[78] Der Unbekannte sitzt auf der Rasenbank und liest. Franz kommt.
FRANZ. Das Essen ist fertig.
UNBEKANNTER. Ich mag nicht essen.
FRANZ. Junge Erbsen und ein gebratenes Huhn.
UNBEKANNTER. Für dich, wenn du willst.
FRANZ. Sie sind nicht hungrig.
UNBEKANNTER. Nein.
FRANZ. Die Mittagshitze benimmt allen Appetit.
UNBEKANNTER. Ja.
FRANZ. Ich werde das Hühnchen verwahren. Vielleicht auf den Abend –
UNBEKANNTER. Vielleicht.
FRANZ nach einer Pause. Gnädiger Herr, darf ich reden?
UNBEKANNTER. Rede.
FRANZ. Sie haben eine schöne Tat getan.
UNBEKANNTER. Welche?
FRANZ. Sie haben einem Menschen das Leben gerettet.
UNBEKANNTER. Schweig.
FRANZ. Wissen Sie auch, wem?
UNBEKANNTER. Nein.
FRANZ. Dem Grafen von Wintersee.
UNBEKANNTER. Gleichviel.
FRANZ. Wahrlich! so was kann einem alten Auge Tränen entlocken.
UNBEKANNTER. Altes Weib!
FRANZ. Ein so edler, ein so braver Herr –
UNBEKANNTER böse. Willst du mir schmeicheln? Pack dich fort!
FRANZ. Bei meiner armen Seele! es geht mir von Herzen. Wenn ich so im stillen zusehe, wie Sie um sich her Gutes wirken, wie Sie so die Not eines jeden zu Ihrer eigenen machen und doch selbst nicht glücklich sind – ach! da blutet mir das Herz.
UNBEKANNTER weich. Ich danke dir.[78]
FRANZ. Lieber Herr, nehmen Sie mirs nicht übel! Sollte vielleicht nur dickes, schwarzes Blut Sie so schwermütig machen? Ich hörte einmal von einem berühmten Arzt: der Menschenhaß habe seinen Sitz im Blute, oder in den Nerven, oder im Eingeweide.
UNBEKANNTER. Das ist nicht mein Fall, guter Franz.
FRANZ. Also wirklich unglücklich? und doch so gut! Das ist ein Jammer!
UNBEKANNTER. Ich leide unverschuldet.
FRANZ. Armer Herr!
UNBEKANNTER. Hast du vergessen, was der Greis diesen Morgen sagte? »Es gibt noch ein anderes, besseres Leben!« Laß uns hoffen – und mutig tragen!
FRANZ. Amen!
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Menschenhaß und Reue
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