[173] Es war vier Uhr nachmittags am 15ten Junius, als wir Kurgan zuerst erblickten. Ein einziger unansehnlicher Turm ragte aus einer zerstreuten, noch unansehnlichern Gruppe von Häusern hervor. Das Städtchen lag an dem jenseitigen, etwas höheren Ufer des Tobol und war von einer kahlen Steppe umgeben, die sich überall einige Werste lang bis an die mit Wald bekränzten Anhöhen zog und von einer großen Menge kleiner schilfreicher Seen durchschnitten wurde. Das eingefallene Regenwetter trug nicht dazu bei, den Anblick freundlicher zu machen. Der Name Kurgan, der eigentlich einen Grabhügel bedeutet, dünkte mich schon längst eine Weissagung meines Schicksals. Mit beklemmter Brust und trübem Blick sah ich das Ziel überstandner und den Anfang neuer Leiden vor mir liegen; und da wir durch die Überschwemmung der Steppe genötigt waren, uns dem Städtchen nur sehr langsam und in unaufhörlichen Krümmungen zu nähern, so hatte ich Zeit genug, mein offnes Grab von allen Seiten zu betrachten.
Unter dem Haufen hölzerner Hütten, die sämtlich nur von einem Stockwerke waren, ragte ein einziges steinernes, ziemlich geschmackvoll erbautes Haus – an dieser Stelle ein Palast – hervor. Ich erkundigte mich nach dem Eigentümer; und man nannte mir einen gewissen Rosen oder Rosin, vormaligen Vizegouverneur von Perm, der in dieser Gegend Güter besitze.
Der seltsame Geschmack, sich in diesem öden Erdwinkel Güter anzukaufen, konnte mich eben nicht lüstern nach seiner Bekanntschaft machen. Indessen klang sein Name doch so deutsch; wenigstens durfte ich vermuten, daß er[174] von deutscher Abkunft wäre. Auch war der Name meinem Herzen seit vielen Jahren teuer; er erinnerte mich an meinen alten braven Freund, den Baron Friedrich Rosen und seine vortreffliche Gattin, meine zweite Mutter: ein edles Paar, das schon so manche meiner bangen Lebensstunden erheitert hatte und nun sogar in einer der bängsten durch den bloßen Klang seines Namens mir aus der Ferne Trost zurief.
Nach manchen labyrinthischen Krümmungen gelangten wir endlich an eine sonderbare schwimmende Brücke, die bloß aus zusammengebundenen einfachen Balken bestand, welche diesseits und jenseits am Ufer des Tobol befestigt, übrigens aber ein Spiel der Wellen waren. Natürlich drückte jedes Fuhrwerk sie tief ins Wasser, und man mußte sehr aufmerksam vor sich hin sehen, um die Brücke, da wo sie den Druck noch nicht empfand, folglich noch aus dem Wasser hervorragte, zum Wegweiser über die Brücke zu nehmen.
Kurgan hat nur zwei parallel laufende breite Straßen, in deren eine wir jetzt hineinfuhren. Vor einem Gebäude, welches der Sitz des Niederlandgerichtes war, hielten wir still. Mein Unteroffizier ging hinein und kam bald mit der Nachricht zurück, daß der Gorodnitschei oder Stadtvogt (Polizeimeister) verreist sei, der Präsident des Niederlandgerichts aber seine Stelle vertrete und ich folglich zu diesem gebracht werden müsse. Wir fuhren nun einige hundert Schritte weiter bis an die Wohnung dieses Mannes, wo ich abermals gemeldet und nach einer kurzen Frist herein geladen wurde.
Ich fand einen Greis mit einer gutmütigen Physiognomie, der es aber in diesem Augenblicke für seine Pflicht hielt, eine etwas feierliche Amtsmiene anzunehmen. Er[175] hieß mich kalt willkommen, setzte eine Brille auf, öffnete die meinetwegen erhaltene Order und Papiere und las sie, eins nach dem andern, sehr bedächtlich durch, ohne sich weiter um mich zu bekümmern. Ich glaubte, ihm ein kleines Zeichen geben zu müssen, auf welche Art ich jetzt und in Zukunft behandelt zu sein Anspruch mache; daher nahm ich einen Stuhl und setzte mich. Er warf mir von der Seite einen etwas befremdeten Blick zu, las aber dann still weiter.
Aus dem Nebenzimmer sammelte sich indessen eine neugierige Gruppe um mich her. Sie bestand außer einigen ziemlich erwachsenen Kindern aus einer jungen hübschen Frau (der zweiten Gattin des Hausherrn), seiner alten fast blinden Mutter und einem Manne von mittleren Jahren in polnischer Kleidung. Alle betrachteten mich schweigend, und es herrschte eine feierliche Stille, bis der Präsident die Durchsicht der Papiere vollendet hatte.
Mit aufgeheiterten Gesichtszügen – denn vermutlich hatte der Gouverneur mich ihm empfohlen und mehr als vermutlich sprach sein Herz für mich, dessen Güte ich bald nachher kennen lernte – wandte er sich jetzt zu mir, reichte mir die Hand, hieß mich freundlich willkommen, stellte mir seine Familie und zuletzt auch den Polen vor, dem er Glück wünschte, einen Unglücksgefährten gefunden zu haben, und den er meiner Freundschaft empfahl. Ich umarmte ihn mit Wehmut und meinte, so wie er, daß die Gleichförmigkeit unsers Schicksals uns schnell zu brüderlichen Freunden machen würde.
Der Vorsitzer des Niederlandgerichtes und die höchste Magistratsperson in Kurgan hieß de Grawi. Sein Vater,[176] ein schwedischer Offizier, wurde in der Schlacht bei Poltawa gefangen und mit vielen seiner Landsleute nach Sibirien geschickt. Hier verheiratete er sich mit einer Eingebornen und starb im Exil. Sein Sohn diente unter den Truppen, machte den Siebenjährigen Krieg mit, kehrte in sein rauhes Vaterland zurück, ging aus dem Militär in den Zivilstand über und lebte jetzt, bei einem sehr kargen Einkommen, froh und zufrieden; wenigstens habe ich ihn nie anders als bei heiterer Laune gesehen. Vor kurzem war er zum Hofrat ernannt worden, worauf er sich, doch ohne Dünkel, nicht wenig zugute tat.
Nach den ersten Komplimenten war nun die Rede davon, mir eine Wohnung anzuweisen, die der erhaltenen Order zufolge eine der bestmöglichen in Kurgan sein sollte. Darunter war indes nur eine freie Wohnung zu verstehen, welche die Krone zu vergeben hatte und deren Einräumung von jedem Hausbesitzer als Einquartierung erzwungen werden konnte. Aus sehr begreiflichen Ursachen sucht ein jeder dieses beschwerliche onus so viel wie möglich von sich abzuwälzen; und muß er einen ungebetenen Gast ins Haus nehmen, so gibt er ihm wenigstens die schlechtesten Zimmer.
De Grawi dachte lange hin und her und gab endlich einer Art von Adjudanten, einem kleinen buckeligen Männchen, die Anweisung, wohin er mich führen sollte. Zum Abendessen ersuchte er mich, wieder bei ihm einzusprechen, was ich aber für heute verbat, da ich mich sehr nach Ruhe und Einsamkeit sehnte und mich in meiner neuen Wohnung ein wenig einrichten wollte.
Ich ging mit meinem Führer. Er brachte mich in ein kleines niedriges Haus, an dessen Tür ich mir beinahe den[177] Kopf eingestoßen hätte. Das versprach nicht viel; und in den mir bestimmten Zimmern fand ich noch weniger. Es waren düstre Löcher, in denen ich kaum aufrecht gehen konnte, nackte Wände, ein Tisch, zwei hölzerne Bänke, kein Bett, kleine, mit Papier verklebte Fenster. Ich seufzte tief; die Wirtin vom Hause erwiderte den Seufzer und räumte mit stillem Verdrusse Flachs und Leinewand weg, die nebst einigen alten Kleidern und altem Geschirre hier lagen.
Ich faßte mich und machte meine kleine Einrichtungen, so gut ich konnte. Kaum war eine Stunde verflossen, als der gute de Grawi mir zum Willkommen einen Schinken, einige Brote, Eier, frische Butter und noch mehr dergleichen schickte, woraus mein Rossi eine vortreffliche Abendmahlzeit, mehr für sich als für mich, bereitete. Nachher suchte ich denn zum ersten Mal auf der schwarzen Diele den Schlaf, den aber Gram und Ungeziefer weit von mir verscheuchten.
Am folgenden Morgen ziemlich früh erhielt ich Bewillkommungsbesuche von den sämtlichen Honoratioren des Städtchens. Ich will sie nach der Reihe nennen, um einen Begriff von dem zu geben, was in Kurgan la bonne société war.
Stepan Osipowitsch Mammejew, Kapitan Isprawnik, das ist derjenige, der im ganzen Kreise auf die Polizeiordnung, die Brücken, Straßen, gehörige Einlieferung der Abgaben usw. sehen, auch die Händel der Bauern untersuchen und schlichten muß. Er war ein gutmütiger, jovialischer, dienstfertiger und wohlhabender Mann. In seinem Hause fand man sogar einige Spuren von Luxus; aber freilich wußte er diesen Luxus eben nicht mit Geschmack zu verbinden. So erinnere ich mich zum Beispiel[178] in seinem Zimmer einige kleine Tische und Präsentierteller gesehen zu haben, die mit guten Kopien bekannter Kupferstiche bemalt und in einer bei Jekatarinburg gelegenen Fabrik recht fein lackiert waren. Sie kosteten viel Geld; er bediente sich ihrer aber weder als Tische, noch als Präsentierteller, sondern hatte sie als Gemälde an die Wände gehängt, zu welchem Behuf er die Tischfüße abgenommen und diese wieder insbesondere als Zierate aufgestellt hatte.
Juda Nikititsch, ein Sedatel oder Assessor im Niederlandgerichte, Bruder einer Freundin des Gouverneurs, welche mir auch ein Empfehlungsschreiben an ihn mitgegeben hatte. Er war ein sehr bornierter, völlig unbedeutender Mensch.
Noch ein andrer Sedatel, fast noch unbedeutender.
Der Sekretär dieses Gerichts, ein alter gutherziger Mann, der einen hohen Begriff von seiner Tüchtigkeit zu Geschäften zu haben schien. Er war der einzige im Städtchen, der die Moskowische Zeitung kommen ließ.
Ein unwissender Chirurgus.
Dies war außer dem verreisten Stadtvogt der enge Zirkel, in welchem ich nun mein Leben einsam vertrauern sollte.
Der interessanteste Mensch in Kurgan blieb mit natürlicherweise der Pole, Iwan Sokolow. Er war vormals Besitzer eines Landgutes an der neuen russisch-preußischen Grenze und hatte weder gedient noch sich sonst auf irgendeine Art in die Angelegenheiten der Revolution gemischt. Einer seiner Freunde, der vielleicht eine nicht ganz unverdächtige Korrespondenz nach den neuen preußischen Provinzen führte, hatte geglaubt, die Briefe von dorther unter Sokolows Adresse sicherer zu erhalten,[179] und deshalb, sogar ohne es diesem vorher anzuzeigen, sie seinen Korrespondenten empfohlen. Gleich der erste Brief dieser Art wurde aufgefangen. Sokolow wußte von nichts. Er aß eines Tages auf einem benachbarten Gute bei dem General Wielhorski. Dorthin kam ein Offizier, der ihn bereits zu Hause vergebens gesucht hatte, und arretierte ihn nebst andern mehr oder weniger Schuldigen und Unschuldigen. Alle saßen lange, ich habe vergessen auf welcher Festung. Die Sache wurde nach Petersburg berichtet und ihnen von dorther Verzeihung angekündigt, aber mit dem Zusatze, daß sie sämtlich nach Sibirien wandern müßten.
Hierauf wurden Sokolow sowie seine Unglücksgefährten in Kibitken fortgeschleppt. Der Weg führte nur einige Werste vor seinem Landgute vorbei; er bat um Gottes willen, man möchte ihm wenigstens erlauben, seine Familie noch einmal zu sehen und einige Wäsche und Kleidungsstücke mitzunehmen. Umsonst! Wie er ging und stand, mußte er nach Tobolsk. Dort wurde er von seinen Kameraden getrennt und nach Kurgan geschickt, wo er nun schon seit drei Jahren das elendeste Leben führte, ohne von seiner Gattin und seinen sechs Kindern auch nur die mindeste Nachricht zu haben.
Er bekam von der Krone täglich 20 Kopeken (nach jetzigem Kurs etwa drei gute Groschen) und mußte, um damit auszukommen, jeder Bequemlichkeit, jeder Freude des Lebens entsagen. Im Winter wohnte er mit einem stets betrunkenen Wirte, einer stets zankenden Wirtin, Katzen und Hunden, Hühnern und Schweinen in einem einzigen finstern Loche. Im Sommer zog er, um allein zu sein, hinaus in den Stall, wo ich ihn selbst besucht habe. Eine leere Bettstelle, ein kleiner Tisch, ein Stuhl,[180] ein Waschbecken und ein Kruzifix an der Wand waren alles, was er besaß.
Trotz diesem äußersten Mangel schlug er jedes Geschenk aus, das man ihm anbot, lebte von Milch, Brot und Kwaß und war immer reinlich und ordentlich gekleidet. Überall im Städtchen wurde er geliebt, und man nannte ihn nur Wannuschka – ein gutmütiger Mensch, der sich viel gefallen läßt, gern mit Kindern spielt. Bei dem Hofrat de Grawi war er besonders wohlgelitten; denn er verband mit feiner Lebensart eine auffallende Gutmütigkeit und behauptete in seinem Unglück einen Gleichmut, den ich bewunderte und oft vergebens zu erreichen strebte. Nur dann, wenn er allein bei mir war, wenn wir uns die Geschichte unserer Leiden zum zwanzigsten Mal wiederholten, wenn wir uns wechselseitig die Namen unserer Lieblingskinder sagten und nach und nach sie alle genannt hatten: dann traten ihm wohl die Tränen in die Augen und er versank in düstre Schwermut. – Schade nur, daß er nicht Französisch, ja auch nicht einmal Lateinisch sprach, was doch die meisten Polen können. Unsere Unterhaltung wurde dadurch oft sehr mühsam; denn ob er gleich besser Russisch sprach als ich, so hatte er es doch auch erst in Kurgan gelernt, und sein polnischer Akzent machte ihn mir oft sehr unverständlich. Doch unsere Herzen verstanden sich umso besser! Im Schoße des Unglücks wird man inniger vereint als Zwillingsbrüder im Schoße einer Mutter! Ich muß das Gemälde seines biedern Charakters noch durch einen besondern Zug vollenden. Er war so unbegreiflich gewissenhaft, daß er sogar jedes Anerbieten, einen Brief an seine Familie zu befördern, ausschlug, bloß weil es verboten war und weil er dem[181] Gouverneur hatte versprechen müssen, keine Nebenwege zu suchen.
Ich kehre zurück zu meiner Geschichte. Keiner von denen, die mich am ersten Morgen besuchten, kam mit leeren Händen; jeder brachte mir etwas zu essen oder zu trinken, und es fehlte mir nur eine Vorratskammer, um sie anzufüllen. Auch de Grawi fand sich ein, um sich zu erkundigen, wie ich mit meinem Quartiere zufrieden wäre. Ich gestand ihm, daß es mir sehr mißfalle. Er erbot sich sogleich, mich im ganzen Städtchen selbst herumzuführen und mir zu eigner Wahl alle Wohnungen zu zeigen, über welche er disponieren könne. Ich nahm sein Anerbieten dankbar an. Wir liefen einen großen Teil des Tages aus einem Hause in das andre, fanden es aber oft noch schlechter, selten besser und immer so eng, daß ich notwendig mit meinem Bedienten zusammen in einem Zimmer hätte wohnen müssen: ein Umstand, der mir besonders zuwider war.
Ich bat ihn endlich, die Sorge für mein Quartier mir selbst zu überlassen, da ich versuchen wollte, ob nicht der große Hauptschlüssel Geld mir irgendein Haus eröffnen würde, wo sich mehr Bequemlichkeit darböte. Er gab es zu, meinte aber, ich würde nichts dergleichen finden. Ich verließ mich indes auf meinen pfiffigen Rossi, der schon in den ersten vierundzwanzig Stunden mit der ganzen Stadt bekannt war und auch, glaube ich, schon die ganze Stadt betrogen hatte. Er legte sich auf Kundschaft und kam bald mit der Nachricht zurück, daß ich ein neues kleines Haus für mich ganz allein haben könne, wenn ich monatlich fünfzehn Rubel Miete bezahlen wolle. Der Besitzer desselben war ein Kaufmann, der um des lockenden Gewinnes willen seine eigene Wohnung[182] räumen und selbst in ein noch kleineres Hinterhaus auf demselben Hofe ziehen wollte.
Ich ging sogleich hin, die mir angebotene Wohnung zu besehen, und fand sie so bequem, auch nach Kurganischer Art so prächtig möbliert, als ich es nur immer wünschen konnte. Sie bestand aus einem großen und einem kleineren Zimmer, einer warmen sehr geräumigen Küche und einer sogenannten Kladawei (einer Kammer, worin man allerlei einschließt). Die Wände der Zimmer waren freilich nur Balken ohne Tapeten. Der Eigentümer aber hatte dafür gesorgt, sie mit einer Menge bunter Kupferstiche und Ölgemälde zu tapezieren, die zwar sehr elend waren, doch an diesem Orte leicht eine Art von Täuschung hervorbrachten, als befinde man sich in einem minder öden Erdwinkel. Da waren z.B. mehrere Nürnberger Produkte: eine Augsburger Bürgersfrau, eine Leipziger Jungmagd, ein Wiener Kringelverkäufer, sämtlich mit deutschen Unterschriften; und schon der bloße Anblick einiger Worte in meiner Muttersprache machte mich so froh, daß ich mich nur ungern wieder von diesen deutschen Bildern getrennt haben würde. Ferner waren da schlechte Kopien von den Attitüden der Lady Hamilton wie auch von Gemälden aus Herculaneum; Landschaften und mehr dergleichen. Die Ölgemälde von inländischer Kunst stellten sämtlich alte Zaren vor; das heißt der Maler hatte verschiedene bärtige Gesichter gepinselt, ihnen Zarenmützen auf den Kopf gesetzt, den Reichsapfel in die Hände gegeben und dann Zar Alexei Michailowitsch oder einen andern, ihm gerade einfallenden Namen darunter geschrieben.
Die Möbel waren zwei hölzerne Bänke mit Lehnen, die aber Sofas genannt wurden, weil man auf jede ein Bettkissen[183] gelegt und ein Stück Kattun darüber gedeckt hatte; einige Stühle und Tische; ein Glasschrank mit Porzellan, der aber verschlossen blieb und den sich die Wirtin zum ausschließlichen Gebrauche vorbehielt. Die Wohnung lag vorn an der Straße und hatte hinten einen geräumigen Hof, dessen Pforte auf den Tobol führte, an welchem sich mir ein angenehmer Spaziergang darbot. Das Hinterhaus des Wirtes war von dem meinigen gänzlich getrennt. Alle diese Umstände zusammen genommen waren für mich so einladend, daß ich – trotz dem enormen Preise, der selbst in Petersburg ansehnlich gewesen sein würde und mit meiner dürftigen Kasse sehr kontrastierte – doch augenblicklich zuschlug und Anstalten traf, noch an demselben Tage einzuziehen.
Es stellte sich mir aber ein sehr unvermutetes Hindernis in den Weg: mein ehrlicher de Grawi wollte durchaus nicht zulassen, daß ich so viel Geld ausgeben sollte. Einmal über das andere rief er aus: »Ein solcher Preis ist unerhört, seitdem Kurgan steht!« Er ließ den Kaufmann kommen und machte ihn so herunter, daß dieser voller Schrecken sogleich zurücktreten wollte. Mir wiederholte er zwanzigmal das russische Sprichwort: Bereghi denje na tschorni den – Spare dein Geld auf den schwarzen Tag. Er wollte es dem Gouverneur melden, da es seine Pflicht sei, Sorge für mich zu tragen. Kurz, ich hatte alle mögliche Mühe, ihm begreiflich zu machen, daß ich imstande sei, diese Ausgabe zu bestreiten, und daß ich von jeher den Grundsatz gehabt habe, lieber schlecht zu essen, als schlecht zu wohnen. Er willigte endlich murrend ein, doch nicht eher, als bis der Wirt noch versprochen hatte, mir Holz und Kwaß frei zu liefern. Ich bezog nun[184] meine neue Wohnung; und so oft de Grawi nachher zu mir kam, mußte ich jedes Mal das Klagelied über den hohen Preis anstimmen hören.
Freilich, wenn mich die Hoffnung täuschte, Geld aus Livland zu erhalten, wenn alle Briefe an mich untergeschlagen wurden und auch meine Frau nicht zu mir kommen durfte oder konnte, so war ich nach einem halben Jahre allerdings sehr übel daran, da ich von der Krone keinen Heller erhielt. Aber für die Gegenwart hatte ich Geld und für die Zukunft Hoffnung; daher ließ ich mich nicht abhalten, mir wenigstens fürs erste meine Leiden so viel als möglich zu versüßen. Übrigens war es in Kurgan so außerordentlich wohlfeil, meine Bedürfnisse so gering und die Gelegenheiten zu Nebenausgaben so selten, daß ich allenfalls auch wohl ein Jahr mit meinem Geldvorrat auskommen konnte; und bis dahin konnte sich ja so manches ändern.
Ich will die Preise verschiedener Lebensmittel anführen, wobei ich noch erinnern muß, daß mein Rossi mich wahrscheinlich immer um die Hälfte betrogen hat. Ein Pfund Brot kostete ungefähr anderthalb Pfennige – für fünf Kopeken erhielt ich ein Brot von sechs Pfunden; das Pfund Rindfleisch fünf bis sechs Pfennige; ebenso viel ein junges Huhn; das Pfund Butter etwa fünfzehn Pfennige; das Paar Haselhühner, Birkhühner und dergleichen höchstens einen Groschen; und Hasen konnte man, ohne Balg, auch umsonst bekommen, da die Russen sie nicht essen; eine Schüssel Fische etwa sechs Pfennige, ein Klafter Holz acht Groschen. Kwaß konnte auch der durstigste Trinker höchstens für ein paar Pfennige des Tages zu sich nehmen.
Hieraus kann man abmessen, daß die ersten Notwendigkeiten[185] des Lebens in Kurgan äußerst wohlfeil waren; wenn manche derselben nur immer zu bekommen gewesen wären! Bäcker und Fleischer gab es nicht. Wöchentlich einmal und zwar sonntags nachmittag wurde eine Art von Markt gehalten, wo man sich mit Fleisch und Brot auf die Woche versehen mußte; das Fleisch blieb aber zuweilen ganz aus.
Einige andere mehr zum Luxus gehörige Artikel waren hingegen auch wieder sehr teuer. Ein Stoff sogenannter Franzbranntwein kostete zwei und einen halben Rubel; ein Pfund Zucker einen Rubel; ein Pfund Kaffee mehr als anderthalb Rubel; guter chinesischer Tee das Pfund drei Rubel; ein halbes Dutzend Spiele schlechter Karten sieben Rubel; ein Buch holländisches Papier gegen drei Rubel.
Doch das waren lauter entbehrliche Sachen, und ich fand zu Ende der ersten Woche, daß ich – Wäsche, Licht und alles andere mitgerechnet – kaum einige Rubel verzehrt hatte. Freilich war meine Tafel die mäßigste, die man sich nur immer denken kann. Ihre Hauptbestandteile waren gebeuteltes Brot (eine Seltenheit in Kurgan, mit welcher mich der gute de Grawi zweimal wöchentlich versorgte) und herrliche Butter, die täglich frisch zubereitet wurde. Nie in meinem Leben habe ich bessere Butter gegessen, welches sehr natürlich zuging, da den Kühen die üppigsten Wiesen zu Weiden dienten. Außer Brot und Butter hatte ich zuweilen ein junges Huhn mit etwas Reis, auch wohl eine Taube oder Ente, die ich selbst geschossen hatte, und zum Dessert dann einen Becher Kwaß. Ich stand zwar immer befriedigt, aber nie eigentlich satt vom Tische auf, und ich glaube, daß ich vorzüglich diesem Umstande meine nicht allein anhaltende,[186] sondern sogar zunehmende Gesundheit verdankte.
Meine Lebensart war übrigens folgende: Morgens um sechs Uhr stand ich auf und wandte eine Stunde an, russische Vokabeln auswendig zu lernen. Denn da von allen Einwohnern des ganzen Städtchens niemand eine andere Sprache als die russische verstand, so war es für mich höchst notwendig, daß ich sie besser zu erlernen suchte. Dann frühstückte ich und schrieb mehrere Stunden an der Geschichte meiner Leiden. Nach dieser mir fast lieb gewordenen Arbeit ging ich, gewöhnlich im Schlafrock und in Pantoffeln, eine Stunde am Tobol spazieren, wo ich mir einen Gang gerade von zwei Wersten abgemessen hatte und wohin ich durch die Hinterpforte gelangen konnte, ohne jemandem zu begegnen. Bei meiner Zurückkunft las ich noch eine Stunde im Seneca. Dann verzehrte ich mein frugales Mittagsbrot, warf mich aufs Bett, schlummerte und las dann in Pallas oder Gmelins Reisen, bis Sokolow kam, mich zur Jagd abzurufen. Nachher trank er gewöhnlich Tee mit mir, wobei wir unsere Schicksale wiederholten, einander unsre Hoffnungen mitteilten oder unsre Furcht gegenseitig mit schwachem Glauben bekämpften. Wenn er fort war, las ich wohl noch eine Stunde im Seneca, aß dabei mein Butterbrot, spielte dann eine Weile grande patience – eine Art von Orakelspiel – mit mir selbst und ging endlich mehr oder weniger schwermütig schlafen, je nachdem – fast schäme ich mich, es zu gestehen – das Spiel mehr oder weniger günstig für mich ausgefallen war.
Wer jemals recht unglücklich gewesen ist, wird selbst die Erfahrung gemacht haben, daß man nie mehr Hang zum Aberglauben hat als im Unglück. Was in jeder[187] andern Lage des Lebens gar nichts sein würde, das schafft man sich im Unglück wenigstens zum Strohhalm um; und mit der Überzeugung im Herzen, daß dieser selbstgeschaffene Strohhalm keine Mücke tragen werde, greift man dennoch nach ihm und betrübt sich, wenn er ausweicht. So gestehe ich, daß ich jeden Abend in Kurgan die Karten auf die Frage legte: ob ich jemals die Freude haben würde, meine Familie wiederzusehen. Kam das Spiel glücklich aus, so – ich kann nicht sagen, daß es mich freute, aber es war mir doch lieb. Kam es nicht aus – ich kann nicht sagen, daß es meine Furcht vermehrte, aber es betrübte mich doch. Lächelt nur, ihr, deren Nachen immer auf sanft wallenden Bächen schiffte; lächelt nur über den Unglücklichen, der in offner See auf einem Wrack herumtreibt und sich am Meergrase zu halten strebt!
So vergingen meine Tage. Ich war übrigens völlig frei, von keines Menschen Auge bewacht. Mein guter alter Unteroffizier André Iwanowitsch kehrte schon zwei Tage nach meiner Ankunft in Kurgan nach Tobolsk zurück, und man hielt es gleich anfangs nicht für nötig, seine Stelle zu ersetzen, was man doch bei dem Polen in der ersten Zeit seines Aufenthaltes getan hatte. Auch wäre jede Bewachung sehr überflüssig gewesen. Unsere Jagd führte uns freilich oft mehrere Werste weit von der Stadt; aber wohin sollten oder konnten wir fliehen? Kurgan lag vormals an der Grenze der Kirgisen; doch schon seit vielen Jahren war diese Grenze um fünfzehn Meilen weiter hinausgerückt und dort eine kleine Festung gebaut worden.
Hätte sie aber auch noch jetzt an das Weichbild der Stadt gestoßen: was konnte das Leuten helfen, die von allen[188] Mitteln zur Flucht entblößt waren und nicht einmal die russische Sprache recht verstanden, viel weniger die kirgisische. Auch selbst in diesem Falle wäre ein Versuch zur Flucht noch immer ein verzweifeltes Wagstück geblieben. Denn die Kurganer erinnerten sich mit Schrecken der Zeit, wo sie nicht vor die Stadt Spazierengehen durften, ohne daß sie der Gefahr ausgesetzt waren, von den herumschweifenden Kirgisen erwischt zu werden. Dann wurden sie an den Schweif des Pferdes gebunden und mußten laufen, so schnell das Pferd galoppierte. Der Reiter sah sich nicht einmal nach ihnen um, sie mochten schreien und jammern, so viel sie wollten. Erst wenn er bei seiner Wohnung abstieg, untersuchte er, ob sein Gefangener noch lebe oder schon tot sei. Im ersten Falle machte er ihn zu seinem Sklaven oder, was noch öfter geschah, verkaufte ihn an die Bucharen, die ihn Gott weiß wohin schleppten. Wir dankten also dem Himmel, daß wir wenigstens sicher vor diesen Unholden auf die Jagd gehen konnten.
Diese Zerstreuung war immer sehr wohltätig für mich, so wenig Mittel wir auch hatten, uns die Jagd angenehm zu machen. Ein paar elende Flinten, die man immer vier- bis fünfmal abdrücken mußte, ehe sie losgingen, waren alles, was wir besaßen. Einen Jagdhund gab es im ganzen Städtchen nicht, auch nicht einmal einen Pudel, der aus dem Wasser apportiert hätte. Da nun die Steppe mit unzähligen kleinen morastigen Seen durchschnitten war, da Enten und Schnepfen in dieser Jahreszeit fast den einzigen Gegenstand unserer Jagd ausmachten, so mußten notwendig wir selbst die Stelle der Pudel vertreten und oft bis an den halben Leib im Wasser waten, um die erlegte Beute zu erhaschen. Mein Pole war mit[189] dieser beschwerlichen Art zu jagen schon weit mehr vertraut als ich. Er ging ohne alle Umstände in die tiefsten Seen, verweilte halbe Stunden lang darin, jagte mir das Wild aus dem Schilfe, suchte das angeschossene und verkrochene, kurz, ersetzte, die Witterung ausgenommen, den besten Jagdhund.
Ein anderer, mich oft angenehm zerstreuender Zeitvertreib waren meine Spaziergänge am Tobol. Es gab da einige Waschplätze, wo die jungen Mädchen aus der Stadt sich versammelten und nach dem Waschen auch selbst zu baden pflegten. Dieses Baden wurde bei ihnen zu einer bewunderungswürdigen gymnastischen Übung. Sie schwammen ohne alle Anstrengung über den Tobol hinüber und wieder herüber; sie gaben sich oft lange, auf dem Rücken liegend, den Wellen preis; sie schäkerten miteinander im Wasser, bewarfen sich mit Sandklumpen, verfolgten sich, tauchten unter, ergriffen einander und warfen sich um; kurz, sie trieben es oft so arg, daß ein unkundiger Zuschauer alle Augenblick befürchten mußte, ein paar von ihnen auf immer untersinken zu sehen. Alles dies geschah übrigens mit der größten Dezenz. Da nur die Köpfe aus dem Wasser hervorragten, so wußte man oft lange nicht, ob Knaben oder Mädchen darin schwammen. Den Busen sehen zu lassen, konnten sie freilich oft nicht verhüten; und das schien ihnen auch ziemlich gleichgültig zu sein. Wenn sie aber des Spieles müde waren und nun nicht länger im Wasser bleiben wollten, so betrugen sie sich sehr schamhaft und baten den neugierigen Zuschauer entweder so lange, bis er sich gutwillig entfernte; oder wenn dieser zuweilen mit boshafter Schadenfreude dennoch stehenblieb, so zogen die Mädchen am Ufer einen[190] dichten Kreis um die Nackende, die aus dem Wasser hervorkam. Jede warf ihr dann ein Kleidungsstück zu, und in einigen Augenblicken stand sie züchtig bekleidet unter den übrigen.
Immer waren diese Mädchen munter und mutwillig; immer lachten und schäkerten sie. Der Kapitan Isprawnik, ein großer Verehrer des schönen Geschlechtes, kam zuweilen gegen Abend zu mir, bloß um sich an mein Fenster zu setzen und die sämtlichen Schönheiten von Kurgan, welche immer um diese Zeit Wasser holten, vorbei passieren zu sehen. Er nannte mir dann eine nach der andern, rühmte auch mehrere als gutwillig; und die verschämte Freundlichkeit, mit der sie ihm zuzunicken pflegten, bewies, daß er aus Erfahrung sprach.
Die anfangs häufigen Besuche der Herren Kurganer waren mir oft sehr lästig, ob ich gleich ihre gute Absicht nicht verkannte. Ein Schreiber – oder etwas dergleichen –, der mir gegenüber wohnte, hatte mich einigemal am Fenster meine Morgenpfeife rauchen sehen. Da er selbst ein Liebhaber von Toback war, so schickte er die erfreuliche Botschaft herüber, daß er jeden Morgen seine Pfeife bei mir rauchen und mir einige Stunden die Zeit verkürzen wolle. Ich hatte alle mögliche Mühe, ihm sein wohlwollendes Projekt aus dem Sinne zu reden. Er und die andern Herren in Kurgan begriffen nicht, wie ich immer allein sein und gern allein sein könne. Sie wußten nicht, daß man mit dem Bilde einer geliebten Gattin im Herzen und mit dem Seneca in der Hand nirgends allein ist.
Dem Seneca verdanke ich unbeschreiblich viel! Schwerlich hat seit achtzehnhundert Jahren ein Mensch sein Andenken so innig gesegnet wie ich. Oft, wenn die Verzweiflung[191] ihre Kralle nach mir ausstreckte, ergriff ich die Hand dieses Freundes, der täglich Geduld und Mut in meine Brust goß. Die Ähnlichkeit unsrer Schicksale kettete mich näher an ihn. Er wurde unschuldig exiliert und schmachtete acht Jahre lang zwischen den öden Felsen von Korsika. Die Beschreibung, die er von seiner Lage entwirft, war so passend auf die meinige; seine Schilderung des Klimas, der rohen Sitten, seine Klagen über die fremde, rauhe Sprache: alles war auf mich anwendbar. Und endlich die mancherlei kräftigen Sprüche gegen die Todesfurcht, welche er überall in seine Werke verwoben hat! Ich sammelte sie sorgfältig, machte sie meinem Verstande und meinem Herzen eigen und trug sie immer bei mir, wie Friedrich der Große das wohltätige Gift, dessen er sich, wenn jede Hoffnung verschwunden wäre, bedienen wollte.
Ich will nicht leugnen, daß unter diesen Sprüchen sich manche bloß glänzende Gedanken befinden, die eine nähere Prüfung nicht aushalten. Aber wer wird es mir in meiner damaligen Lage verdenken, daß ich eine solche nähere Prüfung sorgfältig vermied? Wenn nun vielleicht nach wenigen Monaten die letzte Hoffnung für mich verschwand; wenn Schrecken und Gram meine gute Frau ins Grab gestürzt hatten oder wenn Obuljaninow – der Generalprokureur unter Paul dem Ersten –, noch grausamer als der Tod, sie verhinderte, zu mir zu kommen; wenn mit den letzten Tagen des Sommers auch meine geringe Barschaft zu Ende ging; wenn ich dann in einer Kälte von dreißig Graden vielleicht für Tagelohn arbeiten mußte, um trocknes Brot und Kwaß zu verdienen: was blieb mir übrig als der Tod?
Mein Entschluß war reiflich erwogen und gefaßt. Auf[192] den Fall, daß meine geliebte Gattin zu mir kam, hatte ich den letzten, den einzig möglichen Plan zu meiner Rettung ausgedacht. Er gründete sich auf die Erfahrung, daß man durch ganz Rußland von einem Ende bis zum andern reisen kann, ohne visitiert zu werden. Auf diesen Umstand baute ich folgendes Projekt:
In meinem größeren Zimmer sollte ein Verschlag von Brettern und in dem äußersten Winkel desselben noch eine Art von Kleiderschrank angebracht werden. Nach dieser Zurüstung wollte ich fürs erste mit meiner Familie zwei Monate lang ruhig und dem Anscheine nach zufrieden leben, dann aber eine immer zunehmende Kränklichkeit und endlich eine Geisteszerrüttung affektieren. Diese Epoche mußte wieder einige Monate dauern. Dann wollte ich eines Abends in der Dunkelheit meinen Pelz und meine Mütze am Ufer des Tobol neben das Loch legen, welches immer zum Wasserschöpfen offen gehalten wird, hierauf leise zurückschleichen und mich in dem oben offenen Schranke verbergen.
Meine Frau macht Lärm. Man sucht mich – findet meine Kleider – es ist klar, daß ich mich in das Loch gestürzt habe – ein zurückgelassener Brief bestätigt es – meine Frau ist in Verzweiflung – am Tage muß sie das Bett hüten – des Nachts steckt sie mir Lebensmittel zu. – Der Vorfall wird nach Tobolsk und von da nach Petersburg gemeldet. Dort legt man den Bericht beiseite und vergißt mich. – Einige Zeit nachher erholt sich meine Frau ein wenig und bittet nun um einen Paß nach Livland, der ihr nicht abgeschlagen werden kann. – Sie kauft ein großes Schlitten-Kibitken, worin es sich bequem ausgestreckt liegen läßt: wirklich das einzige Fuhrwerk, mit dem man so etwas zu unternehmen wagen dürfte.[193] Ich fülle den runden Bauch desselben – über mich türmt man Kissen und Reisegepäck. Meine Frau setzt sich zu mir, lüftet mei nen Kerker, so oft ich es bedarf. Und wenn ich anders nur Kräfte genug habe, die lange Reise auf diese unbequeme Art zu vollenden, so ist es unbezweifelt gewiß, daß wir ohne irgendein Hindernis vor meinem eigenen Hause in Friedenthal anlangen.
Der Hauptpunkt war also nur die Kunst, meinen Tod recht wahrscheinlich zu machen, was um so weniger schwer sein konnte, da wir in Kurgan mit Leuten zu tun hatten, die gewiß keinen Betrug argwöhnten und auch nicht Fähigkeit genug besaßen, einen etwas fein gesponnenen zu entdecken.
War ich einmal in Friedenthal, so konnte ich dort fürs erste leicht vor aller Augen verborgen werden. Dann hatte ich ja in Estland mehrere Freunde, auf die ich – um mich so stark als möglich auszudrücken – ebenso sicher rechnen konnte als auf meine Frau. Knorring oder Huek würden mich auf eben die Weise nach Reval transportiert – der edle Friedrich von Ungern-Sternberg würde mich dann auf seine Güter bei Hapsal und von da mit einem eigenen Schiffe nach seinen Besitzungen auf der Insel Dagö gebracht haben, von wo ich mit dem ersten guten Winde auf einem Fischerboote in zwölf Stunden nach Schweden gelangen konnte. Wie gesagt, es kam wirklich nur darauf an, ob mein Körper die Reise auf diese Art aushielt; übrigens war der Plan für einen Glücklichen, der eine solche Frau und solche Freunde hat, sehr ausführbar.
Mein Freund Kinjakow meinte, es sei auch leicht, sich unter einer passenden Verkleidung an eine aus China kommende Karawane anzuschließen; und er selbst würde[194] einen Versuch, sich auf diese Weise zu retten, gewagt haben, wenn der edle Mann nicht befürchtet hätte, das Schicksal seiner Brüder dadurch zu erschweren. Für mich als Fremdling war diese Unternehmung untunlich, da man, wenn sie gelingen sollte, entweder wirklich ein Eingeborner sein oder doch die Landessprache vollkommen sprechen müßte, um für einen russischen Fuhrmann gehalten zu werden. Ich blieb daher bei meinem eigenen Plane, schrieb meiner Frau alles vor, was sie zur Erleichterung desselben mitbringen sollte, und gab ihr einen Wink von meinem Vorhaben, indem ich ihr in jedem Brief wiederholte: sie solle, wenn sie zu mir komme, mir mehr werden als Lodoiska ihrem Louvet.
Auch in Kurgan fand ich einen guten Menschen, der sich selbst zum Bestellen meiner Briefe erbot und durch den meine gute Frau wirklich schneller als auf allen übrigen Wegen einen Brief von mir erhalten hat. Aus leicht begreiflichen Ursachen nenne ich ihn nicht; vor Gott hat ihn mein Herz schon tausendmal genannt.
O, wie bedaure ich die armen schwarzgalligen Philosophen, die der menschlichen Natur eine angeborne Verderbtheit andichten! Mich hat mein Schicksal in dem Vertrauen auf Menschen bestärkt. Wie wenige Gefühllose erscheinen in dieser Erzählung! Wie wenige, die dem Hofrat oder dem Herrn Prostenius gleichen! Ja, ich sage mit froher Überzeugung: Sei unglücklich, und du wirst überall Freunde finden; im fernsten, ödesten Winkel der Erde wird man dir Arme und Herzen öffnen.
Auch die guten, unverdorbenen Kurganer kamen mir mit offenen Armen und Herzen entgegen. Zu allen ihren kleinen Festen wurde ich eingeladen; jede ihrer Freuden und jeden ihrer Leckerbissen mußte ich mit[195] ihnen teilen. Als Schriftsteller hatten sie mich bisher nicht gekannt; aber ein Artikel, der gerade damals in der Moskowischen Zeitung stand und worin des ausgezeichneten Beifalles erwähnt wurde, dessen meine Schauspiele bei den Engländern genössen, verschaffte ihnen auch diese Bekanntschaft und gab mir in ihren Augen einen noch größeren Wert. Die gutgemeinte Zudringlichkeit, mit welcher sie mich zu zerstreuen und in ihre Gesellschaften zu ziehen suchten, fiel mir in der Tat oft lästig. Teils war mein Gemüt so wenig zur Geselligkeit gestimmt, teils mangelte auch ihren geselligen Freuden für einen verwöhnten Europäer jeder Reiz.
Hier ein Beispiel. Der Assessor Juda Nikititsch wollte seinen Namenstag festlich begehen: einen Tag, der in Rußland bekanntlich weit höher gefeiert wird als der Geburtstag. Er kam des Morgens früh selbst zu mir und bat, daß ich mich gegen zwölf Uhr mittags in seiner Behausung einfinden möchte, wo die sämtlichen Honoratioren des Städtchens versammelt sein würden. Ich kam. Bei meinem Eintritt wurde ich mit einem Geheul von fünf Menschen empfangen, die hier für Sänger galten und, indem sie der Gesellschaft den Rücken zukehrten und die rechte Hand, um den Schall zu verstärken, an den Mund hielten, ein Lied in den Winkel der Wand hinein brüllten. Jeder Eintretende wurde so bewillkommt. Eine große Tafel seufzte unter der Last von zwanzig Schüsseln, doch ohne Kuverts oder Stühle für die Gäste. Alles hatte vielmehr das Ansehen eines bloßen Frühstücks (Sakuschka, wie man es in Rußland zu nennen pflegt). Die Hauptschüsseln bestanden aus sogenannten Piroggen, einer Art Pasteten, die sonst gewöhnlich mit Fleisch, diesmal aber wegen der Fasten[196] mit allerlei Fischgattungen gefüllt waren. Außerdem gab es noch eine Menge marinierter Fische und Backwerk, auf verschiedene Art zubereitet. Der Wirt vom Hause ging dabei mit großen Flaschen Branntwein umher und schenkte sehr fleißig ein. Es wurde sehr oft und sehr viel auf seine Gesundheit getrunken, doch zu meinem größten Erstaunen ohne daß irgendeiner der Gäste Spuren von Trunkenheit zeigte. Wein gab es nicht; und nur in Tobolsk, bei dem Gouverneur, habe ich einen inländischen, ziemlich trinkbaren Wein gefunden, den er, wenn ich nicht irre, aus der Krim hatte kommen lassen. Dagegen tischte Juda Nikititsch eine andere Seltenheit auf, nämlich Met, der zwar sehr hoch gehalten wird, weil es in Sibirien keine Bienen gibt, dem aber doch die sämtlichen Gäste, mich ausgenommen, den geliebten Branntwein vorzogen.
Ich erwartete nun jeden Augenblick, daß sich ein anderes Zimmer öffnen und uns die Mittagstafel zeigen würde; aber siehe da! einer nach dem andern nahm seinen Hut und schlich davon. Ich mußte mich also wohl entschließen, dasselbe zu tun.
»Ist damit das Fest zu Ende?« fragte ich den alten de Grawi, der mit mir ging.
»Gott behüte!« versetzte er: »jetzt begibt sich ein jeder nach Hause, um zu schlafen; man schläft bis fünf Uhr, und dann versammelt man sich wieder.«
Auch ich stellte mich denn zu der bestimmten Zeit wieder ein. Die Szene hatte sich verändert: der große Tisch stand zwar noch mitten im Zimmer, aber anstatt mit Piroggen, Fischen und Branntwein war er jetzt mit Kuchen, Rosinen, Mandeln und einer Menge chinesischer, zum Teil sehr leckerer Konfitüren bedeckt, worunter[197] sich besonders eine Art von fester Apfelmarmelade, in Striemen geschnitten, auszeichnete.
Jetzt erschien auch die Frau vom Hause, ein junges hübsches Weib; auch kamen von allen Seiten die Ehehälften und Töchter der Vormittagsgäste in ihren altmodischen Staatskleidern herbei. Es wurde Tee mit Franzbranntwein und Punsch gegeben, bei welchem die Gluckwa-Beere (Vaccinium Oxycoccos L.) die Stelle der Zitronen vertrat. Nun wurden Kartentische gesetzt und Boston gespielt, so lange nur immer der reichlich genossene Punsch die Karten zu unterscheiden erlaubte. Als die Zeit zum Abendessen heranrückte, entfernte sich alles wie vormittags, und das Fest hatte ein Ende.
Man wird leicht glauben, daß ich alle meine Gefälligkeit aufbieten mußte, um an solchen Unterhaltungen teilzunehmen. Wie froh war ich, wenn ich wieder in meinem einsamen Zimmer Atem schöpfen oder, mit der Flinte über der Achsel, an der Seite meines biederen Sokolow hinaus in das freie Feld wandern durfte!
So verflossen meine Tage in Kurgan. Die Gesundheit, deren ich ununterbrochen genoß und die, ob sie gleich seit vielen Jahren bei mir nur ein seltener Gast gewesen war, jetzt auf einmal wieder mein unzertrennlicher Gefährte wurde, trug wohl am meisten dazu bei, mir eine Art von frohem Mut zu erhalten. Ich hoffte! Schon sah ich im Geiste meine Familie um mich her. Vereinigt konnten wir auch in Kurgan nicht unglücklich sein. Wohl mir! Das fühlt ich tief in meiner und meiner Gattin Seele!
Aber das war ja auch nicht meine einzige, meine letzte Hoffnung. Hatt' ich denn nicht ein Memorial an den Kaiser abgehen lassen? An einen Kaiser, der wahrhaftig[198] gern Gerechtigkeit übte und sich nie schämte, eine Aufwallung wiedergutzumachen, zu der Verleumdung oder Argwohn ihn zuweilen verleitete; an einen Kaiser, der selbst ein zärtlicher Vater war und zu dessen Herzen die Stimme der Natur den Weg auch durch die Verschanzungen eines Generalprokureurs Obuljaninow fand!
Wie herzlich wünschte ich meinem Hofrat eine glückliche Reise! Wie oft berechnete ich die Wochen und Tage, die er brauchen würde, um in Petersburg anzukommen, die Wochen und Tage, welche dann wieder erforderlich waren, die Entscheidung meines Schicksals von den Ufern der Newa bis an die Ufer des Irtysch zu bringen! Zu Ende des August durfte ich, wenn alles schnell ging, meines Bedünkens dem Endurteil entgegensehen.
Ich hatte mich verrechnet! Gott sei Dank! Ich hatte mich verrechnet!
Die Hand, die uns durch dieses Dunkel führt,
Läßt uns dem Elend nicht zum Raube,
Und wenn die Hoffnung auch den Ankergrund verliert,
So laß uns fest an diesem Glauben halten;
Ein einzger Augenblick kann alles umgestalten.
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