Viertes Kapitel

[131] Tjumen ist die erste sibirische Grenzstadt. Etwa 40 und einige Werste vorher, ehe man dahin gelangt, betritt man mitten in einem Walde die Tobolskische Grenze, welche durch einige Pfähle angedeutet ist. Der Hofrat war so grausam, mir diese Pfähle zu zeigen und mich mit ihrer Bedeutung bekannt zu machen. Ich antwortete nichts; aber eine gräßliche Empfindung zerriß mein Herz.

Jetzt befand ich mich also wirklich in Sibirien; und was mir gleich auf der ersten Station begegnete, war eben nicht fähig, das Ängstliche dieser Gewißheit zu mildern. Ich komme zu einer Geschichte, welche sich mit Flammenzügen in meine Brust gegraben und meine Augen mit glühenden Tränen erfüllt hat! Noch jetzt muß ich mich sammeln, um sie zu erzählen, und noch jetzt zerdrückt sie mir beinahe das Herz.

Wir hielten in einem Dorfe, um die Pferde zu wechseln, und gingen in ein benachbartes Bauernhaus, um saure Milch zu essen, die uns freundlich angeboten wurde. Als ich dann vor dem Hause eben beschäftigt war, mir ein Stück Brot in die Milch zu brocken, näherte sich ein Greis von wenigstens siebzig Jahren, mit schneeweißem Bart und Haar, warf sich mühsam auf die Erde vor uns nieder und fragte sehr angelegentlich, ob wir keinen Brief aus Reval für ihn mitgebracht hätten.

Bei diesen Worten blieb das Brot ungebrochen in meiner Hand. Ich starrte den Greis an und wußte nicht, ob ich recht gehört hatte. Die Bäuerin legte sich lachend ins Mittel und flisterte uns zu: der Mann sei wahnsinnig; so oft ein Reisender hier durchgehe, mache er sich auf[132] von seinem Sterbelager, wanke an seinem Stabe herzu und tue immer dieselbe Frage. Zugleich bat sie uns um ein Stückchen Papier, gleichviel, wie es aussehe: denn, sagte sie, wenn man ihn befriedigen und los sein wolle, so müsse man ihm etwas einem Briefe Ähnliches vorlesen; sonst fange er an zu heulen und gehe nicht von der Stelle.

Ich gab ihr zitternd ein Stückchen Papier. Sie trat zu ihm und stellte sich, als ob sie läse: »Lieber Mann, ich befinde mich wohl; auch die Kinder sind gesund; wir werden bald zu dir kommen und dir allerlei mitbringen« usw. Der Greis hörte mit Wohlgefallen zu; er lächelte, strich seinen grauen Bart und nickte freundlich. Das Stückchen Papier verwahrte er sorgfältig auf der Brust. Er selbst erzählte mir nun ziemlich zusammenhängend, daß er Soldat gewesen, daß er vormals auf der Flotte in Reval und Kronstadt gedient habe und endlich hieher als Invalide in Ruhe versetzt worden sei. Frau und Kinder hätte er in Reval zurückgelassen und nie wieder etwas von ihnen gehört. Nach seiner Meinung war das aber nicht gar lange her, und er widersprach mit vieler Wärme, als die Bäuerin behauptete, es wären nun fünfunddreißig Jahre. Er setzte sich nicht weit von uns auf eine Bank. Der Hofrat und der Kurier trieben ihren Spaß mit ihm; er aber schien ihrer nicht zu achten, sondern sprach viel mit sich selbst, wovon ich aber nichts verstehen konnte. Endlich brach er laut in die mich zermalmenden Worte aus: »Wo bist du jetzt, meine Taube! Bist du in Reval, Riga oder Petersburg?«

Diese Worte paßten so ganz auf meinen Zustand und erschütterten mich so heftig, daß ich kaum noch Kraft genug hatte, mich umzuwenden und in den Hof zu gehen,[133] wo ich in einen Strom von bittern Tränen ausbrach. Ach, dieser Greis zeigte mir vielleicht das Bild meiner Zukunft! So werde auch ich vielleicht einst wahnsinnig herumwandern und jeden Reisenden um einen Brief aus Reval anflehen! So muß auch ich schon jetzt ausrufen: Wo bist du, Geliebte! Wo sind meine Kinder! Seid ihr in Reval, Riga oder Petersburg? Nie, nie habe ich wieder einen solchen zerstörenden, das Herz gleichsam auflösenden Schmerz empfunden, und das Bild dieses Greises verfolgt mich oft noch jetzt in schlaflosen Nächten!

Ich hatte mich noch nicht erholt, als der Wagen angespannt war, und konnte mein krampfhaftes Schluchzen lange nicht unterdrücken. Meine Begleiter begriffen nicht, was mir fehlte und warum ich nicht essen mochte; es war auch nicht der Mühe wert, ihnen das zu erklären: sie hätten doch nur über mich gelacht. Ich schäme mich fast zu gestehen, daß ich dem Greise beim Weggehn ein Stück Geld in die Hand drückte. Ein Mann, der seit fünfunddreißig Jahren so an Frau und Kindern hing, hatte, trotz seinen Lumpen, ein Herz, das nicht durch Geld zu trösten war. Auch sah er es gleichgültig an und dankte mir nicht dafür. Ich sprang in den Wagen und verbarg mein Gesicht.

Diese Begebenheit also war mein Willkommen in Sibirien, mit diesem Dorn in der Brust erreichte ich die letzte Station vor Tobolsk! Hier hatten die Flüsse Irtysch und Tobol in einer Strecke von vier Meilen alles überschwemmt. Wir mußten daher den Wagen stehen lassen, unsere Sachen in einen kleinen Kahn packen und die Reise zu Wasser antreten. Es war ein stiller und sehr heißer Tag. Wir ruderten ziemlich schnell; meine Begleiter[134] legten sich schlafen und überließen mich der marternden Ungewißheit, ob ich nun am Ziele meiner Reise sei oder nicht.

Ungefähr nach drei Stunden erblickte ich etwa in der Entfernung von einer halben Meile Tobolsk, welches am steilen Ufer des Irtysch erbaut ist. Es nimmt sich mit seinen vielen Kirchen ziemlich malerisch aus, besonders der obere Teil der Stadt, wo die Festung und der ehemalige Palast des Generalgouverneurs schön in die Augen fallen. Der letztere ist aber durch eine Feuersbrunst gänzlich verödet und imponiert nur noch in der Ferne.

Meine Begleiter erwachten; und jetzt zeigte sich sehr deutlich der Unterschied zwischen der rohen gutherzigen Natur und der bösartigen Hartherzigkeit. Der Hofrat überließ sich der ausgelassensten Freude; er spaßte, sang und lachte unaufhörlich, ohne auch nur eine leise Ahndung von dem Gefühle zu haben, welches Ehrfurcht vor dem Unglück gebietet. Er kam mir vor wie ein Scharfrichter, der, wenn er den Kopf des Delinquenten glücklich auf einen Hieb vom Rumpfe getrennt hat, sich lächelnd umwendet und das Publikum zu fragen scheint: Habe ich es recht gemacht? Der Kurier hingegen saß still und in sich gekehrt: er wußte wohl, daß hier sich mein Schicksal entscheiden werde; auf mich warf er nur verstohlne Blicke, und es ging kein Laut aus seinem Munde.

Jetzt schwammen wir durch einen Teil der untern Stadt, der noch völlig unter Wasser stand und wo die Einwohner auf Kähnen einander besuchten und ihre Geschäfte trieben. Wir landeten nachmittags um 4 Uhr, am 30sten Mai, nicht fern vom Markte – wie fast in ganz Asien Basar genannt –, ließen einen Fuhrmann mit einem[135] Kibitken kommen, warfen unsere wenigen Habseligkeiten hinein und fuhren gerades Weges zum Gouverneur, der oben auf dem Berge wohnte. Vor dessen Hause stieg der Hofrat zuerst allein aus und ließ mich mit dem Kurier zurück, um eine geheime Audienz zu haben. Diese Viertelstunde war eine der qualvollsten meines Lebens. Des Gouverneurs Bediente kamen einer nach dem andern heraus, begafften mich und flisterten miteinander. Endlich erschien der Hofrat, winkte mir, ihm zu folgen, und führte mich durch den Garten nach einem Gartenhause, wo der Gouverneur Mittagsruhe gehalten hatte. Im Gehen tat ich nur die einzige Frage an ihn: »Werde ich hier bleiben?« – und nun antwortete mir der unverschämte Mensch ganz trocken: »Ich weiß es nicht.«

Die Tür des Gartenhauses stand offen. Der Hofrat winkte mir, daß ich hineintreten sollte; er selbst blieb zurück. Ich trat also mutig hinein. Der Gouverneur, Herr von Kuschelew, den ich bereits in Perm als einen Menschenfreund hatte rühmen hören, ist ein Mann von etwas mehr als vierzig Jahren, mit einer klugen, edlen Physiognomie. Seine ersten Worte waren: »Parlez-vous français, Monsieur?« Es war mir, als hätte ein Engel vom Himmel geredet: so sehr freute ich mich darüber, daß ich mich doch endlich einmal vollkommen verständlich machen konnte. Ich stotterte mein Ja hastig heraus. Er nötigte mich darauf nicht wie einen Arrestanten, sondern wie einen Besuch, mich neben ihm niederzusetzen, und sagte: »Ihr Name ist mir sehr bekannt; es gibt einen Schriftsteller Ihres Namens.«

»Ach, leider,« rief ich aus, »bin ich selbst dieser Schriftsteller!«[136]

Er stutzte. »Wie!« sagte er: »Wie ist das möglich? Warum sind Sie hier?«

»Das weiß ich nicht. Man hat es nicht der Mühe wert gefunden, mir das zu sagen. Ich habe bis jetzt gehofft, es wenigstens von Ewr. Exzellenz zu erfahren.«

»Von mir? Ich weiß nichts, als was in dieser Order steht: daß Sie der Präsident Kotzebue aus Reval sind und daß man Sie meiner Aufsicht anvertraut.« Er zeigte mir die Order, die kaum aus fünf oder sechs Zeilen bestand.

»Ich komme nicht aus Reval, sondern von der preußischen Grenze.«

»Hatten Sie vielleicht keine Erlaubnis vom Kaiser? Keinen Paß?«

»O ja, einen sehr förmlichen Paß, im Namen Sr. Kaiserlichen Majestät und auf Dero Befehl vom Minister ausgefertigt. Er wurde aber nicht respektiert, sondern man riß mich aus den Armen meiner Familie, unter dem Vorwande, mich nach Petersburg zu bringen; doch statt dessen schleppte man mich ohne weitere Untersuchung hieher.«

Der Gouverneur wollte etwas sagen, hielt aber an sich. »Wissen Sie denn,« fuhr er endlich fort, »gar nichts, was man Ihnen etwa zur Last legen könnte?«

»Gar nichts, und wenn ich auf der Stelle sterben sollte! Ew. Excellenz können leicht glauben, daß ich während der langen Reise mein Gehirn genug gemartert habe, um eine Ursache dieser außerordentlichen Behandlung ausfindig zu machen.«

Der Gouverneur nach einer Pause: »Ich habe alles gelesen, was von Ihnen ins Russische übersetzt ist, und ich freue mich sehr, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen,[137] ob ich es gleich um Ihretwillen an diesem Orte nicht gewünscht hätte.«

»Es ist wenigstens eine große Erleichterung meines Elends, daß ich in die Hände eines solchen Mannes gefallen bin, und ich hoffe, daß ich werde hier in Ihrer Nähe bleiben dürfen.«

»So sehr ich selbst durch Ihren täglichen Umgang gewinnen würde, so steht es doch, leider, nicht in meiner Macht, Ihnen diesen Wunsch zu gewähren.«

Ich erschrak heftig. »Also nicht einmal hier darf ich bleiben?« rief ich schmerzlich aus: »Ist es denn nicht Unglücks genug, den Aufenthalt in Tobolsk als eine Gnade ansehen zu müssen? Soll ich mit meinem kränklichen Körper noch weiter reisen?«

»Was in meinen Kräften steht, werde ich jetzt und immer zu Ihrer Erleichterung beitragen; allein meine Order gebietet mir, Ihnen im Tobolskischen Gouvernement, nicht in Tobolsk selbst ihren Aufenthalt anzuweisen, und Sie wissen, daß ich mich genau an meine Order binden muß. Indessen lasse ich Ihnen unter allen kleinen Städten meines Gouvernements die Wahl, nur Tjumen ausgenommen, weil es an der großen Landstraße liegt.«

»Ich bin bis jetzt so unbekannt in Sibirien, daß ich diese Wahl allein dem Wohlwollen Ewr. Excellenz überlassen muß, und ich bitte nur, so nahe als möglich bei Tobolsk bleiben zu dürfen.«

Er nannte mir darauf Ischim als die nächste Stadt (sie ist 342 Werste oder ungefähr 50 deutsche Meilen von Tobolsk entfernt), setzte aber hinzu, wenn er mir als Freund raten solle, so möchte ich lieber nach Kurgan gehen. Es sei zwar etwas weiter (427 Werste oder 64 deutsche Meilen), hingegen in einem milderen Klima[138] gelegen. »Es ist,« sagte er lächelnd, »das Italien von Sibirien, und es wachsen dort sogar einige wilde Kirschen. Was aber mehr ist als Kirschen: es wohnt daselbst ein recht guter Schlag von Menschen, mit denen es sich noch am erträglichsten leben läßt.«

»Darf ich denn wenigstens einige Wochen hier bleiben, um mich von den ausgestandenen Beschwerlichkeiten zu erholen?« – Er bewilligte es nach einigem Bedenken sehr gütig und versprach, mir selbst einen Arzt zu schicken.

Jetzt lag mir noch eine schwere Frage auf dem Herzen. »Darf ich an den Kaiser schreiben?« stammelte ich.

»Allerdings.«

»Und an meine Frau?«

»Auch das. Doch nur unter dem Kuvert des Generalprokureurs, der alsdann den Brief befördern wird, wenn er nichts Bedenkliches darin findet.«

Mit etwas erleichtertem Herzen stand ich auf. Er gab Befehl, mir in der Stadt eine gute Wohnung anzuweisen, und ich empfahl mich nebst meinem Hofrat, der von ihm ziemlich geringschätzig behandelt wurde.

»Werden Sie hier bleiben?« fragte mich der Hofrat auf dem Rückwege. – »Nein!« antwortete ich ihm kurz und trocken; dem Kurier aber erzählte ich alles. Mein Hofrat sagte mir, der Gouverneur habe von ihm zu wissen verlangt, ob ich mit einem gewissen Schriftsteller meines Namens verwandt sei; er habe ihm aber diese Frage nicht zu beantworten gewußt. Ich lächelte. Überhaupt war es lustig, die großen Augen dieses Menschen zu sehen, als er nach und nach bemerkte, daß so viele Menschen in Tobolsk mich kannten und mir gleichsam den Hof machten. Sein Maximow in Moskau und sein Justifei[139] Timofeitsch in Kasan hatten ihm davon nichts gesagt; und, die Wahrheit zu gestehn, mir selbst war es höchst unerwartet, in einem so entfernten, rauhen Erdwinkel so viele Bekannte, ja ich darf sagen, so viele teilnehmende Freunde zu finden. Doch ich will meiner Erzählung nicht vorgreifen.

Die Polizei wies uns das Quartier an, welches jeder unglückliche Verwiesene von höherem Range bei seiner Ankunft zuerst zu betreten pflegt. Es sind zwei völlig leere Stuben bei einem Bürger der Stadt, der, weil er dieses onus – ich weiß nicht warum – unentgeltlich trägt, natürlicherweise auch keinen Beruf fühlt, für die zierliche Ausschmückung der Wohnung zu sorgen. Zerbrochene Fenster, kahle Wände, mit Streifen von ehemaligen Tapeten geziert, Ungeziefer in Menge, ein großer stehender Sumpf vor den Fenstern und daher ein mephitischer Geruch: das waren die Annehmlichkeiten, die ich sogleich auf den ersten Blick übersah; doch noch immer erfreulich für einen Menschen, der vielleicht in ein dunkles Gefängnis geworfen zu werden fürchtete: denn – mußte ich nicht alles erwarten? Mit demselben Rechte, mit welchem man mich nach Sibirien schickte, konnte man mir auch Kerker, Ketten und Knute zuerkennen. Jetzt war ich wirklich ruhiger; denn die Ungewißheit marterte mich nicht mehr. Ich stand nun auf dem Gipfel meines Unglücks und übersah meine ganze Lage ungehindert.

Durch eine Freigebigkeit, die meinem Hauswirte selten schien, die aber bloß eine meiner Gewohnheitstugenden ist, brachte ich es bald dahin, daß wir doch einige schlechte Möbel bekamen, nämlich einen Tisch und ein paar hölzerne Bänke. Bettstellen zu bekommen, durfte[140] ich nicht hoffen. Auch war es mir nichts Neues mehr, meinen Mantel auf die Erde zu breiten und mich mit einer alten seidenen Redingote zuzudecken, in die ehemals immer mein jüngstes Kind gewickelt wurde, wenn es etwa über die Straße oder durch Zugwind getragen werden sollte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß die Kammerjungfer meiner Frau mir diese Redingote mit in den Wagen geworfen hat; aber ich danke ihr noch heute dafür: denn an ihren Anblick knüpft sich so manche sanfte Empfindung. Ich kaufte mir hier auch wieder ein Bett-Unterpfühl. »Mein Sterbebett!« dachte ich, als ich mich zum ersten Male darauf niederwarf; und ich denke es noch, indem ich dieses schreibe.

Etwa eine Stunde nachher, als wir unsre Wohnung bezogen hatten, kam ein Polizeioffizier, von einem Unteroffizier begleitet, und übernahm mich förmlich aus den Händen des Hofrats, mit dem ich von nun an zu meiner großen Freude nichts weiter zu schaffen hatte. Der Polizeioffizier – Katalinsky hieß er – war ein junger Mann von einer einnehmenden Gesichtsbildung. Er sagte mir sehr höflich, daß er, da er der Form wegen täglich Rapport über mich abstatten müsse, sich jeden Morgen nach meinem Befinden erkundigen werde. Der Unteroffizier, setzte er hinzu, müsse zwar bei mir bleiben, solle mich aber nicht bewachen, sondern bedienen. Mit diesen Worten verließ er mich und ist mir auch während meines Aufenthaltes in Tobolsk nie beschwerlich gefallen.

Sobald der Hofrat sich von der Last, mich zu bewachen, befreit sah, ging er aus, mit dem Versprechen, mir einen Freund zuzuführen, den er vor einem Jahre auch hieher geleitet und von dem er mir schon unterwegs oft viel Rühmens gemacht hatte. Da sein Lob mir aus guten[141] Gründen sehr verdächtig war, so hatte ich eben kein Verlangen, diesen Freund näher kennen zu lernen. Desto angenehmer wurde ich aber überrascht, als ich bald darauf in dem Herrn von Kinjakow einen der gebildetsten jungen Männer kennen lernte. Er redete mich französisch an, versicherte, daß er mich als Schriftsteller kenne und ehre, erbot sich, mir aus allen Kräften zu dienen, beklagte, daß mich ein solches Schicksal betroffen und daß ich in Gesellschaft eines solchen elenden Menschen habe reisen müssen.

»Aber dieser Mensch nennt sich Ihren Freund!«

»Gott bewahre mich vor einem solchen Freunde! Daß ich ihn schonen mußte und noch schone, begreifen Sie leicht.«

Kinjakow, der Sohn eines wohlhabenden Edelmannes in der Stadt Simbirsk, ein paar hundert Werste südwärts von Kasan, war mit zweien seiner Brüder und drei andern Offizieren Hals über Kopf hieher geschickt worden, weil sie bei einem fröhlichen Gelage sich einige freie Scherze erlaubt hatten, die ein Verräter dem Kaiser hinterbracht haben mußte. Ihm allein unter seinen Gefährten war das Glück zuteil geworden, in Tobolsk zu bleiben. Ein paar wurden nach Irkutsk gesandt; sein jüngerer Bruder saß 4000 Werste von Tobolsk in einer kleinen Festung in Ketten; ein anderer schmachtete in Beresow, das heißt in der Hölle.

Mir gewährte es einen nicht geringen Trost, einen Menschen anzutreffen, der die edelsten Gesinnungen und die feinsten Gefühle zu haben schien und mit dem ich schon in der ersten Viertelstunde eine Art von Freundschaft errichtete. Er erwähnte einer kleinen Bibliothek, die er besitze – welch eine Nachricht! Er versprach mir Bücher[142] – welch ein Glück! Ich hatte so lange kein Buch gesehen. Von ihm erfuhr ich auch zuerst, daß der Kaiser vor kurzem die ganze ausländische Literatur verboten habe und daß man daher jedes Buch, welches man besitze, als einen Schatz betrachten müsse. Er erzählte mir ferner, daß mehrere meiner Stücke auf dem Tobolskischen Theater gespielt würden, freilich elend, aber doch mit großem Beifall; und daß daher meine Ankunft in der Stadt mehr Sensation gemacht habe als wenn – so drückte er sich aus – der Kaiser sechs Generale en chef hergeschickt hätte. Er bot mir endlich sein Haus zur Wohnung und seinen Tisch an, wenn der Gouverneur es erlaube; und so trennten wir uns nach einer Stunde, gegenseitig sehr zufrieden miteinander.

Nach und nach fanden sich mehrere Verwiesene bei mir ein. Ein gewisser Baron Sommaruga, aus Wien gebürtig, seinem Vorgeben nach Obrister in östreichischen Diensten und Ritter des Theresien-Ordens, der in Riga eine Liebesgeschichte und ein Duell gehabt hatte und, wie er behauptete, deshalb verwiesen war. Ein unbegünstigter, aber mächtiger Nebenbuhler seiner Geliebten und jetzigen Frau hatte ihm dieses Schicksal zubereitet, doch selbst keinen Vorteil davon gezogen. Denn die junge, kaum achtzehn Jahre alte Frau hatte vierzehn Tage nach ihres Mannes Wegbringung ihre Vaterstadt, ihre Eltern und Freunde verlassen und war ganz allein, ohne ein Wort Russisch zu verstehen, bloß von dem Fuhrmann begleitet, der sie führte, ihrem Manne ins Elend gefolgt. In Moskau erfuhr sie, daß er in Twer krank läge. Sogleich kehrte sie wieder um, traf ihn in Twer, pflegte ihn bis zu seiner Wiederherstellung und reiste dann mit ihm nach Tobolsk, wo ich sie selbst[143] gesehen und ihre standhafte Liebe bewundert habe. Ihr gutes Herz bewies sich auch an mir; denn da ich anfangs (nicht aus Mangel an Gelde, sondern aus Unkunde der Zubereitung) außer trockenem Brote gar nichts zu essen hatte, so schickte sie mir einigemal Suppe und Braten von ihrem Tische.

Ein anderer Verwiesener war ein gewisser Graf Soltikow, ein reicher alter Mann, der, wie man sagte, wegen Wuchers sich schon seit vielen Jahren hier aufhalten mußte und ein gutes Haus machte. Er verstand mehrere Sprachen, schien ein angenehmer Gesellschafter zu sein und versorgte mich mit deutschen und französischen Zeitungen.

Drei Kaufleute aus Moskau, zwei Franzosen und ein Deutscher namens Becker, gehörten auch unter die Zahl der Unglücklichen, weil sie sich eine geringe, 200 Rubel werte Konterbande hatten zuschulden kommen lassen. Der letztere besonders schien ein sehr wackerer, dienstfertiger Mann zu sein. Seine Frau war nach Petersburg gereist, um seine Befreiung zu versuchen; sollte ihr das aber nicht gelingen, so erwartete er sie und seine Kinder mit der ersten Schlittenbahn. Dadurch weckte er in mir die tröstende Idee, daß alsdann vielleicht meine Familie mit der seinigen Gesellschaft machen könnte.

Drei oder vier Polen, deren Namen ich vergessen habe und die sich wegen politischer Vergehungen hier befanden, besuchten mich gleichfalls. Es waren sehr arme Edelleute, deren jeder von der Krone täglich 20 Kopeken (jetzt ungefähr drei Groschen Sächsisch) zu seinem Unterhalte bekam. Kurz, mein Zimmer wurde nicht einen Augenblick leer, und die Wahrheit zu sagen, das fiel mir lästig; ich war froh, daß ich, als der Abend heran[144] kam, mich ungestört auf mein hartes Lager werfen und meinen Gedanken nachhängen durfte.

Ich entschlummerte endlich, und in dieser Nacht begegnete mir ein höchst sonderbarer Zufall, dessen Erklärung ich meinen Freunden Hufeland oder Gall überlasse. Etwa um Mitternacht erwachte ich, und es kam mir vor, als wäre ich auf einem Schiffe; ich empfand nicht allein ganz eben dieselbe Bewegung, sondern hörte auch das Rauschen der Wellen und sogar das Schreien und Rufen der Matrosen. Dabei war ich meines Bewußtseins völlig mächtig. Da ich auf der Erde lag, so konnte ich, wenn ich nach dem Fenster blickte, nur den Himmel sehen, was denn die Täuschung noch vermehrte. Ich war mir dessen bewußt und stand daher auf; doch vergebens! Es war gleichsam ein Kampf zweier Seelen in mir, deren eine mich ebenso mächtig in meinem Wahne bestärkte, als die andre mir zurief: Es ist nur Täuschung! Ich wankte im Zimmer umher, sah den Hofrat schlafen, sah, daß alles war wie gestern Abend, trat ans Fenster und heftete mein Auge starr und lange auf ein großes steinernes Gebäude, welches mir gegenüber stand; und dieses Gebäude war das einzige, was sich nicht zu bewegen schien: alle die übrigen hölzernen Häuser schienen mir Schiffe, und ringsumher glaubte ich das offene Meer zu sehen. »Wo schleppt man mich hin?« fragte die eine Seele. »Nirgends,« versetzte die andere; »du bist in deinem Zimmer.« Dieser Zustand, dessen seltsame Qual keiner eigentlichen Beschreibung fähig ist, währte wohl eine halbe Stunde; nach und nach verminderte er sich, und endlich hörte er ganz auf. Nur ein ängstliches Herzklopfen und ein geschwinder zitternder Puls blieben mir noch zurück. Kopfschmerz hatte ich nicht dabei,[145] auch keinen Druck, keine Hitze im Kopfe. Ich glaube daher, daß mein Zustand ein Vorbote des Wahnsinns war.

Am folgenden Morgen besuchte mich der Hofrat Peterson, Generalstabs-Chirurgus in Tobolsk, ein Revaler von Geburt. Er erklärte den Zufall freilich sehr leicht und natürlich durch die vorhergegangene viele Unruhe. Mir war diese Erklärung nicht psychologisch genug; doch zweifle ich fast selbst, daß man eine genugtuendere zu geben imstande sein wird. Übrigens empfing ich diesen wackern Mann mit dem günstigsten Vorurteil; denn er war ja ein Landsmann meiner guten Frau! Aber auch ohnedies würde er durch seine herzliche, ungekünstelte Teilnahme mein Vertrauen bald gewonnen haben. Er hat mir während meines Aufenthaltes in Tobolsk täglich Beweise seiner Menschenliebe gegeben. Ja, sie haben mich sogar bis in meine Einöde begleitet: denn ihm verdanke ich einen kleinen Vorrat von einigen der notwendigsten Arzneimittel, die mir in Kurgan, wo ich mein eigener Arzt sein muß, unschätzbar sind. Auch tat er in Tobolsk alles mögliche, um den Gouverneur zu bereden, daß er mich dort behalten sollte. Ich glaube aber in der Tat, daß dieser es nicht bewilligen konnte. Denn in der Order, welche der Begleiter jedes Gefangenen mitzubringen pflegt, steht entweder: »Der Gefangene wird nach Tobolsk gesandt« oder »in das Tobolskische Gouvernement«. Im letztern Falle ist auch zuweilen der Ort hinzugefügt, wohin er geschickt werden soll, als Beresow, Omsk usw. Ist das nicht geschehen, so steht es dem Gouverneur frei, den Ort selbst zu bestimmen. Und auf diesen Umstand gründeten meine neuen Freunde die Hoffnung, daß sie ihn vielleicht bewegen[146] würden, mich dort zu behalten. In der Regel aber darf des Gouverneurs Wahl nie die Gouvernements-Stadt treffen, und wenn er aus besonderm Wohlwollen zuweilen von dieser Regel abweicht, so geschieht es doch nur bei wenig bekannten Personen, von denen zu vermuten ist, daß man nicht weiter nach ihnen fragen wird. Ich aber war, leider, allzubekannt; meine Sendung selbst war mit ungewöhnlichen Umständen verknüpft, die sie wichtiger machten als manche andre. Der Gouverneur mußte heimliche Angebereien befürchten, die jetzt ohnehin nicht selten sind. Kurz, sein ganzes Benehmen hat mich überzeugt, daß es ihm selbst in der Seele weh tat, keine Rücksicht auf die Vorbitte meines Arztes nehmen zu dürfen, ungeachtet dieser sie mit medizinischen Gründen unterstützte. Er machte mir indes Hoffnung, mir zuweilen Erlaubnis zu einer Reise nach Tobolsk zu erteilen, wenn mein Gesundheitszustand es erfordern sollte.

Den ersten ganzen Tag blieb ich zu Hause und beschäftigte mich, so oft ich nicht von lästigen Besuchen unterbrochen wurde, mit meinem Memorial an den Kaiser, welches ich jetzt, da ich die Materialien unterwegs so fleißig zusammengetragen hatte, fast nur abzuschreiben brauchte. Ich kleidete es in achtzehn Punkte ein, deren jeden ich mit den bündigsten Beweisen belegte; und ich bin es meiner Ehre, meinen Kindern, meiner Unschuld, der Welt und Nachwelt schuldig, dieses Memorial dem Leser in einem Auszuge (aus dem französischen Original) mitzuteilen. Ein Teil dieses Auszuges ist noch in Kurgan geschrieben. Den Überrest und alles andere, was noch in diesem Buche folgt, habe ich erst späterhin aufgesetzt. Es enthält zugleich einen kurzen Abriß meines[147] ganzen öffentlichen und zum Teil auch meines Privatlebens, worüber in Deutschland, England und Frankreich so manches Unwahre oder Halbwahre geschrieben worden ist.


Memorial für den unglücklichen Kotzebue, mit Beweisen unterstützt, die sich fast sämtlich unter den ihm weggenommenen Papieren befinden.


1. Kotzebue, in Weimar geboren, ein Sohn des verstorbenen Legationsrats Kotzebue, wurde in seinem zwanzigsten Jahre durch den Grafen von Goertz, damaligen preußischen Minister am Russischen Hofe, einen Freund seines Vaters, nach Petersburg berufen und ging dahin als Sekretär des Generalingenieurs von Bawr, dem er in mancherlei Krongeschäften bis an dessen Tod redlich diente.

BEWEIS: Der General empfahl ihn in seinem Testamente der Kaiserin, welche ihn durch einen Immenoi-Ukas zum Titulär-Rat ernannte und den Befehl gab, daß er in der neuerrichteten Revalschen Statthalterschaft angestellt werden sollte.


2. K. ging also 1783 nach Reval, als Assessor des dortigen Oberappellations-Tribunals, und verwaltete dieses Amt zwei Jahre zur Zufriedenheit seiner Obern.

BEWEIS: Der Generalgouverneur, Graf Browne, empfahl ihn zu der erledigten Stelle eines Präsidenten des Gouvernements-Magistrats (welche den Rang eines Obristlieutenants erteilt), und der Senat ernannte ihn dazu im Jahre 1785.


3. K. bekleidete dieses Amt zehn Jahre lang ohne Tadel.

ERSTER BEWEIS: Als K. nach zehn Jahren durch seine sehr[148] geschwächte Gesundheit genötigt wurde, um seinen Abschied zu bitten, erteilte ihm der Senat denselben mit Erhöhung des Ranges. Der Senats-Ukas befindet sich unter den weggenommenen Papieren.

ZWEITER BEWEIS. Die Regierung in Reval stellte ihm über seine untadelhafte Amtsführung ein förmliches Zeugnis aus, dessen Original gleichfalls unter den versiegelten Papieren befindlich ist.


4. Kotzebue zog sich im Jahre 1795 auf das Land zurück, wo er 48 Werste von Narwa sich den kleinen Landsitz Friedenthal anbaute und bis zum Herbst 1797 sich, seiner Familie und den Musen still und ruhig lebte. Dann wurde er nach Wien berufen, um an der Direktion der dortigen Hoftheater teilzunehmen. Man trug ihm vorteilhafte Bedingungen an. Er glaubte, seinen Kindern dieses Opfer schuldig zu sein, bat seinen Monarchen um dessen Einwilligung und erhielt sie.

BEWEIS: Der Paß, welchen die Regierung in Reval ihm auf höhern, ausdrücklichen Befehl ausfertigen ließ.


5. Kotzebue ging nach Wien, doch ohne seinen Landsitz in Estland zu veräußern, wohin er einst zurückzukehren hoffte. In Wien erfüllte er seine Pflichten redlich und mit Eifer.

BEWEIS: Das höchst schmeichelhafte Zeugnis der Oberhoftheatraldirektion, dessen Original unter den weggenommenen Papieren befindlich ist.


6. Se. Majestät Kaiser Franz der Zweite selbst war mit seinen Diensten und seinem Betragen zufrieden.

BEWEIS: Er bewilligte zwar den Abschied, den Kotzebue sich aus verschiedenen Ursachen erbat, behielt ihn aber als Hoftheater-Dichter in seinen Diensten, mit einer lebenslänglichen Pension von 1000 Gulden, und der[149] Erlaubnis, diese zu verzehren, wo er wolle. Das Originaldekret und ein Brief des Ministers Grafen Colloredo über diesen Gegenstand sind gleichfalls unter den verdächtig geglaubten Papieren.


7. Kotzebue war mit diesen ehrenvollen Zeugnissen, welche bloß seine Dienste betrafen, noch nicht zufrieden; er glaubte, ehe er Wien verließ, auch noch ein Zeugnis seines Betragens als Bürger eines monarchischen Staates verlangen zu müssen, wandte sich deshalb an den Minister der Geheimen Polizei, Grafen Saurau, und erhielt die befriedigendste Antwort.

BEWEIS: Das Originalbillett des Ministers und ein offizieller Brief des Hofrats von Schilling, beide unter den weggenommenen Papieren befindlich.


8. Von Wien begab sich Kotzebue geraden Weges nach Weimar, seiner Vaterstadt, wo er aus kindlicher Liebe zu einer fast siebzigjährigen Mutter für einige Zeit seinen Aufenthalt wählte. Er kaufte sich Haus und Garten in der Nachbarschaft und lebte daselbst während des letzten Jahres gekannt und geachtet, sowohl von dem herzoglichen Hofe, den er zu frequentieren die Ehre hatte, als auch von allen seinen Mitbürgern.

BEWEIS. Ein Brief der regierenden Frau Herzogin von Weimar Durchlaucht an die Frau Großfürstin Elisabeth Kaiserliche Hoheit, den man gleichfalls unter seinen Papieren gefunden haben wird. Er beruft sich übrigens dreist auf das Zeugnis des regierenden Herrn Herzogs wie auch der verwitweten Frau Herzogin Mutter.


9. Teils um die Sehnsucht seiner Gattin, einer gebornen Livländerin, zu befriedigen, teils um nach einer langen Trennung zwei Söhne zu umarmen, welche so glücklich sind, in dem adeligen Landkadettenkorps in Petersburg[150] erzogen zu werden, entschloß sich Kotzebue zu einer Reise nach Rußland. Seine Pflicht als Hoftheaterdichter des K.K. Hofes verband ihn vor allen Dingen, in Wien um einen Urlaub nachzusuchen, welcher ihm zugestanden wurde.

BEWEIS: Das Original desselben ist unter seinen Papieren und zeigt zugleich, daß er wirklich noch in K.K. Diensten steht.


10. Kotzebue wagte es nunmehr, Se. Majestät den Russischen Kaiser um einen Paß zu bitten, und erhielt ihn. (Hier wurden die näheren Umstände angeführt.)

BEWEIS: Der Brief des Herrn Barons von Krüdener im Original.


11. Kotzebue reist und wird an der Grenze arretiert. Er ist im ersten Augenblicke bestürzt, beruhigt sich aber bald durch den Gedanken: daß weise Vorsicht eine Maßregel vorgeschrieben haben könne, welche der Schwindel unserer Zeiten vielleicht sehr notwendig mache. Im Vertrauen auf die Unschuld seiner Papiere und auf sein gutes Gewissen tröstet er seine zagende Familie und setzt seine Reise bis Mitau ruhig fort.

BEWEIS: Er beruft sich auf das Zeugnis des ihn begleitenden Offiziers.


12. In Mitau wird er von seiner Familie getrennt, und zwar unter dem Vorwande, nach Petersburg geschickt zu werden. Auch in diesen Befehl fügt er sich willig, erfährt aber bald, daß man ihn gerade nach Sibirien schleppt.

Jetzt erst bemächtigt sich Verzweiflung seiner Seele. Er fragt sich vergebens, welches Verbrechen er begangen habe. Sein Gewissen ist rein vor Gott und seinem Souverän.
[151]

13. Ist es vielleicht wahrscheinlich, daß er revolutionäre Grundsätze hege? – Nein.

ERSTER BEWEIS: Zwei seiner Söhne sind im Kadettenkorps zu Petersburg und der dritte im Ingenieurkadettenkorps zu Wien. Sie sind gleichsam Geiseln, die er freiwillig gestellt hat.

ZWEITER BEWEIS: Sein ganzes Vermögen so wie auch das Vermögen seiner Gattin befindet sich in Rußland, und nie hat er den geringsten Versuch gemacht, es herauszuziehen.

DRITTER BEWEIS. Es stand ihm frei zu gehen, wohin er wollte; er ging aber nicht nach Frankreich, sondern nach Weimar, und Se. Majestät der Römische Kaiser ließ ihm nach wie vor sein Gehalt auszahlen.

VIERTER BEWEIS: Er war der erste, der schon 1790 in einem Lustspiele Der weibliche Jakobiner-Club das Ausschweifende der Französischen Revolution persiflierte. Im Jahre 1792 schrieb er ein Buch Vom Adel, welches, wenn es gleich nur durch den Gegenstand Aufmerksamkeit verdient, wenigstens die loyalen Gesinnungen des Verfassers beweist.

FÜNFTER BEWEIS: Es ist kaum ein Jahr her, als er in einer Schrift, Über meinen Aufenthalt in Wien betitelt, öffentlich erklärte: »daß er die monarchische Verfassung jeder andern vorziehe und daß er nie die Hand zu einer Revolution bieten werde, ohne vorher ein Narr oder ein Schurke geworden zu sein«. – Ein Schriftsteller, der fast in ganz Europa bekannt ist, würde sich gewiß hüten, eine so starke Äußerung im Angesichte der Welt drucken zu lassen, wenn er nicht von der Dauer seiner Gesinnungen überzeugt wäre.

SECHSTER BEWEIS: Schon im Jahre 1795 überreichte er[152] der Kaiserin Katharina der Zweiten den Plan zu Errichtung einer Universität in Dorpat und führte, unter andern Beweggründen, auch den mit an: daß die Jünglinge dort weniger in Gefahr sein würden, ruhestörende Grundsätze einzusaugen.


14. Unterhält Kotzebue vielleicht verdächtige Verbindungen? – Nein!

BEWEIS: In dem großen Buche, welches sich unter seinen Papieren befindet, wird man nicht allein die Namen aller derer antreffen, mit welchen er in Korrespondenz steht, sondern auch die Brouillons aller seiner Briefe von einiger Wichtigkeit.


15. Vermutet man vielleicht, daß seine Einkünfte aus einer unreinen Quelle herrühren? – Man würde sehr irren.

BEWEIS: Das angeführte Buch enthält die genaue Angabe aller seiner Einnahmen.


16. Hat er vielleicht jemals über Politik geschrieben? – Nein!

BEWEIS: Das angeführte Buch enthält eine jährliche Liste aller seiner schriftstellerischen Arbeiten.


17. Wäre es vielleicht möglich zu argwöhnen, daß seine persönlichen Gesinnungen gegen den Kaiser nicht den Stempel der schuldigen Ehrfurcht trügen? – Gerade das Gegenteil.

BEWEIS: Als er im Jahre 1796 einen Zug von der großmütigen Freigebigkeit des Kaisers in Erfahrung brachte, ergriff er diesen Gegenstand mit Wärme und machte ein kleines Drama daraus, Der alte Leibkutscher Peters des Dritten, welches, obschon vielleicht des Monarchen unwert, doch wenigstens die Gesinnungen des Verfassers in ein helles Licht stellt.
[153]

Endlich 18. Ist Kotzebue vielleicht ein so unmoralischer Mensch, daß man ihn aus der Gesellschaft verbannen muß? – Gewiß nicht!

ERSTER BEWEIS: Man öffne, wo man wolle, sein Tagebuch kleiner merkwürdiger Begebenheiten, welches gleichfalls unter den weggenommenen Papieren ist: was wird man finden? Hier einen Baum, den er am Geburtstage seiner Gattin pflanzte; dort ein ländliches Fest oder den ersten Zahn eines Kindes; kurz, man wird sehen, daß er seine süßesten Freuden immer im Schoße seiner Familie suchte und fand.

ZWEITER BEWEIS: Der Kalender, der bei seinen Papieren liegt und in welchem er Franklins Mittel, moralisch vollkommner zu werden, zu realisieren suchte, sei Zeuge, daß er die Tugend aufrichtig liebt. Man wird auf den ersten Blick bemerken, daß er diese Bekenntnisse nur für sich allein geschrieben und daß er nie geglaubt hat, sie vor seinem Tode in fremden Händen zu sehen. Er wird in diesen Bekenntnissen zuweilen als ein schwacher, aber gewiß nie als ein lasterhafter Mensch erscheinen. Wer ihn kennt, weiß überdies, daß er ein zärtlicher Gatte und Vater ist: Eigenschaften, die mit dem Laster unvereinbar sind.

Kotzebue hat also bewiesen, daß er seit zwanzig Jahren untadelhaft gelebt und gedient, nie revolutionäre Grundsätze gehegt und nie verdächtige Verbindungen gehabt hat; daß er nie politischer Schriftsteller gewesen ist, daß er seinen Monarchen ehrt und daß er Weib und Kind, Tugend und Ruhe liebt. Durch welches unfreiwillige Vergehen ist er denn nun so unglücklich gewesen, sich Ewr. Majestät Zorn zuzuziehen? Er weiß es nicht; er sucht vergebens, es zu erraten, und es bleibt ihm keine[154] andere Vermutung übrig als die: daß vielleicht ein heimlicher Feind Sätze oder Perioden seiner Schriften aus dem Zusammenhange herausgerissen und in einem nachteiligen Lichte dargestellt habe. Ist diese Vermutung gegründet, so bittet er um die einzige Gnade, sich verteidigen zu dürfen. Ew. Majestät wissen zu gut, wie leicht die unschuldigste Äußerung durch eine boshafte Wendung entstellt werden kann. Kotzebue kann sich oft geirrt haben – ein Schicksal, welches er mit allen Schriftstellern gemein hat; es kann ihm hier und da ein unbedachtes Wort, eine übel gesagte Phrase entschlüpft sein: aber nie – er schwört es vor Gott und dem Throne seines Monarchen! – nie hat er sich von der Bahn der Tugend entfernen wollen. Hat er unwissend gefehlt: nun, er hat dafür gebüßt, und – die Vaterhand seines Kaisers wird den Tiefgebeugten wieder aufrichten.

Werfen Ew. Majestät einen Blick auf seine schreckliche Lage! Seine schwangere Gattin tötet vielleicht der Gram, indem sie einem Geschöpfe das Dasein gibt, dessen erster Laut das Geschrei des Elends sein wird! Sein Wohlstand ist zerrüttet und seine verwaisten Kinder werden darben! Sein Ruf ist befleckt; die Welt wird glauben, er habe ein Verbrechen begangen! Da er seit zwölf Jahren kränklich und in einem fürchterlichen Himmelsstriche dem Mangel ausgesetzt ist, so werden Gram, Elend und Krankheit bald sein Leben endigen! Er, ein geliebter Gatte und Vater von sechs Kindern, wird, verlassen von der ganzen Welt, seine letzten Seufzer aushauchen! Dies ist das schreckliche Los eines Unschuldigen! Nein, nein! Paul der Gerechte lebt noch! Er wird dem Unglücklichen Ehre, Leben und Ruhe wiederschenken, indem er ihn in die Arme seiner Familie zurückführt. – – –[155]

Als ich dieses Mémoire beinahe vollendet hatte, wollte mein Hofrat soeben einen Besuch bei dem Gouverneur abstatten. Ich trug ihm auf, sich zu erkundigen, zu welcher Zeit am folgenden Tage ich dem Gouverneur aufwarten dürfe, um ihm mitzuteilen, was ich geschrieben hätte. Er brachte mir zu seinem eigenen Erstaunen die Antwort zurück: von morgens um fünf bis abends um elf Uhr stehe der Gouverneur ganz zu meinen Diensten. Der Herr Hofrat konnte nicht begreifen, wie man mit einem Verwiesenen so viele Umstände machen und einen Hofrat so vernachlässigen könne!

Am folgenden Morgen ging ich zu dem Herrn von Kuschelew, ohne von einer Wache begleitet zu sein. Er empfing mich mit ausgezeichneter Achtung. Ich las ihm mein Mémoire vor. Am Schlusse desselben ließ er einige Tränen fallen, ergriff meine Hand, drückte sie mit Wärme und sagte mit einer tröstlichen Überzeugung: »Beruhigen Sie sich! Ihr Unglück wird gewiß nicht lange dauern.« Hierauf war er so gütig, das Mémoire selbst noch einmal mit vieler Aufmerksamkeit durchzugehen und mir jede Stelle, jedes Wort anzudeuten, wo er etwa einen mildern, schonendern Ausdruck für wirksamer hielt. Ich benutzte seine Bemerkungen, schrieb dann alles ins Reine (wozu er mir selbst von seinem besten Papiere gab) und überlieferte hierauf die Abschrift seinen Händen. Er versprach, sie durch meinen Hofrat, der in wenigen Tagen nach Petersburg zurückkehren sollte, gerade an den Monarchen zu senden; und er hat Wort gehalten.

Wo nähme ich überhaupt Ausdrücke her, den an mir bewiesenen Edelmut dieses Mannes nach Verdienst zu schildern! Es stand in seiner Willkür, mich allenfalls[156] nach Beresow an die Küste des Eismeers zu verweisen, wo in den heißesten Sommertagen die Erde kaum in der Tiefe einer halben Elle auftaut; er wählte mir aber das mildeste Klima seines Gouvernements und ein Städtchen, dessen Bewohner er als gute Menschen kannte. In Tobolsk konnte er mich meinem einsamen Gram und dem Mangel überlassen; er zog mich aber fast täglich an seine Tafel, ohne die Blicke der beiden Senatoren zu scheuen, welche eben gegenwärtig waren, um seine Verwaltung zu untersuchen: eben die, deren Kurier meine Hoffnung in Kasan so schrecklich täuschte.

Er tat noch mehr. Da er sah, daß ich der russischen Sprache noch nicht sehr mächtig war und also oft in Verlegenheit kommen mußte, so erlaubte er mir, einen Bedienten anzunehmen, der außer der russischen Sprache noch eine andere mir geläufige verstände. Die Wahl eines solchen Subjekts war leicht. Denn es befand sich in ganz Tobolsk nur ein einziger Mensch, ein Italiener namens Russi oder Rossi (man nannte ihn gewöhnlich Ruß), der sich dazu erbot. Auch er war ein Verwiesener und schon seit zwanzig Jahren hier. Er hatte vormals auf der Flotte zu Cherson gedient und mit mehreren seiner Kameraden ein Komplott gemacht, den Offizier, der ihr Schiff kommandierte, umzubringen und das Schiff selbst den Türken zuzuführen. Die Verschwörung war aber vor der Ausführung verraten und mein Ruß durch den Fürsten Potemkin nach Sibirien geschickt worden. Hier mußte er sich zwar als Bauer einschreiben lassen und die gewöhnlichen Bauernabgaben entrichten, erhielt aber jährlich von dem Schulzen oder Vorsteher des Dorfes einen Paß, um sich in der Stadt nach eigenem Belieben zu nähren. Das verstand er denn auch[157] vortrefflich. Er war ein Tausendkünstler, machte heute Kleider oder Schuhe und morgen kleine Bratwürste, trug sich jedem fremden Durchreisenden als eine Art von Lohnlakai an, spielte den Kuppler und ging mit auf Reisen, wenn diese nicht die Grenzen des Gouvernements überschritten; kurz, er ließ sich zu allem gebrauchen. Eine feine Physiognomie und ein sehr listiger Blick zeichneten ihn sogleich aus. Sein eigentliches Handwerk war Betrügen, und der Gouverneur warnte mich vor ihm, da er bis jetzt noch jeden seiner hundert Herren betrogen und bestohlen habe; doch mir blieb keine Wahl übrig. Dieser Mensch sprach ebenso geläufig Französisch als Russisch, kannte überdies das ganze Land, war überall gewesen, konnte backen und kochen; kurz, er war mir unschätzbar. Ich nahm ihn daher für drei und einen halben Rubel monatlich und Essen und Trinken in meine Dienste. Und der Gouverneur erlaubte mir sogar, bei meiner Abreise nach Kurgan ihn mitzunehmen: eine Begünstigung, die, wenn man sie in Petersburg erfuhr, ihn leicht seine Stelle kosten konnte. Zwar stand Russis Name nicht mit in dem mir erteilten Postpaß; aber der Gouverneur sah doch durch die Finger. Übrigens schlüpfte der Kerl, da er alle Dörfer ringsumher kannte, glücklich mit durch.

In den ersten Tagen meines Aufenthaltes zu Tobolsk genoß ich, wie schon gesagt, einer fast unbegrenzten Freiheit. Ich konnte Besuche geben und annehmen, wann und so oft ich wollte. Mein Zimmer wurde selten leer von Besuchenden, und ich selbst war oft und gern bei meinem neuen Freunde Kinjakow, den ich sauber und nett eingerichtet fand und bei dem eine auserlesene kleine Bibliothek, besonders von den besten französischen[158] Werken, mich anlachte. Ich ging allein auf den Straßen, ich ging allein außerhalb der Stadt spazieren und niemand gab acht auf mich.

Das änderte sich aber plötzlich. Der Gouverneur ließ mich eines Morgens zu sich rufen und teilte mir seine Besorgnisse sehr gütig mit. »Ihre Ankunft,« sagte er, »fährt fort, außerordentliches Aufsehen zu machen. Ich darf Sie daher nicht als einen gewöhnlichen Exilierten betrachten, sondern muß behutsam gehen. Der Hofrat, Ihr Begleiter, macht noch immer keine Anstalten zu seiner Rückreise. Vielleicht hat er insgeheim den Auftrag, mein Betragen gegen Sie zu beobachten. Auch die Senateurs könnten es auffallend finden, wenn ich Sie zu sehr auszeichnete. Es geschieht daher um meiner und sogar um Ihrer eigenen Sicherheit willen, wenn ich Sie künftig etwas mehr einschränke. Ich bitte« – der edle Mann konnte befehlen, aber er bat – »ich bitte Sie, nehmen Sie keine Besuche mehr an, außer von Ihrem Arzte; gehen Sie auch zu niemandem, außer zu dem und zu mir: mein Haus steht Ihnen immer offen.«

Ich bat ihn, wenigstens in Ansehung des Herrn Kinjakow eine Ausnahme zu machen. Er zuckte die Achseln, lobte zwar diesen verdienstvollen jungen Mann, dessen Gesellschaft er selbst liebte, gab mir aber dabei zu verstehen, daß gerade Kinjakow (von dessen Unschuld er selbst überzeugt sei) in Petersburg am schlimmsten angeschrieben stehe und daß ein Bericht über meinen Umgang mit ihm mir den meisten Schaden tun könne. Ich dankte ihm für die Güte, mit welcher er mir seine Gründe auseinandersetzte, und gehorchte schweigend.

Bis dahin hatte ich nur einen alten Unteroffizier namens André Iwanowitsch in meinem Vorzimmer gehabt, der[159] ein etwas bornierter, sehr gutmütiger alter Mann war und fast den ganzen Tag schlief. Jetzt kam noch ein zweiter, jüngerer hinzu, der mich indessen ebenso wenig wie der ältere genierte. Beide bedienten mich, kochten mir Teewasser, holten mir vom Markte, was ich brauchte, wiesen aber auch, den Arzt ausgenommen, jedermann ab, der mich besuchen wollte, und so oft ich ausging, begleitete mich einer von ihnen. Ich merkte bald, daß sie angewiesen waren, darauf acht zu geben, daß niemand mit mir spräche und daß ich kein fremdes Haus beträte; übrigens ließen sie mich aber ungehindert in der Stadt und außerhalb der Stadt umhergehen, wo ich wollte.

Durch meinen verschmitzten Ruß konnte ich indes sehr leicht Billette mit meinen neuen Freunden wechseln. Wir gaben uns öfters Rendezvous auf dem Markte, unter den bedeckten Buden; und indem wir beide eine Ware zu besehen und darum zu handeln schienen, sprachen wir verstohlen einige Worte miteinander.

Auf die Verschwiegenheit der Kaufleute und Krämer konnten wir uns dabei sicher verlassen. Es schien überhaupt, als ob das Unglück, exiliert zu sein, in Sibirien Anspruch auf allgemeine Achtung und Hülfe gäbe. Mehrere Kaufleute, die ich zum ersten Male in meinem Leben sah, haben mir, wenn ich an ihrem Laden vorbeiging, zugeflistert: »Wollen Sie vielleicht einen Brief an Ihre Familie schreiben? Geben Sie ihn mir. Er soll richtig bestellt werden.« Und das taten sie ohne Eigennutz, ohne etwas dafür zu verlangen. Selbst die Benennung, mit der man die Verwiesenen allgemein bezeichnete, schien entweder von zarter Schonung oder von der Überzeugung ihrer Unschuld eingegeben zu sein; denn man[160] nannte sie neschtschastii – Unglückliche. Nie habe ich eine andere, am wenigsten erniedrigende, auf Verbrechen hindeutende Benennung der Verwiesenen gehört.

Der Ausländer pflegt mit den Worten Verweisung nach Sibirien so mancherlei teils dunkle, teils falsche Begriffe zu verbinden, daß ich ihm einen Dienst zu erzeigen glaube, wenn ich seine Vorstellungen davon berichtige. Es gibt sehr verschiedene Klassen von Verwiesenen.

Erstens: Wirklich überwiesene schwere Verbrecher, die ihre Obrigkeit gesetzlich verurteilt hat und deren Urteil vom Senat in Petersburg bestätigt worden ist. Diese werden zu den Arbeiten in den Bergwerken von Nertschinsk verdammt, müssen die Reise dahin zu Fuß in Ketten machen und leiden allerdings mehr als den Tod. Gewöhnlich haben sie vorher die Knute bekommen und man hat ihnen beide Nasenlöcher aufgerissen.

Zweitens: Eine andere Gattung von minder großen Verbrechern, die indes doch auch durch Urteil und Recht ihre Strafe dulden. Sie werden in Sibirien als Bauern eingeschrieben, erhalten einen Bauernnamen und müssen das Feld bearbeiten. Auch unter ihnen sieht man viele mit aufgeschlitzten Nasen; sie können aber, wenn sie fleißig sind, doch etwas erwerben und ihr Schicksal erträglich machen: ihre Strafe kann zu ihrer wahren Besserung gedeihen.

Eine dritte Klasse besteht aus solchen, die zwar auch das Gesetz verurteilt hat, aber bloß zur Verbannung, ohne irgendeinen entehrenden oder drückenden Nebenumstand. Sie werden, wenn sie Edelleute sind, gewöhnlich ihres Adels nicht verlustig erklärt, dürfen an dem Orte ihrer Bestimmung ohne Zwang leben, dürfen sich auch wohl Geld zu ihrem Unterhalte von Hause kommen lassen[161] oder erhalten, wenn sie arm sind, von der Krone täglich zwanzig bis dreißig Kopeken und wohl noch mehr.

Die vierte Klasse endlich begreift solche, die ohne Urteil und Recht, aus Willkür und auf Befehl des Monarchen verbannt worden sind. Diese werden gewöhnlich der dritten Klasse in allem gleich gehalten und dürfen auch wohl durch die Hände des Gouverneurs offene Briefe an ihre Familie oder an den Kaiser schreiben; mancher aber wird in eine Festung gebracht und in Ketten geworfen. Doch geschah das letztere wohl nur selten, und, dem Himmel sei Dank, unter der jetzigen milden Regierung des Kaisers Alexander ist die vierte Klasse gänzlich verschwunden.

Zu welcher der beiden letzten Klassen der Obristlieutenant aus Rjasan, mein seitheriger Unglücksgefährte, eigentlich zu rechnen war, weiß ich nicht. Er schien aber zu einem härteren Schicksal bestimmt zu sein. Denn obgleich bei seiner Ankunft in Tobolsk der Gouverneur ihn hoffen ließ, daß er daselbst bleiben würde, und ob er gleich, von dieser Hoffnung ermuntert, bereits angefangen hatte, für seine künftige Einrichtung zu sorgen, Kleider zu bestellen und dergleichen mehr, so erhielt er doch plötzlich zwei Tage nachher den Befehl, augenblicklich weiter nach Irkutsk aufzubrechen. In zwei Stunden war er schon unterwegs, und ich habe nichts wieder von ihm gehört. Kaum hatte man ihm Zeit genug gelassen, die zugeschnittenen, aber noch nicht genähten Kleider von dem Schneider zurückzufordern. Gewiß muß der menschenfreundliche Gouverneur wichtige Ursachen gehabt haben, so streng zu verfahren.

Ich hatte nunmehr teils durch meine neuen Freunde,[162] teils mit Hülfe einiger gutherzigen Kaufleute bereits zehn Briefe an meine Frau geschrieben, von deren Hauptinhalte ich weiter unten etwas sagen werde. Mehr als die Hälfte derselben erreichte glücklich den Ort ihrer Bestimmung. Die Stunden, in welchen ich mich mit ihr unterhielt, waren die einzigen, die in den Kelch der Schmerzen einen Tropfen süßer Wehmut träufelten. Ich blieb übrigens zu meinem eigenen Erstaunen noch immer sehr gesund und suchte mich so viel als möglich zu zerstreuen.

Der Hofrat hatte meine Wohnung gleich in den ersten Tagen verlassen und war zu einem sogenannten Freunde gezogen. Ich schlug ein Kreuz hinter ihm her und war nur froh, wenigstens nun ungestört meinem Kummer nachhängen zu können. Den Vormittag verwendete ich meistens auf die traurige und mich dennoch anziehende Beschäftigung, meine Leidensgeschichte zu Papiere zu bringen. Anstatt der Tinte bediente ich mich Chinesischer Tusche, die häufig und gut zu haben war und die ich in meinem Augenbader rieb. Gegen Mittag machte ich einen Spaziergang oder erstieg die Felsen um Tobolsk, welche durch die Bergströme malerisch ausgewaschen worden sind. Dort überschaute ich die ungeheure Wasserfläche und die endlosen Wälder, welche sie begrenzten; dort ruhte mein Auge auf jedem ankommenden Segel, und meine Phantasie versetzte auf jedes landende Boot meine Familie. Mittags aß ich gewöhnlich bei dem Gouverneur, zuweilen auch bei dem Hofrat Peterson, nur selten zu Hause. Nie verließ ich Herrn von Kuschelew ohne Trost, wenigstens nicht ohne Milderung meines Grams. Sein zartes Gefühl lehrte ihn mehrere Wege zu meinem Herzen, und er wußte bald[163] auf diese, bald auf jene Weise eine Hoffnung in mir zu er wecken.

Ach! Er selbst war nicht glücklich. Oft, wenn ich in seinem Gartenhause neben ihm saß und wir aus dem Fenster über den Wasserspiegel hinweg einen Blick auf die ungeheuren Wälder warfen, ließ er sein Gefühl ausbrechen. »Sehen Sie,« sagte er einmal mit ausgestreckter Hand, »diese Wälder ziehen sich 1100 Werste weit bis an das Eismeer hin. Noch hat keines Menschen Fuß sie betreten; sie sind bloß von wilden Tieren bewohnt. Mein Gouvernement ist an Flächeninhalt größer als Deutschland, Frankreich und die Europäische Türkei zusammen genommen; aber welche Annehmlichkeiten bietet es mir dar? Es vergeht fast kein Tag, an welchem nicht Unglückliche, bald einzeln, bald in Scharen vor mich geführt werden, denen ich weder helfen kann noch darf und deren Geschrei mir das Herz zerreißt. Eine schwere Verantwortlichkeit ruht auf mir. Ein Zufall, den keine menschliche Vorsicht oder Macht zu verhüten imstande ist, eine heimliche boshafte Angabe kann mich um Amt, Ehre und Freiheit bringen! Und welchen Ersatz habe ich für das alles? Ein ödes Land, ein rauhes Klima und die Gesellschaft von Unglücklichen!«

Schon lange trug er sich mit dem Gedanken, um seinen Abschied zu bitten; bis jetzt hatte er es aber noch nicht gewagt. Ach, und möchte er es nie tun! Was soll aus den armen Verwiesenen werden, wenn der von ihnen scheidet, der jedem Unglücklichen ein Vater oder Bruder ist!

Gegen Abend pflegte ich mich in der Stadt und auf dem Markte umherzutreiben. Die Stadt ist ziemlich groß, hat breite gerade Straßen und zwar meistens hölzerne, doch[164] auch mehrere steinerne, gut und modern gebaute Häuser. Die sehr zahlreichen Kirchen sind sämtlich von Steinen gebaut und die Straßen mit halben Balken gedielt oder gebrückt, welche weit reinlicher sind als Steinpflaster und dem Fußgänger weit mehr Bequemlichkeit gewähren. Die ganze Stadt durchschneiden schiffbare, mit wohl unterhaltenen Brücken versehene Kanäle. Der Markt ist groß, und man findet daselbst außer den gewöhnlichen Lebensbedürfnissen auch viele europäische und chinesische Waren. Beide sind freilich ziemlich teuer, die erstern aber durchgehends sehr wohlfeil. Es wimmelt auf dem Markte jederzeit von Menschen aus mehreren Nationen, vorzüglich Russen und Tataren, auch wohl Kirgisen und Kalmücken. Der Fischmarkt bot mir besonders ein für mich neues Schauspiel dar. Eine unzählige Menge von Fischen aller Gattungen, die ich sonst bloß aus Beschreibungen kannte, lag hier täglich tot und lebendig auf der Erde, in Trögen und in Booten zum Verkauf aufgeschichtet. Die köstlichsten Sterlette (Acipenser ruthenus) für einen Spottpreis; Hausen (Acipenser huso), Welse (Silurus glanis) und der gleichen, Kaviar von allen Farben, aus allerlei Fischen, naß und trocken. Hätte nicht auf diesem Fischmarkte gewöhnlich ein unerträglicher Geruch geherrscht, so würde ich oft längere Zeit dort zugebracht haben.

Aus Neugier besuchte ich auch einigemal das Theater, das ziemlich groß war und eine Reihe Logen hatte. Da fast jede dieser Logen einem immerwährenden Besitzer gehörte und diesem das Recht zustand, seine Loge nach Gefallen auszuschmücken, so gab das eine sehr bunte Ansicht. Seidene, meistens reiche Stoffe von den allerverschiedensten Farben hingen aus jeder Loge und bedeckten[165] die ganze Brüstung. Inwendig waren Spiegel-Wandleuchter angebracht. Das Ganze hatte zwar ein sehr asiatisches Ansehen, frappierte aber beim ersten Anblick. Das Orchester war über alle Beschreibung elend. Die Schauspieler-Gesellschaft bestand gänzlich aus Verwiesenen. Zu ihr gehörte auch die Frau Gemahlin meines Ruß, eine Revalerin von Geburt, die wegen Liederlichkeit nach Sibirien transportiert worden war, in meinem Ruß einen würdigen Gatten gefunden hatte und jetzt auf dem Nationaltheater zu Tobolsk die edlen Mütter spielte. Dekorationen, Kleidungen, Spiel und Gesang waren sämtlich unter der Kritik. Einmal führte man die Oper Dobri Saldat (Der gute Soldat) auf; den Titel des zweiten Stückes habe ich vergessen. Ich hielt es beide Male nicht über eine Viertelstunde aus. Die Entree kostete übrigens auf den ersten Platz nur 30 Kopeken (noch nicht ganz fünf Groschen).

Menschenhaß und Reue, Das Kind der Liebe und einige andere meiner Stücke wurden mit großem Beifall gegeben. Jetzt eben war man beschäftigt, Die Sonnenjungfrau einzustudieren; da aber Dekorationen und Garderobe einen Aufwand erforderten, der die Kräfte des Unternehmers überstieg, so wurde zu diesem Behuf unter den Honoratioren der Stadt eine Kollekte veranstaltet.

Auch ein Klub oder eine Ressource (ich glaube, sie nannten es Casino) war in Tobolsk, den ein Italiener mit aufgeschlitzten Nasenlöchern hielt. Er war ein Mörder, hatte die Knute glücklich überstanden und nährte sich nun auf diese Weise. Ich bin übrigens nie bei ihm gewesen.

Während meines Aufenthaltes wurden einigemal zu Ehren der anwesenden Senatoren auch Maskeraden und[166] Bälle gegeben. Man lud mich ausdrücklich dazu ein; ich mochte aber mein Elend da nicht zur Schau tragen und kann daher von dem schönen Geschlechte in Tobolsk wenig oder gar nichts sagen. Die wackere Familie des Hofrats Peterson und die schöne, liebenswürdige Tochter des Obristen von Krämer ausgenommen, habe ich kaum ein Frauenzimmer von Stande in Tobolsk gesehen.

Am liebsten schweifte ich unter freiem Himmel umher; wenn nur die unerträgliche Hitze am Tage und die noch unerträglicheren Mücken des Abends mir diese Zerstreuung oft erlaubt hätten. Es verging kein Tag, an dem das Thermometer nicht auf 26 bis 28 Grad Réaumur stieg; und dabei suchten uns täglich vier, fünf, auch wohl sechs Gewitter heim, die aus allen Himmelsgegenden gleichsam gegeneinander zu Felde zogen und oft einen reichlichen Regenguß herabströmten, aber doch die Luft nicht abkühlten. Bei aller dieser Wärme war die Natur dennoch sehr karg mit ihren Gaben: kein Obstbaum, auch nicht einer ist mir zu Gesicht gekommen. Der Garten des Gouverneurs, der beste im ganzen Lande, war mit einer Bretterwand umgeben, auf welche man Obstbäume gemalt hatte. In der Wirklichkeit zierten ihn der Faulbaum, der Sibirische Erbsenbaum und die Birke. Die letztere ist in Sibirien sehr gemein, aber meistens verkrüppelt. Einen Busch von alten Birken hält man in der Ferne für jungen Anflug. Der Faulbaum wird in Tobolsk sehr geliebt und vor vielen Häusern auf die Straße gepflanzt: teils um seiner wohlriechenden Blüten willen, teils weil man nichts anderes hat. Übrigens enthielt der sogenannte Garten des Gouverneurs einige Johannis- und Stachelbeerbüsche, verkümmerte Kohlpflanzen und einige Hoffnung[167] zu künftigen Gurken. In der Gegend von Tjumen wächst doch schon eine Art von Apfelbäumen, deren Früchte die Größe einer Wallnuß erreichen.

Was die Natur diesem rauhen Himmelsstrich an Obst versagt hat, gab sie ihm desto reichlicher an Feldfrüchten. Der sibirische Buchweizen, der auch unter uns berühmt ist, sät sich selbst jährlich wieder aus und fordert keine andere Mühe als die, ihn zu ernten. Alles Korn gedeiht vortrefflich, und das Gras hat einen üppigen Wuchs. Der Boden ist überall eine leichte, sehr schwarze Gartenerde, welche man nie zu düngen braucht. Da nun die Bauern aus Faulheit den in ihren Ställen aufgesammelten Dünger oft nicht zu rechter Zeit bei Seite schaffen, so geraten sie dadurch zuweilen wirklich in lächerliche Verlegenheiten. Der Hofrat Peterson, der als Landphysikus jährlich auf dem Lande umherreisen muß, hat mir sehr glaubwürdig erzählt, daß er einst in ein Dorf gekommen sei, wo die Bauern beschäftigt gewesen wären, ihre Häuser abzubrechen und weiterzuziehen, weil sie es viel leichter fanden, die Häuser als die sie umgebenden Mistberge fortzuschaffen.

So unleidlich im Sommer die Hitze ist, ebenso groß wird im Winter die Kälte, und das Thermometer fällt dann oft bis vierzig Grad. Der Hofrat Peterson versicherte mir, er mache jeden Winter das Experiment, Quecksilber frieren zu lassen, schneide dann mit dem Messer allerlei Gestalten daraus und schicke sie, in Schnee wohl eingepackt, dem Gouverneur.

Übrigens ist dieses rauhe Klima sehr gesund. Mein Arzt kannte nur zwei herrschende Krankheiten, und zwei, die sich leicht vermeiden lassen. Die eine ist die Lustseuche; die andere sind häufige Erkältungsfieber, welche[168] aus der schnellen Abwechslung in der Temperatur der Luft bei dem Untergange der Sonne entspringen. Enthaltsamkeit und ein warmer Rock gegen Abend sind alles, was man in Sibirien braucht, um ein gesundes und hohes Alter zu erreichen.

Die Abendstunden brachte ich gewöhnlich mit Lesen zu. Meine Freunde Peterson und Kinjakow hatten mir einige gute Bücher geliehen, deren Wert ich jetzt vierfach schätzte.

Noch immer schmeichelte ich mir mit der Hoffnung, in Tobolsk bleiben zu dürfen. Der Gouverneur schwieg nämlich von meiner Abreise gänzlich still, und meine Freunde vermuteten, daß er nur auf die Entfernung der Senatoren und des Hofrats warte, um mir die gewünschte Erlaubnis anzukündigen. Die erstern setzten ihre Reise nach Irkutsk wirklich fort; der letztere aber wich nicht von der Stelle. Ich habe nachher erfahren, daß sein Zögern nur von Mangel an Gelde herrührte und daß er auf die Abreise eines gewissen Kaufmanns wartete, den er in dieser Not auf seinen Kurierpaß mitnehmen, wogegen jener ihn in der Zehrung freihalten wollte. So natürlich diese Auflösung des Rätsels auch war, so schwer ließ sie sich erraten. Was Wunder, daß sowohl der Gouverneur als ich ihn fortdauernd für einen Spion hielten! Die mir zugestandenen vierzehn Tage waren nunmehr beinahe verflossen. Am nächsten Sonntag, morgens, erschien ich, wie es die Sitte gebot, bei dem Gouverneur zur Cour. Denn die Verwiesenen der dritten und vierten Klasse pflegten sich sämtlich in Uniform, doch ohne Degen dabei einzufinden. Der Gouverneur zog mich beiseite und kündigte mir an, daß ich mich zur Abreise auf morgen bereit halten müsse, da er aus den mir wohlbekannten[169] Ursachen mich nicht länger in Tobolsk behalten dürfe. Ich erschrak, machte aber nicht die geringste Einwendung, sondern bat ihn nur, mir noch zwei Tage zu bewilligen, damit ich mir einige Bedürfnisse, die ich in Kurgan zu finden nicht hoffen durfte, anschaffen, und vorzüglich, damit ich meinen Wagen verkaufen könnte, der mir jetzt zu nichts half und dessen Veräußerung meine ziemlich erschöpfte Kasse wieder etwas füllen sollte. Mit der liebenswürdigsten Gefälligkeit gestand der Gouverneur mir diese Bitte zu, und ich eilte, meine traurigen Anstalten zu beschleunigen, damit ich seine Güte nicht mißbrauchte.

Der reichste Kaufmann in Tobolsk – sein Name ist mir entfallen – hatte mir schon einige Tage vorher hundertundfünfzig Rubel für meinen Wagen geboten. Da er mich aber mehr als zweimal so viel kostete, so hatte ich sein Anerbieten ausgeschlagen. Jetzt zwang mich die Not, den geringen Preis anzunehmen, und jetzt hatte er die unverschämte Herzlosigkeit, mir fünfundzwanzig Rubel weniger zu bieten. Auch darein mußte ich mich ergeben; und wahrlich, es empörte mich noch weit weniger als den wackern Gouverneur, der gar nicht aufhören konnte, seinen Unwillen darüber in den stärksten Ausdrücken zu äußern, und mich sogar in allem Ernste bat, diese Anekdote zum Gegenstand eines kleinen Lustspiels zu machen, welches, wenn ich es französisch entwürfe, er selbst ins Russische übersetzen und auf dem Theater in Tobolsk spielen lassen wollte. Ach! ich war jetzt nicht gelaunt, ein Lustspiel zu schreiben.

Zucker, Kaffee, Tee, Papier, Federn und dergleichen mehr hatte ich mir eingekauft. Aber was mir am meisten am Herzen lag, war ein Vorrat von Büchern; denn wie[170] sollte ich ohne Bücher den kommenden Winter verleben!

Der gute Hofrat Peterson gab mir, was er besaß; aber seine Bibliothek enthielt meistens nur medizinische Schriften und einige Reisebeschreibungen, die ich schon gelesen hatte. Ich fand indes Mittel, meinen Freund Kinjakow von meiner schnellen Abreise und meinem Mangel an Büchern zu unterrichten. Er schrieb mir, ich sollte um Mitternacht, wenn meine Wache schliefe, am Fenster auf ihn warten. Das tat ich, und er selbst brachte mir drei Nächte hintereinander die gewähltesten Bücher aus seiner Sammlung, unter andern den SENECA, der nachher so oft mein Tröster wurde.

An meine Frau und wohl noch an ein Dutzend edle Menschen in Rußland und Deutschland schrieb ich Briefe, machte ein einziges Paket daraus, adressierte es an meinen alten bewährten Freund Graumann, Kaufmann in Petersburg, und gab es dem Kurier Alexander Schülkins mit dem Versprechen, daß, wenn er es richtig abliefere, mein Freund ihm fünfzig Rubel dafür schenken werde. Das schien mir die beste Art, die Übergabe zu sichern; und der Erfolg hat gezeigt, daß ich recht hatte.

Die Vorbereitungen zu meiner Abreise waren vollendet. Ich zeigte es dem Gouverneur an; und da ich wußte, daß ein Unteroffizier mich nach Kurgan begleiten müsse, so bat ich ihn, dem guten André Iwanowitsch trotz seinem Alter diesen Auftrag zu erteilen. Herr von Kuschelew, der mir nichts abschlug, was nur irgend in seiner Macht stand, bewilligte auch dies. Er tat noch mehr: er gab mir Empfehlungsschreiben an die vornehmsten Personen in Kurgan, beschenkte mich kurz vor meiner Abreise mit einer Kiste sehr gutem chinesischen Tee[171] und – was mir vorzüglich lieb war – versprach mir, das Journal de Francfort, welches er sich kommen ließ, mir wöchentlich nach Kurgan zu schicken. Er hat Wort gehalten und, wie ich nachher erfahren habe, selbst nicht wenig dabei gewagt.

Mein Kibitken, ein altes gebrauchtes Fuhrwerk, das ich dennoch mit dreißig Rubeln hatte bezahlen müssen, war gepackt. Ich nahm kühlen Abschied von dem Herrn Hofrat, dessen Abreise nun endlich auch auf den Tag nach der meinigen bestimmt war: eine für mich sehr erfreuliche Nachricht, da ich wußte, daß er mein Memorial an den Kaiser überbringen sollte. Er reiste übrigens sehr unzufrieden mit dem Gouverneur, der ihn während seines ganzen Aufenthaltes in Tobolsk auch nicht ein einziges Mal zum Essen eingeladen hatte.

Es war am 13ten Junius, nachmittags um 2 Uhr, als ich traurig hinunter an das Ufer wanderte, wo mein Fuhrwerk bereits zu Schiffe gebracht war. Unterwegs begegnete mir noch ein lächerlicher Vorfall. Ein russisches, ziemlich wohl gekleidetes Frauenzimmer hielt mich an und machte mir eine Menge weitläuftiger Komplimente über meine Schauspiele. Mir schien der Augenblick hierzu sehr übel gewählt, und ich wollte mit einer kurzen Verbeugung vorübergehn. Nun aber gab sie sich als Mitglied der edlen Tobolskischen Schauspieler-Gesellschaft zu erkennen und vertraute mir: ihr sei in meiner Sonnenjungfrau die Rolle der Oberpriesterin zuteil geworden; sie wisse aber nicht, wie sie sich dieser Rolle gemäß kleiden solle, und bitte mich daher, ihr das Kostüm zu beschreiben.

In jeder andern Lage würde ich ihr ins Gesicht gelacht haben; jetzt aber ärgerte ich mich, sagte ihr mit gerunzelter[172] Stirn, sie sehe wohl, daß ich nicht in der Stimmung sei, mich mitten in Sibirien mit peruanischen Kleidertrachten zu beschäftigen, bat sie, sich nach eignem Geschmack ein Kostüm zu wählen, und ließ sie stehen.

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 131-173.
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Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Als Verbannter in Sibirien

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