Sechster Auftritt


[52] Der Greis aus der Hütte – Vorige.


GREIS. O wie wohl das tut, sich so nach sieben langen Wochen einmal wieder von Gottes Sonne bescheinen zu lassen! Fast hätt' ich im Rausch der Freude dem Schöpfer zu danken vergessen. Er faltet seine Mütze zwischen beiden Händen, blickt gen Himmel und betet.


Unbekannter läßt das Buch sinken und wird aufmerksam auf ihn.


FRANZ zu dem Unbekannten. Dem Alten ist wohl wenig Freude in der Welt beschert, und doch dankt er Gott auch für das wenige.

UNBEKANNTER. Weil die Hoffnung ihn noch immer an ihrem Gängelbande leitet.

FRANZ. Desto besser! Hoffnung ist des Lebens Amme.

UNBEKANNTER. Die größte Betrügerin auf dem weiten Erdboden.


Greis hat indessen seine Mütze wieder aufgesetzt und nähert sich.


FRANZ. Glück zu, Alter! Du bist, wie ich sehe, dem Tode entronnen.

GREIS. Für dieses Mal, ja. Gott und die Hülfe jener braven Frau haben mir auf ein paar Jahre das Leben gefristet.

FRANZ. Nun freilich, lange wirst du nicht mehr mitlaufen. Du scheinst mir ein alter Knabe.

GREIS. Nahe an die siebzig. Habe auch wohl nicht viel Freude mehr zu hoffen. – Je nun, es gibt ja noch ein anderes Leben!

FRANZ. Du solltest mit dem Schicksal zürnen, das dich, so nahe dem Grabe, wieder in die Welt zurückwirft. Für den Unglücklichen ist der Tod kein Übel.

GREIS. Bin ich denn so unglücklich? Genieß ich nicht diesen schönen Morgen? Bin ich nicht wieder gesund? – Glaubt mir, Herr, ein Geneseter, der zum ersten Male wieder in die freie Luft tritt, ist in diesem Augenblick das glücklichste Geschöpf unter der Sonne.

FRANZ. Ein Glück, an welches sich der Mensch nur allzuleicht gewöhnt.

GREIS. Freilich wohl. Doch weniger im Alter. Da wird man haushälterisch mit der Gesundheit. Man stürzt den Wein nicht mehr hinunter, schlurft die letzten Tropfen. Und so[52] ists auch mit der Freude. Ich habe freilich viel in der Welt gelitten und leide noch, aber ich würde darum doch nicht gerne sterben. Als mir vor vierzig Jahren mein Vater diese Hütte hinterließ, da war ich ein junger rascher Kerl, nahm ein gutes flinkes Weib; Gott segnete meine Wirtschaft reichlich, und mein Ehebette mit fünf Kindern. Das dauerte so neun Jahr oder zehn. Ein paar von meinen Kindern starben; ich verschmerzte das; es kam die große Hungersnot; mein Weib half sie mir ehrlich tragen. Aber vier Jahre darauf nahm Gott sie zu sich, und auch von meinen fünf Kindern blieb mir bald nachher nur ein einziger Sohn. Das war Schlag auf Schlag. Ich konnte mich lange nicht erholen. Zeit und Gottesfurcht taten endlich das Ihrige. Ich gewann das Leben wieder lieb. Mein Sohn wuchs heran und half mir arbeiten. Nun hat mir der Fürst auch diesen einzigen Sohn weggenommen und ihm eine Muskete zu tragen gegeben. Das ist freilich hart. Arbeiten kann ich nicht mehr; ich bin alt und schwach. Wäre Madam Müller nicht gewesen, ich hätte verhungern müssen.

FRANZ. Und doch hat das Leben noch Reiz für dich?

GREIS. Warum nicht? Solange noch etwas in der Welt ist, das an meinem Herzen hängt. Hab' ich denn nicht einen Sohn?

FRANZ. Wer weiß, ob deine Augen ihn je wiedersehen?

GREIS. Er lebt aber doch.

FRANZ. Er kann auch wohl schon tot sein.

GREIS. Ach warum nicht gar! Und wenn auch; solange ich dessen nicht gewiß bin, solange lebt er in meinen Gedanken, und das erhält mir mein eigenes Leben. Ja, Herr, selbst wenn mein Sohn tot wäre, so würd' ich darum doch nicht gern sterben. Denn hier ist noch eine Hütte, in der ich geboren und erzogen bin; hier ist noch eine alte Linde, die mit mir aufwuchs, und – fast schäm' ich mich, es zu bekennen: ich hab' auch noch einen alten treuen Hund, den ich liebe.

FRANZ. Einen Hund?

GREIS. Ja, einen Hund. Lach' Er, wie Er will! Madam Müller, die herzensgute Frau, war selbst einmal in meiner Hütte. Der alte Fidel knurrte, als sie kam. »Warum schafft Er den garstigen großen Hund nicht ab? fragte sie mich; Er hat ja kaum Brot für sich.« Lieber Gott! gab ich ihr zur Antwort: wenn ich ihn abschaffe, wer wird mich dann lieben?[53]

FRANZ zu dem Unbekannten. Nehmen Sie mir's nicht übel, gnädiger Herr! ich wollte, Sie hätten zugehört.

UNBEKANNTER. Das hab' ich.

FRANZ. Nun so wollte ich, Sie nähmen ein Beispiel an diesem Alten.

UNBEKANNTER nach einer Pause, gibt ihm das Buch. Da, lege das auf meinen Schreibtisch. Franz ab.

UNBEKANNTER. Wieviel gab dir Madam Müller?

GREIS. Ach! die gute, englische Seele hat mir so viel gegeben, daß ich dem kommenden Winter ruhig entgegensehen darf.

UNBEKANNTER. Nicht mehr?

GREIS. Wozu denn mehr? – Freilich: um meinen Hans loszukaufen, könnt' ich's wohl brauchen; – aber sie mag wohl selbst nicht mehr entbehren können.

UNBEKANNTER drückt ihm einen vollen Beutel in die Hand. Da! Kaufe deinen Hans los! Er entfernt sich schnell.

GREIS. Was war das? Er öffnet den Beutel und findet ihn voller Goldstücke. Ach Gott! Er zieht die Mütze ab, kniet nieder und dankt im stillen.


Quelle:
August von Kotzebue: Schauspiele. Frankfurt a.M. 1972, S. 52-54.
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