3

[64] Es war inzwischen dunkel geworden. Friedrich wollte eben ins Haus zurückkehren, als er eine Gestalt herausschlüpfen sah, in der er seine Schwester Magdalene erkannte. Sie ging in das Gärtchen, und er hörte sie dort am Brunnen Wasser pumpen: denn es ist eine unlöbliche Gewohnheit der Leute, das Wasser, das sie morgens frisch haben könnten, abends zu holen und über Nacht stehenzulassen. Bald aber hielt sie in dieser Verrichtung inne und fing leise zu weinen an. Er wollte zu ihr treten, da kam jemand aus dem Hause nachgegangen, horchte eine Weile umher, fuhr, ohne ihn zu bemerken, ins Gärtchen[64] hinein, und die gellende Stimme der Stiefmutter rief: »Wo bleibst du denn, lahmes Mensch? Was dröhnsest da so lang?«

Magdalene antwortete mit stockender und gedrückter Stimme.

»Was? Ich will nicht hoffen, daß du heulst!« fuhr die Stiefmutter sie an.

Das Mädchen schwieg.

»Was hast du denn?« fragte die Alte hart und lieblos weiter. Als das Mädchen abermals keine Antwort gab, rief sie: »Das muß was Besonders sein. Der Herr suche mich nicht so schwer heim und lasse mich's nicht erleben, daß du dich am End gar vergangen haben wirst.«

»Oh, Mutter«, rief Magdalene, die hier plötzlich ihre Stimme fand, »wie könnt Ihr mich so verschänden! Ihr solltet Euch der Sünde fürchten, so etwas so laut vor der Nachbarschaft zu sagen, da Ihr doch wißt, wie ungerecht Euer Gerede ist. Ihr müßt's ja selber am besten wissen, daß ich Euch niemals aus den Augen gekommen bin.«

»Nun, nun, ich will ja weiter nichts gesagt haben, als daß das Heulen und Aunxen überflüssig ist, wenn man ein gut Gewissen hat.«

»Mein Gewissen ist gut«, erwiderte Magdalene unmutig. »Wenn nur auch alles andere so gut wäre.«

»Ei was, es steht alles gut. Mach jetzt nur, daß du ins Bett kommst. Du mußt morgen mit hellen Augen und roten Backen aufstehen, weißt wohl, warum.«

»Oh, Mutter, seid barmherzig und bringt den Vater[65] auf andere Gedanken! Auf meinen Knien wollt ich Euch anflehen, wenn ich wüßte, daß es bei Euchanschlüge.«

»Still mit den Narreteien da!«

»Mutter, ich hab einen Abscheu vorm Heiraten. Ich will Euch bei den höchsten drei Namen schwören, ledig zu bleiben mein Leben lang.«

»Damit wär mir gedient!« rief die Stiefmutter mithöhnischem Lachen. »Was ein recht's Mädle ist, das hat eine wahre Begier aufs Heiraten und kann nicht bald genug eine eigene Haushaltung überkommenwollen, um darin tätig und fleißig zu sein nacheigenem Sinn. Ein recht's Mädle sucht seinen Eltern vom Hals zu kommen, sobald es kann, und willnicht als eine unnütze Brotesserin zu Haus auf der faulen Haut liegen.«

»Lieg ich auf der faulen Haut?« entgegnete Magdalene vorwurfsvoll. »Werd ich nicht gepudelt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Hab ich das bißle Essen nicht so gut verdient, wie wenn ich Eure Magd wär?«

»Nun, so sei froh, daß du jetzt bessere Tage kriegst.«

»Ich will keine bessere Tage, ich bin ja zufrieden. Ich will noch härter arbeiten, will Euer Kehrbesen sein und Eure Ofengabel, will schlumpen und pumpen, nur laßt mich bleiben wie ich bin.«

»Das wär ein Kunststück! Bin ich eine Hex? Kann ich dich halten, daß du bleibst, heut wie gestern, und morgen wie heut? Kann ich's verhindern, daß du eine alte Jungfer wirst?«[66]

»Eine alte Jungfer kann auch in Himmel kommen.«

»Ja, aber durchs Nebentürle. Und jetzt hör auf mit dem Geschwätz. Es ist eine Ehr für dich, daß dich der Chirurgus nehmen will, so ein Herr! Wart, wenn du an seinem Arm daher stratzen kannst, das wird eine Hoffärtigkeit sein! Du verdienst's gar nicht, daß es so hoch hinaus soll mit dir!«

»Freilich verdien ich's nicht! Er soll eine andere nehmen, meinetwegen die verwitwete Herzogin, die tät vielleicht besser für ihn passen.«

»Was hast du gegen den Chirurgus?« rief die Sonnenwirtin zornig. »Was kannst du wider ihn sagen?«

»O Mutter«, begann das Mädchen nach einer Weile mit bebender Stimme, »denkt an Eure eigene Jugend zurück – er ist so alt – und so –«

»Du wüste Strunz du!« rief die Sonnenwirtin. »So, da liegt der Has im Pfeffer? Der Ehstand ist eine christliche Anstalt, dem Herrn zum Preis, und nicht für Üppigkeit und Fleischeslust. Wenn du so liederliche Gedanken hast, so bet, daß sie dir vergehen, oder behalt sie wenigstens bei dir und schäm dich. Wenn die Leut wüßten, daß du so fleischlich denkst, sie täten mit Fingern auf dich zeigen.«

Magdalene schluchzte: »O Mutter, Mutter!«

»Ja, Mutter!« spottete jene. »Ich weiß wohl, was Jesus Sirach einer Mutter einschärft im Sechsundzwanzigsten: ›Ist deine Tochter nicht schamhaftig, so halte sie hart, auf daß sie nicht ihren Mutwillen treibe, wenn sie so frei ist. Wie ein Fußgänger, der durstig ist, lechzet sie und trinket das nächste[67] Wasser, das sie krieget, und setzet sich, wo sie einen Stock findet, und nimmt an, was ihr werden kann.‹«

»Paßt das auf mich? Ich will ja lieber gar keinen?« rief Magdalene laut weinend.

Ohne sich irremachen zu lassen, fuhr die Sonnenwirtin fort: »Ich bin auch jung gewesen, aber in der Furcht Gottes, und so freches Zeug ist mir nicht im Schlaf eingefallen, geschweige daß es mir über die Lippen gekommen wäre. Dein Vater, wie ich ihn genommen hab, ist auch kein heurig's Häsle mehr gewesen. Im Gegenteil, dein Bräutigam ist dir noch näher im Alter. Wo ist der Mensch, dem's in der Welt nach seinem Kopf geht? Ein Christ muß sich in das schicken, was unser Herrgott über ihn verhängt. Jetzt heul, soviel du willst, heut mein'thalben die ganze Nacht da unten. Aber morgen hat's ein Ende mit dem Heulen, oder wenn's dich zu sauer ankommt, so wird dir dein Vater schon ein freundliches Gesicht herausbringen helfen, du weißt, er hat Mittel und Wege. Jetzt gut Nacht, Jungfer Braut.«

Die Alte schoß aus dem Gärtchen in das Haus zurück, wie ein unheimlicher Nachtvogel. Friedrich eilte, sich zu seiner Schwester zu gesellen, denn, dachte er, die kann's brauchen. Sie wär in der Dunkelheit leicht zu finden; er durfte nur dem Schluchzen nachgehen, das ihren jungfräulichen Busen zu zersprengen drohte. Stillschweigend faßte er ihre Hand.

Sie hatte ihn nicht kommen hören; erschrocken und[68] zornig riß sie die Hand weg und rief: »Wer ist da?«

»Gut Freund, Schwesterle. Hat der gelbe Drach wieder Gift gespien? Was ist denn das für ein Bräutigam, dem du die alten Knochen wärmen sollst?«

»Ach Gott, der Chirurg!«

»Was! der Zaunstecken?« – Und nun folgte eine Flut von Scheltwörtern, die immer drolliger wurden, so daß das arme Mädchen zuletzt selbst darüber lachen mußte. Plötzlich aber fiel sie in das vorige Weinen und Schluchzen zurück und warf die Arme um den Hals des lustigen Trösters: »O lieber Bruder!« rief sie – sie mochte nicht Frieder sagen wie die andern, und Friedrich klang ihr zu vornehm, zu gewagt – »lieber Bruder, ich wollt, ich wär bei unserer Mutter! Sieh, ich bin dir die ärmste Kreatur auf der ganzen Gotteswelt! Morgen soll der Verspruch sein, und das ist mein Tod. Ich kann ihn nicht ansehen, er ist mir zu arg zuwider!«

»Soll ich ihn zerbrechen?« fragte er grimmig durch die Zähne.

»Um Gotteswillen, fang keine Händel an! Du würdest mich nur aus dem Regen in die Traufe bringen.« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann verzagend fort: »Es gibt nur ein einziges Mittel, um aus dem Jammer hinauszukommen.«

»Vermutlich. Was denkst du?«

»Ich spring in die Fils, und das noch heut nacht.«

Friedrich lachte überlaut. »Du arm's Närrle! Das[69] müßtest du künstlich angreifen bei dem niedern Wasserstand. Nein, das ist nicht der Weg. Ich weiß einen andern – und der wär ganz sicher, sobald man sich fest darauf verlassen könnte.«

»Du bist ein leidiger Tröster.«

»Ja sieh, Kind, es steht ganz bei dir, und du hast's in der Hand, ob das Mittel zuverlässig sein soll oder nicht. Kannst du dich auf dich selbst verlassen?«

Er sprach diese letzten Worte mit besonderer Stärke, und es lag dabei etwas Geheimnisvolles in seiner Stimme, so daß seine Schwester ihn verwundert ansah. »Ich weiß nicht, wo du hinaus willst«, sagte sie.

»Der Mensch kann alles, was er will«, hob er an. »Heißt das, ich hab mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Der Mensch kann nicht alles, was er will, denn ich mag wollen, so viel ich will, so kann ich z.B. nicht Tag aus Nacht machen.« Er schwieg eine Weile, um seine Gedanken auf der ungewohnten Spur zu sammeln.

»Ja, das kann ich auch nicht«, sagte Magdalene dazwischen, mit einem Tone, welcher deutlich verriet, daß ihr das eine brotlose Weisheit dünke.

»Wart nur, ich bin noch nicht auf dem rechten Trumm. Ich hätt eigentlich sagen sollen: der Mensch kann alles, was er nicht will.«

»Jetzt hör auf!« rief Magdalene unwillig. »Du bist dem Narren übers Säckle kommen. Wenn du mir keinen bessern Rat weißt als solches Kauderwelsch, so muß ich ungetröstet ins Bett gehen.«

»Ich schwitz wie ein Magister«, sagte er. »Ich möcht dir das Ding recht glatt eingeben und bring's nicht[70] richtig heraus. Aber halt, jetzt geht's. So hätt ich sagen sollen: was der Mensch nicht haben will, das kann er sich vom Leib halten.«

»Da, halt uns den Regen vom Leib, weil du so ein überstudierter Kopf bist«, sagte Magdalene spottend.

Es fing nämlich soeben zu tröpfeln an.

»Gegen den Regen sind Schirme gewachsen, oder auch zum Beispiel die Laube dort. Komm, wollen uns drin bergen, denn es macht nicht bloß naß herunter, sondern auch recht kühl, und ich bin noch lang nicht fertig.«

Die beiden Geschwister gingen miteinander nach der Laube. Sie wär noch sommerlich genug überrankt, um vor dem Regen zu schützen, der jetzt in größeren Tropfen auf die Blätter niederschlug.

»Den Regen kann man sich allerdings vom Leib halten, wenn man irgendwo unterzustehen vermag«, fuhr Friedrich fort. »Aber ich seh jetzt doch, daß mein Gleichnis nicht auf alles paßt. Denn, wenn mich zum Beispiel ein Blitz trifft, so kann ich ihn nicht –«

»Behüt uns Gott!« unterbrach ihn seine Schwester. »Unberufen, unberufen, unberufen!« – Nachdem sie sich beeilt hatte, diese Zauberformel gegen böse Einflüsse und Vorbedeutungen dreimal auszusprechen, machte sie ihm lebhafte Vorwürfe wegen seiner sündlichen Rede.

»Das ist nur so figürlich gesagt«, erwiderte er. »Ich hab dir bloß zeigen wollen, daß es Dinge in der Welt gibt, die man sich nicht vom Leib halten kann, wo man konträr wollen muß, man mag wollen[71] oder nicht. Jetzt kann ich dir aber auch um so besser beweisen, daß es dafür andere Dinge gibt, die man sich vom Leib halten kann, wenn man nur recht tüchtig will. Zum Beispiel den Chirurgen –«

»Gott Lob und Dank, endlich kommst du doch auf den rechten Text. Aber sag nur einmal, wie?«

»Du nimmst ihn eben nicht.«

»Aber wenn der Vater sagt: du mußt?«

»Dann sagst du: ich will nicht.«

»Kann ich mir dann auch die Streich vom Leib halten?«

»Ja sieh, lieb's Kind, das ist's eben, darauf hab ich von Anfang an hinaus gezielt, und jetzt ist der Text vollständig. Vogel friß oder stirb! das ist der Text. Wenn aber das Vögele nicht fressen will, und es will eben um keinen Preis nicht, so muß es zwar sterben, aber die Sach ist doch nach seinem Schnabel gegangen. Das Leben ist der höchste Preis, den ein Vogel oder ein Mensch einsetzen kann, und mehr als das Leben kann man einem auch nicht nehmen. Wenn einer nun seinen Sinn fest darauf richtet, daß er denkt: die und die Nuß will ich nicht beißen! so muß ihm zum allerersten das Leben wohlfeiler sein als der Schnabel. Dann wird's aber auch ganz gewiß nach seinem Schnabel gehen und wird oft nicht einmal das Leben kosten. So sagst du jetzt, du mögest den Dürren nicht.«

»Für mein Leben nicht!« rief das Mädchen leidenschaftlich.

»Just, wie ich sagen wollte! Du bekennst also selber, daß dir dein Leben nicht so lieb ist, als es dir lieb[72] wär, des dürren Stecken ohne zu sein, und vorhin hast du ja gesagt, du wolltest lieber in die Fils springen. Damit pressiert's übrigens gerade nicht so sehr, nur muß es dein völliger Ernst sein, und zwar so, daß du dich lieber totschlagen ließest. Sieh, dein Leben wird dir doch lieber sein als eine trockene Haut oder ein heiler Rücken. Was ein heiler Rücken wert ist, das weiß ich aus Erfahrung, und ich kenn auch des Vaters schwere Hand.«

»Ja, ich auch.«

»Du wirst sie aber doch nicht so fürchten, wie den Tod.«

»Nein, das gerade nicht.«

»Nun sieh, jetzt kannst du an dir selbst die Probe machen, ob's ein Ernst ist oder eine bloße Redensart mit dem, was du gesagt hast. Die Menschen brauchen viel leere Redensarten. Da sagt einer: Das und das lass' ich mir ums Leben nicht gefallen! Und nachher, wenn's drauf und dran kommt, läßt er sich's gefallen um des Esaus Linsengericht oder auch noch um weniger, oder weil er einen Buckel voll Schläg fürchtet. Nimm dir einmal die Sach genau in Augenschein. Was kann dir der Vater tun? Umbringen wird er dich nicht, du bist ja sein eigen Fleisch und Blut. Aber puffen wir er dich, dessen kannst du gewiß sein, und mach dir nur keinen blauen Dunst darüber.«

Magdalene seufzte.

»Auch sonst wird's dir übel gehen; du wirst ein wahres Hundeleben haben, mehr noch als bisher. So leid mir's tut, dir das für gewiß zu sagen, so[73] müßt ich ja doch ein schlechter Ratgeber sein, wenn ich's verschweigen wollte.«

Magdalene seufzte abermals.

»Ich glaub's gern«, fuhr er fort, »daß es dir schwer eingeht, aber dennoch mußt du's recht genau ins Aug fassen. Übrigens kannst du dir dabei voraus denken, wie du bei jedem scheelen Blick, bei jedem Streich, an jedem Hungertag sagen wirst: ist mir doch lieber, als wenn ich bei dem Zaunstecken sein müßte, den ich nicht mag. Und dann, wie lang wird's dauern? Nur so lang, als sie meinen, daß sie dich zwingen können. Wenn deine Geduld größer ist als ihre Bosheit, so wird ihre Bosheit zunichte. Der schlanke Freiersmann macht am Ende den Kuhhirten von Ulm, oder es find't sich unterdessen eine andere Gelegenheit, die dem Vater in die Augen sticht, so daß er ihm selber den Laufpaß gibt. Zeit gewonnen, ist alles gewonnen. Mit dem Teil Ungemach, das du dir nicht vom Leib halten kannst, kaufst du dein junges Leben los von größerem Ungemach und behältst es unverschandiert, so daß dir der grüne Schleicher sein Lebtag nicht ins Bett kommen kann. Ich sag dir, Magdalene, was ich da gesprochen habe – es ist zwar gar nichts Neues, und viele reden desgleichen, aber sie wissen nicht, was sie sagen; denn es ist ein Geheimnis! Wer's aber recht versteht, der kann Wunder damit tun, und Wunder sind auch schon damit getan worden! Mit drei einfältigen Wörtlein: Ich tu's nicht! und ich tu's eben nicht! Damit kann ein rechter Kerl – Mannskerl oder Weibskerl gilt gleich viel – einen[74] Güterwagen sperren, und wenn sechs Dutzend Mecklenburger vorgespannt wären. Jetzt wirst du verstehen, warum ich gesagt hab: Das Mittel ist sicher, wenn man sich darauf verlassen kann. Frag dich nun selber, ob es sicher ist.«

Die Schwester trat fest und aufrecht vor den Bruder hin. »Und ich tu's eben nicht!« rief sie, seinen Ton nachahmend, indem sie dabei auf den Boden stampfte.

»So gefällst du mir«, sagte er lachend. »Komm, setz dich wieder. Sei nur standhaft und laß dir sonst weiter keine graue Haar wachsen. Ich bin ja um den Weg. Wenn sie dir den Futterkasten gar zu arg versperren, so will ich dein Rabe sein, und wenn des Alten Hand zu schwer wird über dir, so will ich dazwischen springen und die schwersten Streiche auffangen. Du weißt ja, er ist leicht abzuleiten: wenn er Hist töbert, so braucht man ihm nur mit einem ungäben Wort zu kommen, dann läßt er Hist fahren und tobt Hott. Laß mich nur machen, ich will dir den Regen mit dem Dachtrauf vom Leib halten, ich hab ja ein dickes Fell.«

Magdalene wurde vollends ganz zuversichtlich, während sie dieses Schutz- und Trutzbündnis verabredeten. »Verlaß dich nur auf mich«, sagte sie, »ich will zäh sein wie eine Katze.«

»Recht so«, erwiderte Friedrich. »Was will das bißle Ungemach heißen, wenn die Alte sich dafür das Gallenfieber an den Hals ärgert. Es ist doch ein wüst's Weibsbild, und was sie für abscheuliche Reden führt!«[75]

»Ach, ich hab mich so geschämt«, sagte Magdalene, indem sie wieder zu weinen begann und den Kopf auf ihres Bruders Schulter legte. »Sie hat mir das Herz im Leib herumgedreht mit ihren bösen Worten. Ich will ja dem Mann sonst nichts Schlimmes nachgesagt haben, aber warum soll er mir denn mit's Teufels Gewalt gefallen? Es ist ja doch wahr, daß er alt ist und häßlich, und soll ich denn das nicht sagen dürfen?«

»Freilich darfst du's sagen, und ein recht's Mädle darf wohl ein Aug auf ein Mannsbild haben und lugen, ob was Wohlgefälliges an ihm ist oder nicht. Die Heuchlerin, die! Glaub mir nur, wenn eine so verdammlich und augenverdreherisch redet und so den Willen Gottes vom Zaun bricht, die ist gewiß ein fauler Apfel.«

»Ach geh, du wirfst das Beil auch gleich zu weit hinaus. Nachsagen kann man ihr nichts, und sie hat dem Vater immer genau Haus gehalten, nur gar zu genau.«

»Meinetwegen, aber was sie da von ihrer Jugend schwätzt, das ist die lautere pure Heuchelei, und eh ich's ihr glaube, eher glaub ich, daß sie ein Hufeisen verloren hat. Für was braucht sie bei dir gleich auf so schandliche Gedanken zu kommen? Es sucht keiner den andern hinterm Ofen, er sei denn selber dahinter gesteckt. Bleib du bei deiner Art und schäm dich nicht. Der lieb Gott hat nichts dawider, wenn dir ein frischgrüner Apfelbaum besser gefällt als eine dürre Pappel. Was, Dummheit! Gleich und gleich gesellt sich gern.«[76]

»Ja, du scheinst mir auch ein feiner Hecht zu sein!«

»Mit den Alten werd ich's niemals halten, soviel ist gewiß. Jetzt möcht ich nur mein Schwesterle recht anständig versorgt sehen. Wart einmal, wir haben ja die Auswahl unter den jungen Burschen, wollen geschwind Musterung halten.«

»Ach, schwätz nicht so überzwerch heraus.«

»Mit welchem soll ich denn gleich anfangen? Ja, da ist zum Exempel heut abend der untere Müller dagewesen, der Georg.«

Er bemerkte ein leichtes Zucken an seiner Schwester und drehte ihr Gesicht zu sich herum. »Was?« rief er, »hab ich gleich auf den rechten Busch geklopft? Es ist nur schad, daß ich in der Dunkelheit nicht sehen kann, wie du dazu aussiehst.«

»Laß mich zufrieden«, sagte sie. »Ich hab was Nötigeres zu tun jetzt, als nach den jungen Burschen auszuschauen. Behalt deinen Spott bei dir.«

»Wenn dir's Ernst mit ihm ist, morgiges Tages bring ich ihn herbei, und wenn ich den Kälberstrick dazu nehmen müßte! Ich bin ihm ohnehin noch eine Rache schuldig. Er hat mich einmal helfen liefern, und wiewohl ich ihm das nach Gestalt der Sachen nicht sonderlich nachtrage, so wär mir's doch zweimal recht, ihn zur gnädigen Straf an eine lebenslange Kette zu legen.«

»Still, still!« rief sie und hielt ihm, übrigens erst, nachdem er ausgesprochen hatte, die Hand auf den Mund. »Komm, es ist schon so spät, wir müssen ins Bett. Der Vater könnt lärmen.«[77]

Sie gingen leise in das Haus zurück und sagten einander gute Nacht. Friedrich aber wartete, bis seine Schwester in ihre Kammer hinaufgehuscht wär, und sagte: »Ich muß doch probieren, ob man heut noch Wind und Wetter beobachten kann.« Er schlich über den Öhrn, klinkte unhörbar die Türe zum Wirtszimmer auf, wo ein Knecht in der Ecke schnarchte, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten, aber so lautlos, daß ihm kaum der Sand unter den Füßen knisterte, ging durch ein zweites kleineres und legte das Ohr an die Türe, die ins Schlafgemach seiner Eltern führte. Er hatte sich nicht getäuscht, sie waren noch in einer Gardinenunterredung begriffen.

»Auch wider den untern Müller hätt ich eigentlich nichts einzuwenden«, hörte er seinen Vater sagen.

»Wie kommst du denn auf den?« fragte die Sonnenwirtin dagegen.

»Mir deucht's seit einem Vierteljahr oder so etwas her, daß er ein Aug auf das Mädle hat. Er hat mir schon so eine Art Wink gegeben, freilich nicht mit dem Holzschlegel, denn er hat gar einen besonderen Stolz. Aber er ist ordentlich, bringt sein Sächle vorwärts und tät auch sonst besser für ein jungs Mädle passen als so ein alter Krachwedel.«

»Ei, Alterle, wie tust du doch so jung!« erwiderte die Sonnenwirtin. »Übrigens hab ich ebenmäßig nichts wider den Müller, und dem könntest du außerdem einen großen Gefallen erweisen. Ich hör, er will bauen, und da werden ihm ein paar tausend Gulden eine Frau erst recht wert machen.«[78]

»Das geht nicht!« brummte er dagegen. »Von der ›Sonne‹ kann ich nichts weggeben. Die ist und bleibt der Grundstock in der Familie, die darf nicht einen Strahl von ihrem Glanz einbüßen.«

»Dann wird er wenig Lust haben«, sagte sie. »Zum Bauen hat er das Geld nötig. So wacker er ist, so ist er doch noch zu jung, als daß ihm jemand so viel leihen tät! Also muß er's erheiraten.«

»Soll anders wohin gehen.«

»Der Chirurgus dagegen sagt, es sei eine Schande für einen Mann, wenn er beim Heiraten aufs Geld sehe. Er begehrt nichts dazu, er sagt, deine Tochter wär ihm lieb, und wenn sie nackt und bloß zu ihm käme, er wolle sie schon ernähren.«

»Nu, wenn sich kein anderer meldet, so kann er sie haben.«

»Ja sieh, aber er pressiert eben und wird auch nicht gerad warten wollen, bis es uns gefällig ist. Mit dem Probieren ist's so eine Sach. Die Mannsleut sind nicht so uninteressiert heutzutag. Wenn nun kein anderer käm, und der Chirurgus ging sonstwo auf die Brautschau, so blieb eben das Mädle sitzen, und das wär doch ein Spott und eine Schand.«

»Hm!« brummte der Sonnenwirt.

»Der Habich ist besser als der Hättich«, fuhr die Frau fort, »und wenn man einmal etwas tun will, so tut man's besser gleich, damit's nachher nicht zu spät ist. Mir kann's zwar soweit einerlei sein; es ist dein Kind und nicht meins. Was geht's mich an, wenn sie eine alte Jungfer werden will? Meinetwegen kann sie in der Wirtschaft bleiben, solang[79] sie mag. Deshalb ist mir's am liebsten, wenn ich dabei ganz aus dem Spiel bleiben kann. Nichts Schwereres für eine Stiefmutter, als solcherlei Pflichten zu erfüllen; denn wenn ich noch so gut sorge, so bin ich doch eben die rechte Mutter nicht, und wird mir mein Sorgen noch obendrein verdacht. Mach du die Sach mit deiner Tochter ab. Sprich mit ihr und frage sie, was ihr gefällig sei.«

»Fragen!« brauste der Sonnenwirt auf. »Man wird so ein Ding noch lange fragen. Sie soll froh sein, wenn man sie versorgt. Nun ja, der Haue muß ein Stiel gedreht werden. Also, wenn kein anderer um den Weg ist, so mag's mein'thalben der Chirurgus sein. Aber da soll er sich nur das Maul abwischen: bar Geld kriegt er keins von mir.«

»Sei ganz ruhig. Bis wann soll denn die Sach jetzt richtig werden?«

»Das laß ich dir über.«

»Sieh, Schwan«, hob die Sonnenwirtin mit einem freundlichen und überzeugenden Tone an, »ich hab das schon vorausbedacht, denn ich muß ja doch an alles denken. Weißt, morgen ist ja der Monatstag, da kommen die geistlichen Herren wieder zusammen.«

»Hm«, brummte der Sonnenwirt.

»Der Amtmann wird auch dabei sein, vielleicht sogar der Vogt von Göppingen.«

»Hm, ja.«

»Und weil unser Haus eigentlich doch auch ein wenig über den Leisten geschlagen ist, so könnte man dem Ding einen Anstrich geben, daß es ein[80] recht gesellschaftliches, fürnehmes Aussehen bekäme. Weißt, auf so was verstehst du dich! Wenn die Herren dann aufstehen müssen und Gesundheit trinken, so wird der Verspruch zur Hauptsach, und die Herren mögen wollen oder nicht, sie sind dann eigentlich nur um des Verspruchs willen da.«

Der Sonnenwirt hatte immer beifälliger gebrummt. »Dabei soll's bleiben!« sagte er endlich. »Aber jetzt laß mich schlafen, hast mir die Zeit lang genug gemacht.«

Auch Friedrich hatte genug gehört. Leise, wie er gekommen wär, schlich er hinaus und begab sich auf seine Kammer, wo er lange nicht schlafen konnte.

Als er in der Frühe seiner Schwester auf der Treppe begegnete und sie ihm guten Morgen sagte, klang ihre Stimme gar nicht so entschlossen wie vergangene Nacht. »Du machst ja ein Gesicht wie die Katz, wenn's donnert«, raunte er ihr zu; »stell dich krank, Magdalene, stell dich krank und mach, daß du nur über den Tag hinüberkommst.«

»Es wär keine Verstellung«, erwiderte sie, »wenn ich mich wieder legte.«

»Tu's, tu's!« rief er und sprang die letzten acht Staffeln mit einem Satz hinab.

Er ging den Fußweg am Bache hin, der mitten durch den Flecken läuft. Die Gänge der Mühle klapperten ihm eifrig entgegen. Von der Brücke aus sah er den jungen Müller im Hofe beschäftigt, allerlei Holz zusammenzusägen. Er blieb unschlüssig stehen, als aber jener aufblickte, setzte er sich in[81] Bewegung, als ob ihn der Weg zufällig hier vorüberführe.

»Guten Morgen«, rief er in den Hof hinein.

»Schön Dank.«

»Treibt's gut um?«

»So so, la la«, war die verdrossene Antwort.

»Ich glaub, an dir ist ein Zimmermann verloren gangen«, sagte Friedrich, indem er näher trat und sich gegen die Mauer lehnte.

»Hm, 's ist nur so ein wenig gebosselt.«

»Man sagt ja, du wollest bauen, Georg?«

»Willst mir dabei an die Hand gehen, Frieder?«

»Ja, ich! Was hätt'st du von mir? Soll ich dir Steine zutragen?«

»Hm, ja, aber solche, wo der Karl Herzog drauf geprägt ist.«

»Oder der alt Kaiser? Du hast's gut vor, Brüderle, solche Bausteine sind mir zu schwer, die muß ich liegen lassen.«

Die beiden sahen einander an, und ihre scheinbar gleichgültigen Mienen spielten ein langes stummes Frag- und Antwortspiel.

»Ich muß eben sehen, wie ich ein Dukatenmännle ins Hauskrieg«, sagte der Müller endlich. »Vielleicht wissen mir die Zigeuner eins.«

»Oder ein Bettelmädle mit ein paar tausend Gulden«, entgegnete Friedrich, den Stich verbeißend.

»Weißt mir eine?« fragte der Müller und sah ihn forschend an.

Friedrich schlug die Augen nieder und wühlte mit dem Fuß im Sägmehl, das am Boden lag. »Ist denn[82] das Bauwesen so nötig?« fuhr er endlich in seiner Verlegenheit heraus.

»Justement so nötig, als dein Geschwätz unnötig ist«, war die Antwort.

»Oh, ich will nicht lang mit dir ränkeln, du zuckerigs Bürschle, du. Bau du mein'twegen so hoch, wie der babylonisch Turm gewesen ist.«

Dieses brummend, nahm er einen verdeckten Rückzug, das heißt, er setzte den eingeschlagenen Weg an der Mühle vorüber fort, um in einem weiten Bogen wieder nach Hause zu kommen.

Der junge Müller sah ihm verwundert und ärgerlich nach. »Ich glaub, der hat Maulaffen feil«, brummte er, indem er wieder zur Säge griff.

»Die Katz maust links, die Katz maust links!« sagte Friedrich zu sich, mit bedenklichem Gesichte seine Schritte fördernd. »Ich wollt nur, daß der Tag im Kalender durchgestrichen wär.«

Von Not und Eifer getrieben rannte er dahin, obgleich er eigentlich nicht wußte, warum er zu eilen habe; es wär eine Aufregung in ihm, die seinem Gesicht in diesem Augenblick ein besonders kräftiges Aussehen gab. Die Leute, die auf der Straße oder an den Fenstern waren, mußten ihn unwillkürlich mit Wohlgefallen betrachten, und ein Mädchen, das ihm begegnete, grüßte ihn auf eine Weise, die trotz seiner gedankenvollen Selbstvergessenheit nicht unbemerkt von ihm blieb. Es wär ein schlankes Mädchen mit gelben Zöpfen, noch sehr jung und von auffallend hellen Gesichtszügen; in ihren Mienen lag eine eigentümliche Mischung von Zutraulichkeit[83] und Unschuld. Sie grüßte ihn mit dem gebräuchlichen Bauerngruße, das heißt, sie »wünschte ihm die Zeit«, aber mit einem Blicke, der, so schnell und schüchtern er vorüberglitt, eine Freundlichkeit, eine gewisse Teilnahme und Hingebung aussprach, die nur in einem Blicke so ausgesprochen und eben deshalb nicht weiter beschrieben werden kann. Genug, ihm wär, als hätte sich das junge Mädchen mit diesem Blicke ganz und voll und warm in seine Arme gelegt, und er, für einen solchen Eindruck nichts weniger als unempfänglich, fühlte sich hingerissen, obgleich er sich erst einige Sekunden nach der Begegnung bewußt ward, daß er gegrüßt worden sei, daß er einen Blick dabei wahrgenommen und daß dieser Blick ihm gegolten habe. Jetzt erst blieb er stehen und sah ihr nach. Sie wär schon ziemlich weit entfernt, und ihre Zöpfe flogen lustig hinter ihr her. »Ich kenn doch jedes Kind hier«, sagte er, »ist's vielleicht eine Fremde? Sie trägt sich übrigens ganz Ebersbachisch. Aber das ist ein blitznett's Schelmengesicht!« – Er wäre ihr gerne nachgegangen, aber er scheute die Mühle. Auch fiel ihm nur allzubald die Sorge wieder aufs Herz, die ihn aus dem Hause getrieben hatte. Er wandte sich, durchmaß einige Gäßchen, ging weiter oben über das Wasser zurück und kam unverrichteter Dinge nach Hause, wo ihm ein vielsagender Duft aus der Küche entgegenströmte.

Nach dem Essen, als er Gelegenheit fand, einen Augenblick mit seiner Schwester allein zu sein, fragte er sie: »Ist dir's noch wie gestern?«[84]

Magdalene versuchte zu lachen; es wollte ihr aber nicht recht gelingen. »Ich tu's eben nicht!« flüsterte sie, indem sie in der gestrigen Haltung auf den Boden stampfte; aber ihre Stimme klang wie eine ohnmächtige Einsprache gegen das Schicksal, und über ihre Augen flog ein Nebel hin. Die Geschwister hörten des Vaters Tritt; da stoben sie auseinander.

Friedrichs Beklemmung stieg immer höher. Der Geist der Gewalttätigkeit begann in ihm wach zu werden. Er ging unruhig durch das Haus und suchte ein Brett, das ihm gerecht wäre. Dann stieg er auf den Boden, um Erbsen zu holen. Er wollte dem Chirurgus einen halsbrechenden Empfang bereiten. »Wenn sie mich auch wieder nach Ludwigsburg schicken«, dachte er, »was tut's!« Als er aber mit seinen Vorbereitungen fertig wär, fiel es ihm ein, daß die geistlichen Herren, die heute ihr »Kränzchen« in der ›Sonne‹ hatten, mit nächstem anrücken würden, und er entsagte seinem Attentat. Vor der Klerisei hatte er einen wohlbegründeten Respekt. Denn, dachte er in seiner rohen Weise, statt des Chirurgen könnt mir auch einer von den Pfarrern abe hageln, und das tät mir schlimmer gedeihen, als wenn ich meinem Vater einen Strick um den Hals gemacht hätt und hätt ihn an den Schild hinausgehenkt. Nicht lange, so erschienen die ersten der erwarteten Ankömmlinge. Von ihren weitschößigen schwarzen Röcken umrauscht, stiegen sie ernsthaft die Treppe empor, und ihre weißen Bäffchen oder Überschlägchen, wie man dieses geistliche Würdezeichen[85] in Süddeutschland heißt, begleiteten ihre Unterredung, indem sie, beim Sprechen von den Halsmuskeln in Bewegung gesetzt, taktmäßig über der Brust auf und nieder klappten. Arglos überschritten die Pastoren die verhängnisvolle Staffel, die, wenn Gedanke und Tat ein Ding wären, ihnen ein Stein des Anstoßes und gewiß auch nicht geringen Ärgernisses geworden sein würde. Dem Chirurgus hatte es sein guter Geist eingegeben, daß er die Nachhut bildete, und so gelangte auch er wohlbehalten unter den Fittichen der geistlichen Macht herauf. Die Herren verfügten sich in ihr besonderes Kabinett. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft ließen nun auch nicht länger auf sich warten; als die allerletzten kamen, um keine unschickliche Eile zu beweisen, der Pfarrer und, Saul unter den Propheten, der Amtmann des Orts. Mittlerweile fanden die dampfenden Schüsseln ihren Weg aus der Küche ins Kabinett. Die Sonnenwirtin und Magdalene trugen sie. Letztere hatte, als einen schwachen Versuch, sich mit Krankheit zu entschuldigen, ein Tuch um den Kopf gebunden, das ihr aber noch unterwegs von der sorgsamen Mutter abgerissen wurde. »Morgen kannst Kopfweh haben, soviel du willst«, sagte sie, »aber heut darfst nicht wehleidig sein.« Der Sonnenwirt begnügte sich, die Herren zu empfangen, ins Kabinett hinein zu komplimentieren und von Zeit zu Zeit nachzusehen, ob nichts fehle. Der Chirurgus durfte die Flaschen auftragen helfen, was dem Amtmann und dem Pfarrer Anlaß gab, ein wenig zu sticheln. Nachher hatte er die Ehre, einem[86] von den Herren Schnupftabak zu besorgen, und zuletzt, als man nichts mehr von ihm wollte, zog er sich mit einer feinen Wendung zurück. Mit dem Hauptauftritt mußte man natürlich warten, bis die Herren ihre nächste Aufgabe, nämlich die teils gebackenen, teils blau abgesottenen Forellen vom Tische verschwinden zu machen, bereinigt haben würden.

Friedrich war mit der Aufwartung im gewöhnlichen Wirtszimmer bei den Fuhrleuten betraut worden, erhielt aber nach einiger Zeit durch Vermittlung seiner Mutter, die ihm doch nicht recht traute, vom Vater den Befehl, in den Stall zu gehen und die Pferde zu füttern. Die unschuldigen Tiere mußten sich dabei manchen Puff gefallen lassen. Als er wieder heraufkam, sah er, was ihm sein Verstand schon gestern abend hätte voraussagen können, seine Schwester als »glückliche Braut«. Der Vater hatte sich inzwischen die Freiheit und die Ehre genommen, sie als solche im Kabinett vorzustellen, das man, um der Sache mehr Öffentlichkeit und Ansehen zu geben, gegen das Wirtszimmer offengelassen hatte. Die Herren wünschten Glück, stießen mit den Gläsern an und machten etliche versteckte skurrile Witze, alles das, wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt. Magdalene knixte mit ängstlichem Lächeln und zwang die Tränen zurück, die freilich sehr nahe waren, aber wie hätte sie vor so gewaltigen Herren wagen können, einen Willen geltend zu machen? Der Chirurgus stand neben ihr, ganz grün vor Seligkeit. Die Sonnenwirtin freute[87] sich, daß sie den niederdrückenden Einfluß, den die Herrengesellschaft auf das Mädchen üben würde, so sicher voraus berechnet hatte. Der Sonnenwirt schmunzelte und schwamm in Wohlbehagen über die honoratiorenschaftliche Haupt- und Staatsaktion. Friedrich seinerseits ließ im Wirtszimmer seine festliche Bewegung an einer Flasche aus, die, als sie mit lautem Klirren am Boden zerbrach, die allgemeine Stimmung durch Schrecken, Lachen, Zorn und Scheltworte hindurch in das gewöhnliche Geleise zurückbrachte. Die Türe des Kabinetts schloß sich wieder, die Wirtschaft ging ihren Gang, und als die Herren abends ihre Sitzung aufhoben, blieb es ein Geheimnis, was der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war, ob die Ewigkeit der Höllenstrafen oder die Aufbesserung der Besoldungen. Nur eines hatte sich entschieden und unabänderlich festgestellt, nämlich, daß Magdalene jetzt das wär, was sie vergangene Nacht um keinen Preis, selbst nicht um den Preis ihres Lebens, hatte werden wollen.

Friedrich redete den ganzen Abend kein Wort mit seiner Schwester. Als sie ihn einmal lange schüchtern und bittend ansah, antwortete er mit einem Blick, der ihr deutlich sagte, daß er, wenn er Gelegenheit hätte, seinen tollen Jähzorn tätlich an ihr auslassen würde. Sie vermied es deshalb, allein mit ihm zusammenzutreffen. Da man ihr jetzt keinen Zwang mehr antat und ihr Bräutigam, geduldig auf besseres Wetter wartend, sich beizeiten nach Hause gemacht hatte, so ging sie noch vor dem Abendessen zu Bette.[88]

Auch diese Nacht konnte Friedrich die Augen lange nicht schließen. Es war ihm sehr übel zumute. Der Zorn über das feige Benehmen seiner Schwester hatte sich in eine seltsame Bangigkeit verwandelt. Er fühlte sich ganz im Stich gelassen und begann zu ahnen, daß ihm das Leben noch harte Nüsse zu knacken geben werde. Daß die Menschen nicht seien, wie sie sein sollten, das war ihm klar geworden; wie er aber selbst unter solchen Umständen eigentlich sein sollte, das wußte er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die Frage an sich zu stellen. Mitleid, Angst, Empörung wechselten auf die wunderlichste Weise in ihm ab, und das Heimweh nach der sichern Umfriedigung des Zuchthauses kehrte ihm aber und abermals zurück. Er hatte es mit angesehen, wie neben den Verbrechern auch arme Waisen zu nicht schimpflicher Arbeit in dasselbe aufgenommen wurden, und ihr Los wollte ihn wie ein neidenswertes Glück bedünken. Aber mitten unter diesen verschiedenen Regungen fand er noch Raum genug in seinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübsche Mädchen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 64-89.
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