Der 6. Gesang

[20] Als sein Vorbote, der Prophet Rothe, gegen Gottes ausdrükkliches Verbot, vilfach wider ihn anging, auch in ihrer Delfzil Gröninger Zusammenkunft den 15. und 16. Sept. und ihm di harten Gesichter vom 18. 19. 20. Sept. unter Gottesbefehl zuschikte, voller noth gedavidisiret zu Gröningen im September 1674.


1.

Heilger Gott, sei mir genädig!

Mache mich der Schulden ledig!

Deine Gütte ist ja gros!

Tilge meine Zentner Sünden!

Di du, grosser Gott, wilst gründen!

Ach erbarm dich! hilf mir los!


2.

Wasche mich mit Himmelwasser!

Sei mein Helfer, ni mein Hasser!

Reiss mich von der Missethat!

Reine mich von tausend Fehlen!

Ach wer konte si erzählen!

Herr, ich weis mehr keinen Rath!


3.

Ich erkenne mein Verbrechen!

Das mich Tag und Nacht wil schwächen!

Zehen tausend Felsen schwer!

Jesus! was darf mich belasten?

Ach mir mangelt Ruh und Rasten!

Weiche, schwartzes Teufelheer!


4.

An dir, Gott, ist mein Vergreiffen!

Aus dir mus mir Gnade reiffen![20]

Ich hab übel dir gethan!

Du verbleibest ewigheilig!

Mir ist meine Sünd nachtheilig!

Ich ging dise Bosheitbahn!


5.

Schaue, Gott, wi ich erzeuget!

Laster sind mir zugeneiget!

Von dem Väterlichem Sam!

Meine Mutter hat empfangen

Mich mit sündlichem Verlangen!

Dis ist, das ich überkam!


6.

Doch kan Warheit dich vergnügen,

Welche pfleget tif zuligen

Im verborgnem Abgrundsort!

Du lässt meiner Seel entschlüssen

Heimlichhohes Weisheitwissen,

Das ich merke auf dein Wort.


7.

Sterbe, Jesus, all mein Sterben!

Las dein Rosenblut mich färben!

Jesus purpert uns mit Schnee!

Wasche mich aus deinen Wunden!

Sei mein Artzt, der mich verbunden!

So beperlt mich Perl und See.


8.

Las mir schallen Freud und Wonne!

Las mir leuchten deine Sonne!

Dann entschwärtzt di schwartze Nacht!

Ach befröhlich alle Glider!

Was zuschlagen, stärke wider!

Bringe, was mir ward entbracht!


9.

Ach verbirge dein Gesichte,

Und dein eifrigs Zorngerichte,

Gott Jehova, vor der Schuld!

Tilge, was mich wolt austilgen!

Las Genade mich anlilgen!

Habe, Vater, doch Gedult!


10.

Schaffe mir ein neues Hertze,

Das mein Böses ewig stertze,[21]

Heilger Schoepffer, meine Lust!

Ach verdreie Geist und Leben,

Das du deinem Sohn gegeben!

Jesus Geist sei mir bewust!


11.

Allerliebster! woltstdu weichen?

Solte dein Geschöpff verstreichen?

Ach was zörnstdu doch mit Staub?

Wolstdu deinen Geist wegnehmen?

Mich mit Lucifer beschämen?

Solt ich sein der Höllenraub?


12.

Tröste mich mit Jesus Nöthen!

Tödte, was mich wolte tödten!

Zeige, Vater, Hülf und Hold!

Lass den Freudengeist bemeistern,

Was der Satan wolt entgeistern!

Schmükke mich mit Weisheitgold!


13.

Ich wil deine Wege lehren,

Dass di Übertreter höhren,

Dein Erbarmen sonder gleich:

Dass di Sünder sich bekehren,

Und frohlokkend mitbegehren

Das erhabne Jesusreich!


14.

Starker Herrscher! komm und rette

Von den Banden, von der Kette!

Komm, Erlöser, voller Krafft!

Hilf mir, Heiland, dass ich rühme

Und mit Blumen Jesum blüme!

Jesum, der mich weggerafft!


15.

Heiliglichter Fürst der Fürsten!

Lasse mich beflammet dürsten

Ewigstets nach Jesus Ruhm!

Jesum wil ich herrlich loben!

Jesum, der mich hat erhoben!

Jesus sei mein Heiligthum!
[22]

16.

Dir gefällt kein Heuchelbeten,

Dass wir aus Gewonheit treten

Steinern in ein steinern Haus!

Predigstühle mit Geschwätze

Sind des Antichristus Netze!

Werden mit ihm Höllengraus!


17.

Ein geängster Geist und Hertze

Ist di Kirche und di Kertze,

Ja das wahre Christaltar!

Wer nach Christus Lehre handelt,

Und in Christus Leben wandelt,

Diser ist bei Christus Schaar!


18.

Baue, Jesus, Reich und Tempel!

Gib dich, Jesus, zum Exempel.

Dann geht heilges Kirchgehn auf.

Babel falle! Christus werde

Hirte in der einen Heerde!

Jesus, ach! ich warte drauf!

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 20-23.
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