnisse meistens solche gewesen, die mehr gedient, die geistigen Fittige zu lähmen und zu fesseln, als sie zu lösen und zu stärken. Es fehlten mir die Muster. Es mangelten die Mitbeeiferer. Es gebrach an jedem Anstoß von Außen. Selbst die Alten habe ich viel später gelesen, als es zu geschehen pflegt; Homer im zwey und zwanzigsten Jahr, Shakespear, Milton, Tasso und die andern noch später. Desto früher freilich die Bibel und den Kaiser Octavian! Diese haben die Fantasie des Knaben aufgeregt. Den Sinn für Wohllaut, Maß und Rhythmus weckten mir die alten Kirchengesänge, die Romanzen, welche die Mägde sangen, wenn sie spannen oder melkten, demnächst die pathetischen Helden- und Trauergesänge der unvergleichlichen Asiatischen Banise, oder des blutigen und muthigen Pegu. Wenn ich noch jetzt mir wiederhole des sterbenden Prinzen heroischen Todesgesang: Ich sterbe, Weil das Verhängniß spricht! Die Gruft ist Thron und Erbe. Ich sterbe! und den noch schönern Schwangesang der untergehenden Banise; jenen rührenden Anfang zumal: Sollen[45] nur die grünen Jahre Und der Unschuld Perlenkleid Auf die schwarze Todtenbaare In die dunkle Ewigkeit; so stürzen noch itzt nach fast funfzig Jahren dieselbigen bittersüßen Thränen mir in das Auge, von welchen ich überschwemmt, gebadet, fast ertränkt mich fühlte, als diese melodischen Töne, in welchen zugleich die wahrsten Empfindungen und die würdigsten Gesinnungen ausgesprochen wurden, das erstemal mein inneres Ohr berührten. So hat denn der überaus absprechenden Umgebungen ohngeachtet, der göttliche Funke gleichwohl frühe in mir gezündet, und alle Wasserfluthen, welche die Prosa späterer gleich ungünstiger Lebenslagen auf ihn herabzustürzen, nimmer aufgehört, haben ihn weder auszulöschen, noch zu dämpfen vermocht. Wie schildert doch der nun auch hinübergegangne, aber uns unvergeßliche Wandsbecker Bote uns seinen Dichter: »Ich stelle mir den Dichter vor, schreibt er, als einen schönen weichherzigen Jüngling, der zu gewissen Zeiten plethorisch wird, so desperat, als wenn unser einen der Nachtmoor reitet; und dann tritt ein Fieber ein, das den schönen weichherzigen Jüngling heiß und krank macht, bis sich die Materia peccans in eine Ode, Elegie oder deß etwas secernirt, und wer ihm zu nah kömmt, wird angesteckt ....« Dieser Jüngling war ich. Man darf nur lesen die Melancholieen, die Thränen und Wonnen, die Naturgesänge zumal[46] und die Darstellungen innerer Zustände; und man wird wehmüthig lächeln der gewaltsamen Anstrengungen, womit der tiefbewegte Jüngling sich auszusprechen strebt, wie er sich zerarbeitet, los zu werden des Drangs, der ihn quält, und die in seinem Innern gährende Welt zu gestalten und zu bilden.


Vereidet keiner Schule, keiner Rotte

Verkauft um schnöden Hohn und feiles Lob,

Gehorchend einzig dem gewalt'gen Gotte,

Wagt' ich zu singen, was die Brust mir hob.

Die Katarakte schoß den Felshang nieder;

Rauh klangen, herzlich doch des Jünglings Lieder.


Gezündet durch das Heilige und Hohe

Entstoben Funken der verborgnen Glut;

Das Schlechte nur, das Niedrige und Rohe

Verschmähte zürnend die geweihte Wut.

Ich sang die Liebe meiner Rosenjugend,

Gott, die Natur, die Schönheit und die Tugend.3


Aber auch späterhin, auch in den Jahren der Reflexion und der Besonnenheit habe ich gedichtet nur dann, wenn ich es nicht lassen konnte. Des Ehrensoldes der Buchhändler bedurfte ich nicht. Eine lästige Celebrität mir zu ersingen, lockte mich nicht. Die Langeweile mir zu kürzen, schreibend oder hervorbringend, that auch nicht noth, da die Beschäftigungen andrer[47] Art mir nicht fehlten. Ich dichtete, weil ich nicht umhin konnte, also zu thun; weil die mich treibende Unruh nicht anders beschwichtigt, die in mir lechzende Sehnsucht nicht anders geletzt werden konnte, als durch die Hervorbringung eines Dichterwerks. Der Gedanke zu einem solchen kam mir, wie durch Eingebung. Das Ganze stand vor mir Eines Schlages. Die Personen, wie sie leibten und lebten, die Handlung, wie sie stund und ging, die Orte, die Zeiten, die Umgebung, es machte sich alles von selbst. Einzelne Massen traten hervor aus dem Ganzen; Partien, die ihrer Natur nach erst später erscheinen durften, drängten sich bisweilen in den Vordergrund, und mußten beseitigt seyn, ehe mir vergönnt ward das Frühere nachzuholen. Da nun auch die Maße und Rhythmen sich gar willig fugten, da ganze Reihenfolgen von Versen zugleich mir vor die Seele traten, so hatte ich die äußerste Noth nur, alles niederzuschreiben; fest zuhalten, was mir durch die Seele blitzte, und was zu verschwinden drohte, ehe ich Zeit gewonnen, es zu fixiren. Auch vermochte ich weder zu essen noch zu schlafen in solchen Zuständen. Ich war abwesend in der Mitte der Meinigen, und der uns etwa besuchenden Fremden. Ich fuhr fort zu dichten wachend und träumend, während der Mahlzeiten, während der gesellschaftlichen Unterhaltungen, und während der kirchlichen Verrichtungen selber. So ist Jucunde geworden. So die [48] Inselfahrt. So auch die romantischen Dichtungen, sammt neun Zehentheilen der lyrischen Gesänge.


Eine Folge dieser Art zu arbeiten war, daß ich allzuschnell nur fertig ward. Die fünf Eklogen der Jucunde sind in eben so vielen Tagen entstanden; die sechs der Inselfahrt in nicht mehrern. Ida von Plessen ist innerhalb funfzehn Tagen geschrieben. Halb so lange hat Bianca del Giglio mich beschäftigt; etwas länger Adele Cameron. Ida von Plessen ist, wie im Rausche gedichtet. Bianca, heilige Begeisterung athmend, bedarf nur einiger Nachhülfe, um unter den romantischen Kunstwerken der Nation eine ehrenvolle Stelle einzunehmen. Adele, überlegen ihren Schwestern, was die Ruhe und Selbstbesonnenheit anlangt, weicht ihnen gleichwohl nicht an inniger Empfindung und Lebendigkeit der Fantasie. Ich hatte einen vollständigen Cyclus solcher Dichtungen entworfen, worin ich nach und nach die mannichfaltigen Erweisungen unsers tiefsten und edelsten Gefühls darzustellen dachte. Nur drey davon sind erschienen; Ida, deren Thema die Liebe der Natur ist; Bianca, welche die Liebe der Gottheit darstellt; Adele, welche die Liebe der Heimath schildert. Guy und Yseule, die bräutliche Liebe zu malen bestimmt, und in der Zeit der Kreuzzüge spielend, sind unvollendet geblieben;[49] ungeboren die beyden rückständigen, in welchen ich die kindliche Liebe und zuletzt die Freundschaft zu verherrlichen mir vorgenommen. Das Verhängniß, das meinen ganzen Lebensgang aus seinen Gleisen warf, hat auch diesen Kranz zerrissen.


Aber auch das folgte aus der Art und Weise, wie ich zum Dichten aufgeregt wurde, und aus der Willkührlosigkeit, womit ich dem mich leitenden Genius mich überließ, daß, wenn nun das Werk vollendet war, ich mich nicht weiter darum bekümmerte. Vorzunehmen hinterher das Ganze, es zu berichtigen und daran zu bessern, zu streichen, zu ergänzen, zu brauchen die Feile und den Bimsstein, war mir nicht gemüthlich. Zufrieden, das Gleichgewicht in meinem Innern wieder hergestellt zu sehn, legte ich hin, was ich hervorgebracht und ließ es ruhen. Es sofort gedruckt zu sehen, drängte mich im geringsten nichts. Nicht eher, als wenn etwa irgend einer von Deutschlands dreyhundert Buchhändlern bey mir anfragte, ob ich ihm nicht einige Handschrift zu überlassen habe, fiel mir ein, meine Vorräthe zu mustern. Ich gab dann hin, was ich gerade vorfand, und um den Preis, der mir gerade geboten wurde. Um die Aufnahme des Werks sorgte ich nicht sonderlich. Die Literatur-Zeitungen las ich nicht, habe auch von den Urtheilen der Kunstrichter, die meistens ungünstig ausgefallen,[50] auch in Betracht der gänzlichen Vernachlässigung aller Correctheit, die ich mir zu Schulden kommen lassen, nicht füglich anders ausfallen konnten (Schiller und Herder haben nicht aufgehört, deshalb mit mir zu keifen, so wie früherhin Boje und Bürger; allein es half blutwenig), gemeiniglich erst lange nachher, und zu einer Zeit gehört, wo es längst zu spät gewesen, ihre Weisungen zu benutzen. Aus den wiederholten Auflagen, die mir abgefodert wurden, so wie aus den stufenweise gesteigerten Honorarien, welche mir die Buchhändler boten, konnte ich gleichwohl abnehmen, daß meine Schriften gelesen wurden. Es ward mir bestätigt durch die Briefe, womit ich erfreuet wurde von lieben Unbekannten aus der Nähe und Ferne. Die mit jedem Jahr sich mehrenden Besuche wackerer und zum Theil vortreflicher Menschen, so Frauen als Männer, aus allen Strichen Deutschlands, liessen mich nicht daran zweifeln.


Diese Besuche entschädigten uns in der schönen Jahrszeit für die lange und strenge Abgeschlossenheit unsrer Winter. Von Pfingsten bis zum Spätherbst war unsre Insel übersäet mit Reisenden und Pilgern, welche zu uns hergezogen worden durch mancherley Motive, und zu mancherley Zwecken. Die Einen kamen, das Land zu sehn, die andern die Menschen, die im Lande wohnten. Die Einen fühlten sich angelockt[51] durch die romantische Natur unsrer Siten, die andern durch die geologische und antiquarische Merkwürdigkeit des Eilands. Die neugestiftete Brunnen- und Badeanstalt zu Sagard auf Jasmund vermehrte den Zuspruch. Auch die Nähe des Dobberaner Seebades half dazu, indem viele der dort Badenden nach geendigter Curzeit einen sogenannten Abstecher machten, um doch auch einmal die Insel Rügen zu sehn. Durch die Umgebung des Meers, das von allen Seiten in das Land hineintritt, dasselbe in eine Menge Inseln und Halbinseln zerschneidet, und überall Erdzungen, Meerengen, größere und kleinere Busen und Buchten bildet, gewinnt unser sonst schlichtes und meistens flaches Eyland, das, wenn es auf das Pittoreske und Romantische ankommt, sich im Geringsten nicht messen darf mit den Rhein- und Elbgegenden, weniger noch mit Deutschlands südlichen Paradiesen, in der That einen ganz eigenthümlichen Charakter, also daß Reisende, die ganz Europa gesehn, mich versichert haben, es sey ihnen bey uns zu Muthe gewesen, wie nirgend, und sie würden von unsern Buchten, Ufern und Ansichten einen unauslöschlichen Eindruck mit von hinnen nehmen. Putbus, der Rugard, die Prora, der Herthawald, die Stubbenkammer, Arkona waren die Punkte, die gewöhnlich bereiset wurden, wogegen die Halbinsel Mönchgut, und die Insel Hiddensee, welche gleichwohl ebenfalls einer ganz abweichenden und ihnen[52] eigenthümlichen Natur sich erfreuen, meistens vernachlässigt blieben. Von Arkona aus ward dann gewöhnlich eingesprochen in unsrer stillen Wohnung; man ruhte unter unsern Bäumen; man lustwandelte in unsern Gärten; man erquickte sich an unserm harmlosen Seyn, und freute sich unsrer idyllischen Lebensweise. So sind Fremde bey uns gewesen aus allen Gegenden Deutschlands, am meisten aus Meklenburg, Holstein, Preussen, Sachsen, Schlesien und Lausitz; aus Berlin, Hamburg, Dresden, Breslau; weniger aus dem Süden und vom Rhein her; Menschen jeden Standes und Berufes, Dichter und Künstler, Kaufmann und Krämer, Priester und Levit, Schriftsteller, Kriegsmänner, Feldherren, Prinzen. Die Besuche mehrten sich mit jedem Jahr und wurden zumal häufig in denen Sommern, welche zunächst vorausgingen dem Umsturz unsers und des allgemeinen Wohlstandes. Ich erinnere mich einzelner Tage, wo die reisenden Caravanen einander drängten, wo die erste kaum Abschied genommen, als die zweyte, dritte und vierte sich schon wieder melden liessen, wo nicht bloß unsre Wohnung, wo auch die Gärten und das ganze Gehöft wimmelten von Fremden, die sich zusammentrafen in meinem entlegenen und demüthigen Landsitz aus Deutschlands veschiedenartigsten Provinzen; also daß ich manchem mich überall nicht habe mittheilen können, manche davon gereiset sind, ohne daß ihr Name mir bekannt geworden,[53] oder ein dauerndes Bild von ihnen mir geblieben wäre. Mit vielen edlen Menschen bin ich in Folge dieser anmuthigen Zusprechungen verbunden worden durch die Bande der Gastfreundschaft und wechselseitiger Achtung, welche zu zerreissen weder der Wuth des Parteygeistes bis itzt gelungen ist, noch wird solches in Zukunft gelingen den Lästerungen, welche fanatisirte Afterredner gegen mich auszuschäumen sich immerfort erfrechen. Denn eben zu diesem Zwecke wird dieses Buch geschrieben.

Fußnoten

1 Dieser meiner Erfahrungen mich erinnernd, schrieb ich an den berühmtesten Kanzelredner unsers Landes das Gedicht, was man finden wird unter den Beylagen dieses Buchs. (No. 5.) Ohne allen Zweifel sind diejenigen die rechten Prediger, welche vergessen werden über der Predigt selber. Nicht die sind es, welche den Hörenden hinreissen, zur Bewunderung ihres Talentes und ihrer Kunst, ihrer Diction, Action und Declamation; sondern, welche ihn an die Brust schlagen machen und sprechen: Gott sey mir Sünder gnädig! oder: O Abgrund der Erbarmungen Gottes! oder: Ich glaube Herr; hilf du meinem Unglauben; oder: Amen, ja! komm Herr Jesu! ... Jenes Gedicht übrigens hat um mich her nur Kopfschütteln hervorgebracht, oder Achselzucken, oder stummes Befremden. Ein Einziger nur ist gekommen, sobald er es gelesen, und hat mir mit Innigkeit dafür die Hand gedrückt. Von denen aber, die draussen sind, (wie wir zu reden pflegen; wiewohl ihrer Manche dem Allerheiligsten leichtlich näher stehen dürften, als die sich drinnen wähnen) hat eine ganze höchst verehrungswürdige Kirche mir ihre Zufriedenheit mit demselben bezeugen lassen durch einen ihrer Boten.


2 Freilich aber sind es auch nur die eigenen Empfindungen, welche, »dem ehrwürdigen Pfarrer von Medow« da er nun auf demselben Platze den Mund aufthun soll, von mir in die Seele gelegt werden, im dritten Gesange der Jucunde:


Aber als jetzt der Gesang erstummt' und Schweigen im Thal war,

Als von dem Sitz sich erhob der andachttrunkene Lehrer,

Als er gedrängt umher wahrnahm die lauschenden Scharen,

Als er senkte den Blick zum Thal hinaus in den Osten,

Als er gewahrte die Hütten des Dorfs zerstreut in der Strandschlucht,

Ueber die Schlucht hinaus des Golf wildtobende Fluten

Jenseit des tobenden Golf blaudämmernd Jasmund Gestade;

Als er schaut' umher die prangenden Häupter der Berge,

Ueber den Häuptern der prangenden Höhn des wölbenden Himmels

Lautern Lasur, durchflammt von der Sonn' unendlichem Glutball;

Als er vernahm zugleich das Rauschen der See und der Brandung

Dumpfes Geläut, durchbrüllt vom Gewieher der Roß' und der Rinder ...

Schlug ihm das Herz in beklommener Brust. Es versagte die Kraft ihm

Den zu loben, ein sündiger Mensch, mit stammelnder Zunge

Welchen gewaltiger schon der erschütternde Psalm der Natur preis.

Doch er ermannte sich, und sprach die geflügelten Worte u.s.w.


Dichtungen B. 1. S. 136 etc.


3 Dichtungen, Band VI. Seite 9.


Quelle:
Kosegarten, Ludwig Gotthard: Geschichte seines fünfzigsten Lebensjahres. Leipzig 1816, S. 54.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon