Der 11. (41.) Kühlpsalm

[163] Über das geistliche Calvarien des achten Romes, als das Schif Calvaria durch hart Wetter und des Ankertaues brechung, den 12 Dec. frühmorgens vor Melos ans Schif Constantinopel gefährlich trib, mit beider beschädigung und unsers sterksten Ankers zerstükkung, in tiffester Nachsinnung, di Constantinopel mit seiner Gefahr vor Tessel, und Calvaria mit seiner Verseilung vor Tessel bekräfftiget, gesungen vor Melos drauf am 4 und 5 Tag, den 15 und 16 Dec. 1678.


1.

Calvaria, du Wunderort!

Ich werd erwekkt in unserm Port

Von dir di sait, aus Gott geregt, zustimmen!

Drum auf mein Geist! Du solst den Berg beklimmen!

Den Berg, da Jesus angehängt,

Den zweien schächern eingemengt!

Darauf aufs neu durch treu im Grab erbohren,

Das Adam hart auf ewigst uns verlohren.

Auf, Seelewig! Beginn ihn aufzusteigen!

Di Libe wird dir Weg und steg anzeigen.


2.

Wahr ists, es kommt dem fleische schwer

Zufolgen dises Bergs begehr,

Der uns doch mag mehr als gewünscht erhöhen!

Was, Schaut man hir nur lauter Kreutze stehen?

Si sind vor di, di Jesus übt,

Und derer hertzen er sich gibt.

Di weit wil noch das Christuskreutzen spilen,

Und ihren Zorn an Christusglidern kühlen.

O Seelewig! Wer Jesus Libe schmekket,

Der wird, wi er, am Kreutzberg heut gerekket.


3.

Wi, Menschen? Ist der Berg so gros?

So breit? So weit? So längelos?

Er wil und wil di Erdenkugel füllen!

Drum mocht ihn vor Jerusalem nicht stillen.

Welch kreutzigen? Was Henkerschaar?[164]

Es wächst und wächst di Christgefahr!

Sind Christen dis, di Christum dort ausführen?

Ihn tausendfach und tausendfach entziren?

Ach Seelewig! So Christen solches treiben,

Was meinstu, sol vor Christusvolk bekleiben?


4.

Weh, Christen, weh! Seid ihr verblendt!

Wird Christus so von euch geschändt?

Verspeit? verlacht? gequält? ans kreutz geschlagen?

Was werdet ihr vor seinem Richtstuhl sagen?

Ist dis der lohn vor seine gütt?

Seid, Mörder, ihr noch Christgeblütt?

Was, wolt ihr noch als Christusjünger gleissen,

Di Christum selbst zum kreutzen täglich reissen?

Ja Seelewig! Si sind, wi Kain, entsprossen:

Von Judasart, der Juden Bundgenossen.


5.

Was wittert sich dort an der grufft?

Welch volk? was ists? Es rufft und rufft!

Zwar Christus ward einst, Ach! von uns gekreutzet,

Als uns darzu di Knechtsgestalt verreitzet.

Er trug und trug mit uns gedult,

Und bat zu Gott vor unsre Schuld.

Heut kreutzt dis volk den Christusgeist und leben;

Begeht di Sund, di ewig ni vergeben.

Drum Seelewig! Si sind nicht uns zugleichen,

Ihr Babel wird auch schrekklicher erbleichen.


6.

Weh, Christusmörder, vor dem schall!

Weh, Kaine, di ihr überall

Durchs Christenthum nur schädelstädte gründet,

Das Christ nur Kreutz und gräber täglich findet!

Weh dir, dreifaches Erdenhaupt!

Weh, achtes Rom, das sich selbst laubt![165]

Spilt, Römsche, spilt das Christuskreutzabscheiden!

Eilt, Mörder, eilt! Nach leiden folgen freuden.

Lern, Seelewig! Vor must er Salem röthen;

Nun wil den Geist der gantze Weltkreis tödten.


7.

Wi wird mir? was? welch volk erscheint,

Das völlig sich unschuldig meint?

Er spricht: verdammt man unsre Heilikeiten?

Wer wil von uns den Christusgeist bestreiten?

Wann haben wir den Christ geschaut?

Verfolgt? gekreutzt? vor ihm gegraut?

Wir grössern ihn und seine Heilge prächtig!

Sein Reich wird reich, und ni durch uns unmächtig.

Weg, Seelewig! Sonst solstdu strakks erfahren,

Das wir vor dich noch Kreutze satt verwahren.


8.

Scheinheilges volk! so hoch gefärbt!

Du bist es ni, das Christum sterbt!

Wer solte doch mit fuge dich verdammen?

Du brennest traun, wi Eis, in Christusflammen.

Was? hastdu Christusgeist verdrükkt?

Wer hat augblikklich ihn entschmükkt.

Wi, meinestu, das falsch mit dir gehandelt,

Weil Christus einst persönlich nur gewandelt.

So Seelewig? Wann Christus noch ni kommen,

Wi wär er neu an Golgatha vernommen?


9.

Wer Christum folgt aus hertzensgrund,

Dem wird der Christusgeist auch kund.

Der Vater wird in ihm den Sohn gebähren:

Der heilge Geist aus beiden sich verklähren.

Als dann empfängt der Mensch vil stärk

Von Gott dem Herrn zu Gotteswerk:

Der Tröster wil durch ihn den Weltkreis schelten;

Er prophetirt, wi Gott ihm wird abgelten.

Wohl, Seelewig! Was wilstdu neu vernehmen?

Zum Kreutz, zum Kreutz! Sol diser uns vil grämen!
[166]

10.

So bald erfolgt di Christgeburt

In uns bis an di Lebensfurt,

Wi Gabriel verkündiget Marien,

So mus zugleich vor ihm Elias blühen.

Der Simeon der singt vom frid,

Und Hanna stimmt ein gleiches lid.

Heroden bringt der Magen ankunfft zittern,

Das noth und Tod beginnt in uns zuwittern.

Traun, Seelewig! Das Kind fleucht nach Egypten:

Es sucht in uns di höhlen tiffster Crypten.


11.

Wird Jesus, der in uns erst jung,

Verfolget schon von aller zung,

Wi solten si mit ernst nicht ihn anlauffen,

Nachdem Johann ihn wird zum Christus tauffen?

Der neue Adam ligt zur wag,

Wi Adam vor, di virtzig tag,

Er würkt und würkt durch virtzig Monden wunder:

Streut funken aus, di fängt ein fähzig Zunder.

Sih, Seelewig! Der Kreutzberg wird ihn haben,

Den leib und Schlaf durch virtzig Uhrn begraben.


12.

Wi? kennstdu nicht das Gottes Lamm,

Dreifacher Kain, im Abelsstamm?

Des Brudern blutt ist längst zu Gott geflossen,

Und kommt auf dich höchstschrekklich abgeschossen.

Calvaria gab mit der füll

Des Zeichens und Vorbildes hüll:

Dann Christus ward im Abel erst bezeichet,

Von der figur des Isaaks voll erreichet.

Höhr, Seelewig! So vil im Märterorden:

So offt ist auch dein Christ gekreutzigt worden.


13.

Weh, rother Drach, Justinian!

Was hastdu Christus angethan?

Weh, Pabst, der stets Löwpardelbärisch wüttet![167]

Weh, Lammdrach, weh, dein Klöster ausgebrüttet!

Weh, Romes Rom, der völker Schatz!

Der dreien Academisch Platz!

So offt du hassst um Christuswarheit einen,

Wird Christusgeist gekreutzigt in den seinen.

Merk, Seelewig! Was über uns si schreien!

Si wünschen uns der beiden zeugen reien.


14.

Calvaria trib auf mein Schif,

Als es auf uns entankert lif:

Der Anker must ob solchem sturm sich stükken;

Jehovah wolt uns gnädig noch entrükken.

Wahr ists, das Babel uns zudenkt

Calvarien, und täglich kränkt:

Ihr Mordschlus dräut den Anker zuzerstöhren,

Nun Stampold wil nur Christo zugehöhren.

Doch, Seelewig! Der Adler wird entflügelt:

Calvaria versigelt und entsigelt.


15.

Jehovah, Komm! Jehovah, Rett

Neu Jesum aus der Schädelstädt!

Las Christi Geist nicht länger sein entgeistert!

Der Antichrist sei endlich selbst entmeistert!

Las Christi Geist aufstehn in Macht,

Das alles werd uns widerbracht!

Calvaria schlos Christum virtzig stunden:

Des virtzig Jahr, wohl virtzigmahl empfunden.

Auf, Seelewig! Nun schlüsse Lipp und klagen!

Nach solchem Schwartz mus endlich herrlich tagen.

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 163-168.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Kühlpsalter, Band 1
Der Kühlpsalter I: BD 1 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke)
Der Kühlpsalter: Band 1

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon