8. Wie die Schöppenstädter einen schiefen Kirchthurm bekommen.

[152] Schon lange hatten die Schöppenstädter mit Freuden bemerkt, daß an dem Kirchthurm hoch oben das Gras mächtig zu wachsen beginne, und da sie gute Wirthe sind, beschloßen sie, es nicht umkommen zu laßen und es abzuweiden. Aber weßen Kühe sollten zuerst hinauf? das war ein schwieriger Punkt, darum machte einer den Vorschlag, man möge den Stadtbullen hinaufziehen, der solle sich einmal an dem Gräsig recht gütlich thun, so würden die Kälber im nächsten Jahre noch einmal so kräftig. So einen guten Vorschlag hatte noch keiner gemacht und augenblicklich legte man Hand an's Werk. Stricke wurden oben an der Spitze des Thurmes befestigt und unten dem Bullen um den Hals gelegt und nun zog alles was Hände hatte, und wie der Blitz war der Bulle oben und streckte die Zunge weit aus dem Maule. Da riefen sie freudig: »hei leckt schan! hei leckt schan!« aber er hatte auch zum letzten Male geleckt, denn er regte kein Glied mehr. Von dem gewaltigen Ziehen aber ist die Thurmspitze ganz schief geworden, und wer's nicht glauben will, der gehe hin und sehe selber zu.

Quelle:
Adalbert Kuhn / W. Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Leipzig 1848, S. 152.
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