Der 3. (48.) Kühlpsalm

[214] Um dem Nordengrimm abzuwenden, und den flug in mitternacht aus Mitternacht durch Mitternacht zubefördern, in viler hinderung, und Noth sehr ernstig angestimmet zu Rotterdam den 11 Jun. 1679.


1.

Jehovah, höhr mein ernstes schreien,

Das ich füsfällig dir anstimm!

Jehovah, sih auf mein zerstreuen!

Jehovah, hemme deinen grimm!

Wi lange sol der Feind mich schwächen,

Der Jesus Reich denkt zuverbrechen?

Wi lange lästert dich sein Mund,

Weil deine streng ihm noch ni kund?

Wi lange sol, mein Gott, ich stehn gebunden?

Ach löse mich, hab ich genad gefunden?


2.

Hir lägert sich ein heer des schmertzen,

Und dort versucht ein gantzes Land!

Hir wollen tausend mich nur stertzen,

Wann dort sich mehrt wi sand vil schand.

Hir hab ich dis, dort jens verschuldet,

Weil freund und feind der Bosheit huldet:[214]

Hir stellt der Satan netz, dort strikk,

Das ich von dir nur ging zurükk.

Wi lange sol, mein Gott, ich dises leiden?

Ach löse mich! Ach las mich, Vater, scheiden!


Zweiter Theil,

In augenscheinlicher anblikkung des entgegen figurirenden fälschen weltgeistes durch Bechern, Wernern, Furly in Rotterdam, den armseeligen Figurirern unverstanden; voller eifer zu ihrer Zerstreuung, di allen dreien darauf erfolget dem Babel zum zeichen, ausgesprochen d. 15. Jun. 1679.


1. 3.

Jehovah, höhr, der du mein Werker,

Was gegen dir man heimlich würkt!

Jehovah, höhr! Ach sei aufmerker!

Du sihst, mit was ich werd umzirkt!

Jehovah, las den Ernst nun schmekken,

Di deinen willen so verdekken!

Ihr spotten fall auf ihre köpff:

Si lernen, was si vor geschöpff.

Ich aber werd, mein Gott, durch dich entbunden!

Komm, löse fort, weil ich genad gefunden.


2. 4.

Dein eignes werk heist Weltgeistfabel,

Utopien und selbstbetrug:

Si zimmern liber neue Babel,

Und sind zum Gottes Werk zu klug.

Di weltfigur wil gegenstehen:

Si sol, und nicht dein Werk verseen.

Gib, das erfahre bald der Kreis,

Wi si geraubet unsern Preis!

Du linderst selbst, mein Gott, schon dises Leiden:

Komm, löse fort! komm, las mich, Vater, scheiden.


[215] Dritter Theil,

Im zuge zur wahren Gelassenheit durch erkäntnis und bekäntnis göttlicher genaden, auch in allen unerwartesten fällen nach dem 77 tage seines Hollandspfluges, zu Rotterdam den 17. Jun. 1679.


1. 5.

Jehovah, Preis! Ich mus lobsagen

Vor dis, das über mich verhängt!

Jehovah, Preis vor alle Plagen,

Di mich um dich bisher gedrängt!

Jehovah, Preis! Ich bins unwürdig,

Das ich um dich bin allen bürdig:

Verschmäht, verspeit, verdrükkt, verlacht,

Von Freund- und Feinden unterbracht.

Ich bin dadurch, mein Gott, durch dich entbunden!

In mir gelöst und hab genad gefunden.


2. 6.

Wi haben si mich nun geputzet?

Welch herrlichs kleid, das mich itz schmükkt?

Dein Werk, um das mich ider trutzet,

Ist stärker nur ins Werk gerükkt.

I seltener noch meine fälle:

I heller hellt des Werkes helle.

Was wird bald folgen vor ein klahr,

Wann dis davon ein Erstling war?

Ach ich umarm, mein Gott, nun alles Leiden!

Itz wird mir gleich das binden, lösen, scheiden.


Virdter Theil,

Ansprach an alle Freunde und Feinde, Verwandte und fremde, grosse und kleine, bekandte und unbekandte, di seiner harten fälle und zufälle Erwekker, durch Gottes zulassung waren, sind, werden; zugeruffen zu Rotterdam den 17 Jun. 1679.


1. 7.

Ihr Freund und Feind, di mich betrübet,

Und täglich so gefährlich scheint!

Nun werdt ihr recht von mir gelibet,[216]

Imehr ich über euch geweint.

Ihr habt den sig mir dargebohren,

Und gebt, was ihr euch selbst verlohren:

Gott lasse gnad vor euch noch ruhn,

Weil ihr nichts wisst von eurem thun.

Wann ihr, wi ich, von andern einst gebunden,

So lös euch Gott, wi ich genad gefunden.


2. 8.

Ihr Freund und Feind, di ihr mich schwärtzet,

Mich gantz mit Trauerschwartz umhüllt!

Nun werdt ihr recht von mir gehertzet,

Imehr ihr euer müttlein füllt!

Nichts blauers hat mich, Ach! geblauet!

Was wird in mir durch euch geschauet?

Jehovah steh euch gnädig bei,

Wo euch noch trifft auch solche Rei!

Wann ihr einst leidt von andern dises Leiden,

So gleich euch Gott auch binden, lösen, scheiden.

Quelle:
Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter, Band 1 (Buch 1–4), Tübingen 1971, S. 214-217.
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