26

[369] Rasselnd und donnernd fuhren eines Vormittags mehrere Jagdequipagen die Straße herauf. Mitten im vollen Jagen hielt die vorderste vor der Sonne und nötigte dadurch die andern zu einem ebenso plötzlichen Halt. In der Sonne gab es ein Rennen und Jagen treppauf und -ab. Der Herzog Karl selbst war es, der in der ersten Kalesche saß und im raschen Vorbeijagen nach dem Schurwald einen Trunk vom Besten begehrte. Die Ehre war groß, noch größer aber die Eile, mit welcher der Befehl ausgeführt werden mußte, denn es war bekannt, daß der Herr nicht gern wartete und weder im Großen noch im Kleinen ein Hindernis seines Willens gelten ließ. Der Sonnenwirt flog daher wie ein Jüngling von achtzehn Jahren, und wenig fehlte, so wäre er die Treppe hinabgefallen; doch brachte er den alten[369] Familienpokal glücklich an den Wagen. Sein Sohn sah vom Fenster aus zu, wie ihn der Herzog in Empfang nahm und nach einem guten Zuge wieder zurückgab; er sah, wie der junge Fürst gnädig, aber immer hastig mit seinem Vater sprach, wie dieser unter tausend freudigen Bücklingen sich weigerte, die Zeche zu machen, aber von dem bei dem Herzog im Wagen sitzenden Hofherrn einen mit einem gebieterischen Wink begleiteten Silbertaler an nehmen mußte. Neugierig betrachtete er den von Jugend und Jagdlust strahlenden Landesherrn, dessen Allmacht ihm die Zahl seiner Jahre voll machen und doch den Wunsch seines Herzens nicht erfüllen konnte: das vornehme, freie Gesicht mit den herrisch umherschweifenden hellblauen Augen drückte eine machtbewußte Sorglosigkeit aus, welche die Freuden des Lebens in vollen Zügen schlürfte und sich dabei um keinerlei Bedenken zu kümmern hatte. So mußte es wenigstens einem jungen Menschen erscheinen, dem die Kehrseite solcher Herrlichkeit verborgen blieb. »Nur ein Scherflein von dieser Freiheit und Ungebundenheit!« seufzte er: »ich wollt es ja nur dazu benutzen, um an meinem Weib und Kind ein rechtschaffen Werk zu tun!«

»Wer wird denn dastehen und gucken, wenn's alle Händ voll zu tun gibt!« rief eine Magd, die in die Stube stürzte. »Die Herren in den andern Kutschen wollen auch Wein. Fort! im Hausgang drunten stehen schon Butellen g'nug, 's fehlt nur an Händen, um sie nauszutragen.«

Er eilte hinunter, ergriff mechanisch ein paar Flaschen[370] und trug sie vor das Haus, wo sein Vater soeben, trunken vor Glück von dem Wagen des abfahrenden Herzogs zurücktrat und, beständig komplimentierend, seinem Sohn rücklings in die beladenen Arme taumelte. In diesem Augenblick erhob sich ein Angstgeschrei. Das vordere Pferd am herzoglichen Wagen, durch die neugierig umherwogende Menge oder vielleicht durch irgendeine mutwillige Untat der lieben Jugend scheu gemacht, bäumte sich so unversehens und heftig, daß der Jagdpostillon die Meisterschaft zu verlieren in Gefahr war und die andern Pferde gleichfalls unruhig wurden. Das Geschrei der Menschen, besonders aus den hintern Kaleschen, steigerte die Verwirrung der Tiere, der Postillon schwankte im Sattel, die umstehenden Männer, die zufällig keine Helden waren, wichen zurück und versperrten kräftigeren Händen den Platz, so daß nachgerade die Sicherheit des Herzogs an einem Haare hing. Da ließ Friedrich seine Flaschen fallen, daß sie klirrend am Boden zerbrachen, mit einem Sprung hatte er sich des ungebärdigen Rosses bemächtigt, das ihn auf und nieder schleuderte, endlich aber seiner markigen Hand sich fügen mußte. Als der stärkste Widerstand des Tieres gebrochen war, sprang noch ein Knecht herbei, der es vollends bändigen half, und nun kam alles, was Hände hatte, um die überwundene Gefahr noch einmal zu überwinden. Der Herzog, ärgerlich, daß seine Allgewalt vor den Augen der Sterblichen einen kleinen Eintrag erlitten hatte, rief: »Hat nichts zu sagen! Vorwärts! Keine Umstände weiter!« nickte aber im[371] Fortfahren dem jungen Menschen, der ihm diesen Dienst erwiesen, gnädig zu, griff dabei in die Westentasche und warf ihm ein Goldstück hin, während der vordere Postillon, seine wiedergewonnene Haltung mit verbissenem Grimm behauptend, die Peitsche gegen die herzudrängende Menge aufhob und der Jagdzug in donnerndem Laufe davonbrauste. Ein Gelächter folgte den unglücklichen Hofherren, die über dem Abenteuer ihres Gebieters nichts zu trinken bekommen hatten und sich ohne Zögern anschließen mußten, um ihren Durst im Schatten der Wälder oder vielleicht im Blute des Ebers zu kühlen. Noch einen Augenblick, und die ganze stolze Erscheinung war verschwunden, und die Straße mit den städtisch großen, aber einförmig grauen Gebäuden sah wieder so werktäglich aus, als ob sich gar nichts zugetragen hätte.

Friedrich war sogleich in das Haus zurückgekehrt, während sein Vater noch im Vollgenuß der gehabten Ehre mit den Nachbarn sprach, wobei er nicht unterließ, sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Flecken früher eine Post gehabt habe, von welcher er behauptete, daß sie mit der ›Sonne‹ verbunden gewesen sei.

»Wo hast dein' Goldvogel?« fragte er seinen Sohn vergnügt, als er mit dem Knechte heraufkam, um zu Mittag zu essen. »Der Johann sagt, es sei ein Goldstück gewesen, was dir der Herzog zugeworfen hab.«

»Ich hab's nicht aufgehoben«, antwortete Friedrich.

»Was? Bist von Sinnen?« schrie der Sonnenwirt.[372] »Ich hab eine Menschen- und Christenpflicht getan«, sagte Friedrich, »und dafür laß ich mich nicht mit Geld auszahlen. Zudem weiß man wohl, für was der Herzog die Dukaten in der Westentasch trägt – fürs Weibervolk. Das ist kein Geld für mich.«

»Hast's so übrig?« fragte der Vater, indem er den Löffel niederlegte, den er mit dem besten Appetit zu handhaben begonnen hatte. Das Essen wollte ihm nicht mehr recht schmecken. »Du bist mir der Recht zum Obenaussein«, setzte er hinzu.

»Dann hätt das Geld wenigstens mir gehört«, maulte der Knecht, »denn ohne mein' Beistand kann man nicht wissen, wie das Ding ausgegangen wär.«

»Warum hast's nicht genommen?« sagte Friedrich. »Ich hätt's dir nicht mißgönnt.«

»Such, Johann, such!« rief der Sonnenwirt. Aber der Knecht war schon aufgesprungen, und man hörte ihn die Treppe hinunterpoltern. Nach einer guten Weile kam er finster zurück und sagte: »Ich hätt mir's schon denken können, daß so was nicht lang liegenbleibt. Wer's aber genommen hat, ist ein Dieb. Der soll mir kommen. Ich werd's schon rausbringen, wer den gelben Vogel im Käfig hat. Der Fischerhanne, der ist, glaub ich, am nächsten dabei gestanden. Dem wassergrünen Spitzbuben werd ich aufpassen.«

»Schäm dich, Johann«, sagte Friedrich, »daß du dein' Nebenmenschen schlecht machst, eh du weißt, ob er's ist. Der Fischerhanne ist nicht mein Freund und wird's auch nicht werden, aber ich tät mich[373] doch zweimal besinnen, eh ich ihn einen Dieb hieß ohne allen Grund und Beweis. Und dir hat er nie was zuleid getan. Esel, warum hast du das Geld nicht gleich aufgehoben?«

Der Knecht sah ihn giftig an und murmelte halblaute Flüche in seine Suppe hinein.

»Das Aufheben wär an dir gewesen, du hochmütiger Herr«, sagte der Sonnenwirt zu seinem Sohne. »Du nimmst, wo du nichts anrühren sollt'st, und läßt liegen, was dein ist.«

Friedrich schwieg. Er hatte einem Advokaten in Göppingen geschrieben, ob er sich nicht seiner annehmen und seine Sache gegen seinen Vater führen wolle. Inzwischen gedachte er jeden unnützen Streit mit diesem zu vermeiden und sich, solange er ihm sein mütterliches Erbe nicht herausgab, als Kind von ihm ernähren zu lassen, was er ihm durch seine Dienste hinlänglich zu vergelten glaubte; denn wenn er auch mitunter, von Zorn und Überdruß ergriffen, in seiner Arbeit nachließ, so meinte er sich doch das Zeugnis geben zu dürfen, daß sein Vater mit Unrecht über solche Unterbrechungen klage, die im Vergleich mit seinem sonstigen Fleiß und Eifer kaum in Rechnung zu bringen seien.

Der Sonnenwirt schwieg gleichfalls und beschäftigte sich wieder mit dem Essen. Im ganzen hatte er doch keinen Grund, sich den Appetit vergehen zu lassen. Sein Sohn hatte dem Herzog einen nicht unbedeutenden Dienst geleistet, der jedenfalls der Sonne zustatten kommen mußte. Konnte dieses Ereignis aber nicht vielleicht auch das Glück des jungen Menschen[374] machen und ihn sogar aus seiner verkehrten Richtung herausreißen? Der Herzog war gegen seine Gewohnheit weggefahren, ohne eine Wort zu verlieren; denn wenn er auch das Land wenig schonte, so pflegte er doch den Leuten ein gut Gesicht zu machen und konnte mit dem Geringsten im Volke freundlich reden. Nach einigen Tagen, auf der Rückfahrt, oder auf einer späteren Durchreise, falls er diesmal einen andern Rückweg einschlug, fragte er gewiß nach dem Jüngling, dessen kräftiger Arm ihn vor einer Gefahr bewahrt hatte, und je kleiner dieser sein Verdienst machte, desto höher konnte er in der Gunst des Herrn steigen. Posthalter von Ebersbach! Der Alte konnte diesen Gedanken nicht aus dem Kopfe bringen. Da war aber freilich immer wieder diese fatale Liebschaft im Wege.

Während der Sonnenwirt solchen Gedanken nachhing und dazwischen wieder dem Essen zusprach, dachte sein Sohn an nichts, als daß morgen der dritte Sonntag sei, an welchem er hätte proklamiert werden sollen, und daß heute die Antwort auf seinen Brief aus Göppingen eintreffen müsse. Um dieselbe geheimzuhalten, hatte er nicht die Post, sondern einen Bekannten benützt, der in Geschäften droben war und zu dieser Stunde zurückkommen sollte. Er stand vom Essen auf und ging die Straße hin, um den Brief in Empfang zu nehmen, mit welchem er sodann unter die Erlen an dem Flüßchen eilte. Der Advokat schrieb, er mische sich nur höchst ungern in Händel zwischen Kindern und Eltern, zudem scheine ihm die Sache sehr verwickelt, der[375] Ausgang ungewiß, und ohne einen Vorschuß könnte er sich nicht in diese Geschichte einlassen. Abermals eine vereitelte Hoffnung! Er knirschte mit den Zähnen, schüttelte einen alten Weidenbaum, daß er in den Wurzeln krachte, und ging kranken Herzens, denn jetzt wußte er nicht mehr, womit er Christinens tägliches Wimmern stillen sollte, in das väterliche Haus zurück.

Er war dort heute nichts weniger als überflüssig. Dieselbe Straße, auf welcher des Herzogs leichte Kaleschen den Staub aufgewirbelt hatten, kamen jetzt schwere Frachtwagen langsam vor die Sonne dahergefahren. Friedrich half die Pferde ausschirren und versorgen. Dann ging es an die leibliche Pflege der Fuhrleute, die keine geringen Ansprüche machten und mehr Geld sitzenließen, als der Herzog samt seinem ganzen Hof. Hier war die Sonnenwirtin an ihrem Platze. Sie wußte nicht bloß das Bedürfnis und den Geschmack der Gäste zu befriedigen, sondern auch eine Unterhaltung mit ihnen zu pflegen, bei welcher wenigstens der Verstand nicht zu kurz kam, so daß einst ein Fuhrmann zu seinen Gefährten sagte: »So lieb mir Herz und Nieren sind, so möcht ich doch der Sonnenwirtin ihr Herz nicht fressen, denn warum? Sie hat eben kein Kalbsherz, aber ihr Hirn, das tät mir, glaub ich, schmecken, und bin doch dem Kalbskopf feind.«

Kaum waren die Fuhrleute bedient und zum Teil nach ihren Rossen zu sehen gegangen, so kamen abermals Gäste, und zwar diesmal zu ungewohnter Stunde aus dem Flecken selbst. Es war der junge[376] Müller Georg, den wir kennen, mit einem Mädchen von nicht ungefälligem Aussehen, das er als seine Braut vorstellte, und einem Schwarm von Sippschaft aus benachbarten Orten hinterdrein, worunter sich auch der Knecht des anderen Müllers befand. Er gehörte, wie sich aus dem Gespräch ergab, zur Verwandtschaft und hatte als Unterhändler dieses Verlöbnis zustande bringen helfen, daher er billig beim Brauttrunke sich mitfreuen durfte. Die vergnügte Miene des Müllers verriet es, und derbe Andeutungen der anderen Verwandten sagten es noch lauter, daß die Braut »Batzen« habe. Ehe die Gäste sich setzten, fand eine lange Begrüßung statt, bei welcher der Sonnenwirt in ehrerbietigerem Tone als gewöhnlich und die Sonnenwirtin mit sauersüßem Gesichte dem Müller Glück wünschten. »Ja ja«, sagte diese, »jetzt habt Ihr das recht Wasser auf Eure Mühle gefunden; der Silberbach, nicht wahr, der wird sie besser treiben als der Ebersbach?« Die ganze Verwandtschaft lachte sehr geschmeichelt zusammen. Nun trat auch Friedrich zu dem jungen Manne, den er trotz jener Husarenjagd wohl leiden konnte, obgleich er in letzter Zeit mit ihm, der sehr eingezogen lebte, nur selten in Gesellschaft gewesen war. Er schüttelte ihm die Hand, begrüßte die Braut gleichfalls und brachte seinen Glückwunsch mit wenigen, aber herzlichen Worten an. »Jetzt tu Wein her, Frieder, und das nur g'nug!« sagte der Müller. »Heut laß ich alle Gäng los! Du mußt auch mittun, wir haben schon lang nicht mehr miteinander getrunken.«[377]

»Ja, ich will so frei sein«, erwiderte er freundlich und eilte in den Keller.

»Ihr habt heut 'n Glückstag gehabt, Herr Sonnenwirt«, begann der Bräutigam, als die Gesellschaft, den Wirt und seine Frau mit eingeschlossen, an dem runden Tische Platz genommen hatte. »Ich bin nicht dabei gewesen, hab's aber gehört. Und der Frieder, das ist ja ein Kerl wie ein Löw! Nun, der hat die Wurst nach der Speckseit geworfen; der Herzog wird sich's hinter die Ohren geschrieben haben.«

Der Sonnenwirt erzählte unmutig, wie sein Sohn das ihm zugeflogene Goldstück verschmäht habe. Die Gesellschaft hörte mit Verwunderung und Kopfschütteln zu. Die junge Braut lachte überlaut. Dies ärgerte zwar den Sonnenwirt ein wenig, doch glaubte er darin ein Zeichen von vielem Menschenverstand erkennen zu müssen.

»Ja, er ist sein Lebtag ein besonderer Kopf gewesen«, sagte der Bräutigam. »Aber das muß man ihm doch lassen, hilfreich ist er und meint's vielmals gut. Denkt's Euch noch, wo er die Schramm her hat, die man immer noch auf seiner Stirn sieht? Da ist einmal der Totengräber mit seinem Weib und seinem Mädle am Burggarten runtergefahren, haben ein Wägele mit Heu, glaub ich, geführt, und wie eben die Leut vergeßlich sind, oder vielleicht auch aus Armut, haben sie keine Kette bei sich gehabt und ein mageres Kühle vorgespannt, und haben die Weibsleut den Radschuh machen müssen, wie's auch sonst im Leben oft vorkommt.«[378]

Die Gesellschaft lachte. »Ist auch oft nötig«, rief eine rüstige dicke Frau, die für die Braut den Mund auftat. »Wenn ein Mann kopfüber kopfunter bergabe will, so tut's ihm wohl not, daß er ein tüchtig's Weib hat, das ihm den Rappen anhält und den Wagen sperrt.«

»Über das«, fuhr der Müller fort, »ist das Wägele in Schuß kommen, das Kühle hat's nicht mehr verheben können, und wer weiß, wie's gangen wär, da kommt auf einmal der Frieder des Wegs daher, sieht den Unstern und springt bei, er ist schier kaum sechzehn Jahr alt gewesen. Anhalten hat er das Wägele auch nicht mehr können, aber rum hat er's samt dem Kühle gerissen, so daß das Rad am Mäuerle aufgefahren ist und am Vorsprung festgesessen. Kuh und Wagen und Leut, keinem hat's was getan, aber den Frieder hat's mit der Stirn an die Mauer hingeschlenkert, daß man ihm hätt mit einer Latern in Kopf hineinzünden können.«

»Ja, ich weiß wohl noch, wie man mir den gottlosen Buben halbtot ins Haus bracht hat«, sagte der Sonnenwirt.

Die Türe ging auf, und Friedrich erschien mit den Flaschen. Der Müller, der sich entweder sehen lassen oder auch vielleicht das Gespräch noch länger fortsetzen wollte, rief: »Was, das ist alles? Gleich wieder in Keller! Der ganz Tisch muß vollgepfropft sein. Kann dir nicht helfen, Friederle, heut muß ich dir müde Füß machen.«

»Oh, ich tu's ja gern«, rief Friedrich und eilte wieder in den Keller.[379]

»Ich hab oft zu mir gesagt«, hob der Müller wieder an, »aus dem Buben kann noch was werden.«

»Im guten oder im bösen«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich hab's auch schon gedacht, daß er nichts Halb's werden will. Seit einiger Zeit aber hat er sich ganz auf die eine Seit geneigt. Ihr wisset's ja selber, wie er mir Verdruß und Bekümmernis macht.«

»Darin will ich ihm den Kopf nicht heben«, sagte der junge Müller, indem er seine Braut zärtlich ansah. »Besser ist besser, das weiß ich. Aber wenn die Sach eben einmal so weit ist, wie bei dem Frieder – ich sag's ganz unmaßgeblich, Herr Sonnenwirt, ich red bloß von mir – wenn ich 'n Sohn hätt, und er ging in solchen Schuhen und wollt eben um Gottes oder 's Teufels willen seinem Schatz Wort halten und sein Kind vor Elend bewahren – ich weiß nicht, was ich tät, aber soviel müßt ich mir doch immer sagen: das Kind, das ist dein Enkel.«

»Unser Herrgott wird davor sein, daß dir so was zustoßt«, sagte die dicke Frau, welche die Sprecherin machte, mit scharfbetonter Mißbilligung. »Hätt'st wenigstens gleich dazu sagen sollen: Unbeschrien! An einem Tag, wie der heutig, mußt kein so Ding reden.«

Der Bräutigam wurde gewahr, daß er einen großen Bock geschossen. Er wandte sich zu seiner Braut, welche blutrot geworden war, und flüsterte ihr unausgesetzt gute Worte zu, ohne weiteren Anteil an dem Gespräch zu nehmen. Anfangs schien sie etwas[380] scheu und widerwillig zu sein, auch zog sie den Arm weg und rückte ein wenig, wenn er sie berühren wollte; nach und nach aber ließ sie sich wieder begütigen.

»Das wär mir eine neue Erziehung«, nahm die Sonnenwirtin nach der Tadlerin das Wort, »wenn des Menschen Eigensinn Gottes Will heißen müßt. Des Teufels Will, ja, das ist recht gesagt.« – Sie sah sich im Kreise um und begegnete, wenigstens bei den weiblichen Mitgliedern desselben, lauter beifälligen Gesichtern.

»Herr Sonnenwirt!« begann ein alter Fuhrmann, der beinahe unbeachtet in der Ecke am anderen Fenster saß und dem Gespräche sehr aufmerksam zugehört hatte: »Lasset ein Wort mit Euch reden und gebet Eurem Sohn das Mädle, daß das Geschrei unter den Leuten einmal aufhört. Bei Kannstatt drunten hab ich einen ähnlichen Fall erlebt. Da hat auch ein Wirtssohn eine arme Taglöhnerstochter geheiratet, und die ganz Verwandtschaft ist dagegen gewesen, aber er hat's durchgesetzt, warum? Weil er Herr im Haus gewesen ist nach seines Vaters Tod. Es ist aber ganz gut geraten. Anfangs, freilich, hat man auch dem Teufel ein Bein brechen müssen, denn die jung Frau hat ein wenig hochmütig sein wollen auf ihr fein's Gesicht und ihren neuen Stand und hat dabei natürlich von der Wirtschaft nichts verstanden und der Schwieger nicht folgen wollen; aber der Mann ist gescheit gewesen und hat zu seiner Mutter gehalten und sein Weib links und rechts hinter die Ohren geschlagen, bis sie pariert hat. Jetzt[381] geht's, und die Einkehr bei der schönen Wirtin ist groß, und die Mutter, die früher am ärgsten gegen die Heirat gewesen ist, ja, die trägt jetzt ihre Tochter schier auf den Händen.«

»Das paßt wie eine Faust auf ein Aug«, lachte die Sonnenwirtin. »Freilich, wenn ein Vater tot ist, da kann ihm sein Sohn sein Sach und seinen Namen verschimpfieren, und niemand fragt danach. Aber solang der Vater am Leben ist, wird er doch auch noch dreinreden dürfen, wenn ihm der Sohn Schimpf und Schand ins Haus bringen will.«

»Herr Sonnenwirt!« sagte der hartnäckige Fuhrmann, ohne die Einrede der Frau zu beachten, »Ihr müsset ja doch einmal abfahren, und dann kutschiert Euer Sohn. Wollet Ihr ihm auf dem Bock sitzen bleiben und ihn sein Leben lang spazieren führen? Das geht ja doch nicht an, drum gebet nach, so lang's noch Zeit ist und eh's zum Äußersten kommt. Denn ich kenn euch beide: 's hat jeder von euch ein Sperrholz im G'nick.«

»Recht so!« sagte die Sonnenwirtin, »also soll der Sohn dem Vater das G'nick brechen!«

Der Sonnenwirt, der eine Weile etwas unschlüssig dreingeschaut hatte, fuhr auf. Vom Sterben hörte er gar nicht gern reden, eine Rüge war auch nicht nach seinem Geschmack, und der etwas herbe Ton des alten Mannes, den er zwar seit vielen Jahren kannte, reizte ihn so, daß es nur einer kleinen Nachhilfe von seiner Frau bedurfte, um ihn in Harnisch zu jagen. »Ich brauch das Geschwätz nicht«, sagte er kurz angebunden, »brauch mir in[382] meinem Haus nichts befehlen zu lassen. Hier bin ich Herr.«

»Adje, Herr Sonnenwirt«, antwortete der Alte, indem er sich mit gemessener Eile erhob und der Türe zuging, »'s gibt noch mehr Wirtshäuser in Ebersbach.«

»Mein'twegen!« rief der Sonnenwirt.

Der Alte ging hinaus, nachdem er der Gesellschaft »Adje beisammen!« zugerufen hatte. Draußen traf er auf Friedrich, der die Treppe langsam und nachdenklich heraufkam. »Frieder«, sagte er zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, »wir kennen einander schon lang, ich hab dich oft rumtragen, wie du noch klein gewesen bist, und hab dich auf meine Gäul sitzen lassen.«

»Ha freilich, Bot!« erwiderte Friedrich aufgeheitert. »Wir sind immer gut Freund gewesen. Wißt Ihr's nimmer? Ich hab Euch ja einmal den Wagen ausplündert, dem langen Mathes, dem Knecht, zum Torten.«

»Weiß wohl, Friederle, dir ist aber auch mancher Tort gespielt worden, und mein kleiner Finger sagt mir, es stehen dir noch ärgere bevor. Komm, Frieder, komm du mit mir. Alt bin ich, kein Kind hab ich nicht, mein Handwerk kennst du – ich will dich annehmen. Ich spür's, deines Bleibens ist nicht mehr in dem Haus da, es tut nicht lang mehr gut. Komm mit mir, sag ich. Du kennst mich: ich halt dich rauh, wie ich selber bin und wie's bei meinem Wesen hergeht, aber ich halt dich wie ein Vater.«

»Botenjakob!« stammelte Friedrich betreten und[383] zögernd, »das ist ein Wort, das alles Dankes wert ist – aber Ihr werdet mir's gewiß nicht verargen, wenn ich sag: es will überlegt sein. Was sollt denn aus meiner Christine werden?«

»Mein Fuhrwesen«, sagte der Alte, »trägt dich und mich, aber ein Haus voll Kinder trägt's nicht mehr, seit die Straß durchs Remstal verbessert ist, und du kannst mir nicht zumuten, daß ich in meinem Alter noch Hunger leiden soll.«

»Wie könnt Ihr mein Fragen so auslegen?« unterbrach ihn Friedrich tief verletzt. »Haltet Ihr mich im Ernst für so undankbar und unverschämt?«

»Nein, nein!« versetzte der Alte mit sanfterer Stimme. »Mußt nicht gleich so auffahren wie dein Vater. Man red't ja nur. Deine Christine wirst freilich nicht mitnehmen können, aber wenn ich einmal sterb, so sitz'st in meinem ganzen Brot und kannst sie holen. Sag dir's selber, ob du hier auch nur so viel voraussehen kannst.«

Friedrich hielt seine Flaschen krampfhaft fest. Es arbeitete mächtig in ihm. Der Vorschlag, das erkannte er wohl, war ein rettender Ausweg, aber er wurde so plötzlich und unvorbereitet damit überrascht, daß sein sonst schneller Geist wie gelähmt war. Wohl hatte er mit leichter Zunge von Verzicht auf seines Vaters Haus und Erbe gesprochen, aber jetzt, wo die Wirklichkeit ihn auf die Probe stellte, schien ihm der Schritt doch ziemlich schwer.

Der Alte, der seinen Kampf beobachtet hatte, fuhr fort: »Wenn du nicht willst, so hilf mir wenigstens meine Gäul aus dem Stall bringen.«[384]

»Die sind aber noch lang nicht ausgeruht«, sagte Friedrich, »sie werden noch nicht einmal ganz gefressen haben.«

»Ich bleib auch noch im Ort«, murrte der Alte.

»Was?« rief Friedrich, der erst jetzt den Sinn der Rede begriff, »Ihr wollet die ›Sonne‹ aufgeben, wo Ihr mehr als zwanzig Jahr lang Gast gewesen seid? Wer vertreibt Euch denn?«

»Die ›Sonne‹ scheint mir zu heiß für meine alte Tag, ich will's im ›Stern‹ probieren. Mach nur vorwärts, ich will mir nicht zum zweitenmal ausbieten lassen in dem Haus da. Ich schwätz viel zu lang, hab in acht Tag nicht soviel Wort gemacht.«

»Nein, Jakob«, sagte Friedrich, »so gern ich Euch in allem zu Willen wär, das tu ich nicht. Hat mein Vater Euch beleidiget oder gar Euch das Haus verboten, und vielleicht um meinetwillen, denn so was schwebt mir vor, so will ich wenigstens keinen Finger dazu rühren, daß mein Haus um einen Freund ärmer wird. Wenn Ihr durchaus fort wollet oder müsset, was Ihr selber am besten verstehen werdet, so müsset Ihr den Knecht zu Hilf nehmen. Ich führ Euch keinen Gaul aus'm Stall – und Ihr werdet mir glauben, daß mir's dabei nicht um den Nutzen ist.«

Der Alte fuhr sich mit dem rauhen Rücken der Hand über die Augen. »So eine abschlägige Antwort«, sagte er, »muß ich mir gefallen lassen. Aber ich wiederhol's noch einmal: komm mit mir, und komm gleich. Nicht daß mich's nachher reuen könnt, aber ich spür, 's ist ein Unglück im Anzug. Du[385] weißt, in mir ist ein Geist, der mir schon manchmal etwas vorausgesagt hat. Es kann auch nicht anders sein: wenn's der ein hebt und der ander nicht fahren läßt, so muß es zuletzt ein Unglück geben. Schmeiß deine Butellen hin«, setzte er hastig drängend hinzu, »und geh mit, wie du gehst und stehst. Komm, nimm die Hand, die ich dir biet, so eine Gelegenheit kommt nicht zum zweitenmal.«

Friedrich lächelte ein wenig, denn er glaubte sich zu erinnern, daß nicht alle Unglücksprophezeiungen des Alten eingetroffen seien. Auch glaubte er kaum zweifeln zu können, daß zu der guten Gesinnung, die derselbe gegen ihn selbst hegte, sich einige Rachelust gegen seinen Vater gesellt habe. – »Jakob«, sagte er, »in ›Stern‹ mit Euch zu gehen, daraus würd ich mir unter anderen Umständen gar nichts machen, denn der ›Stern‹ ist mir ein ganz honett's Haus. Aber bedenket: wenn ich Euch nach dem, was zwischen Euch und meinem Vater vorgefallen sein muß, gleichsam aus der ›Sonne‹ in den ›Stern‹ ausziehen hilf und vom ›Stern‹ aus mit Euch fortzög, um meinem Vater und Vaterhaus gleichfalls Valet zu sagen – wie arg tät man mir das rumdrehen! Euer Anerbieten, ich sag's noch einmal, ist tausend Danks wert und verdient alle Überlegung, und daß ich gern bei Euch bin, das wisset Ihr ja schon lang. Aber so im Hui kann ich nicht mit. Ich kann den Wein nicht auf den Boden schütten, wie ich heut schon einmal getan hab, denn ich hätt jetzt nicht so viel Geld, um ihn zu zahlen, und möcht Euch doch auch nicht gleich zum Anfang für mich in unnötige Kosten[386] bringen. Und dann, wenn ich jetzt fortlief, während noch der Georg mit seiner Braut da ist, so täten die Leut natürlich sagen, ich hab mich dran gespiegelt und geschämt und hab's nicht ausgehalten neben so einem vernünftigen, braven, rechtschaffenen, reichen Paar, und was dergleichen Zeugs ist. Ich seh Euch ja fortfahren, denn wenn Ihr auch aus'm ›Stern‹ abfahret, so müsset Ihr doch da vorbei, und dann geb ich Euch auf alle Fäll das Geleit wie einem Vater, und wir reden weiter miteinander. Darum sag ich Euch jetzt auch nicht Adje.«

»Er tut's nicht«, brummte der alte Mann, während er die Treppe hinunterstieg. »Der Stolz läßt's ihm nicht zu. Es ist einer wie der ander.«

Es war hohe Zeit, als Friedrich mit den Flaschen in die Stube geeilt kam; denn der Vorrat von vorhin war bereits ausgetrunken. Doch fand er die Gesellschaft in munterer Unterhaltung begriffen. Sein Vater hatte den Familienpokal geholt, aus welchem der Herzog heute getrunken; derselbe ging von Hand zu Hand und mußte dann noch einmal gefüllt die Runde machen, da jedes einen gewissen Reiz dabei empfand, das Gefäß, das die landesherrlichen Lippen berührt hatten, an den Mund zu setzen. Von dem Herrn selbst sprach man in verdeckten Wendungen und halben Andeutungen, wie jung er noch sei und wie lebenslustig, und wieviel man noch von ihm hoffen könne, wenn er einmal älter sein werde; denn die Menschen bauen ja stets auf die Zukunft: bei der Jugend bauen sie auf das Alter und beim Alter auf die Jugend derer, die dem folgenden Geschlecht[387] angehören werden. Aber auch von der Gegenwart wurde gesprochen, von den Frucht- und Brotpreisen und ähnlichen Gegenständen, die keinem gering scheinen dürfen, weil bei der allgemeinen Ernährung alle beteiligt sind. Gleichwohl zeigte der Sonnenwirt, der sich um diese Dinge sonst oft mehr bekümmerte, als um manche andere noch wichtigere, heute auffallend wenig Sinn dafür. Die Brautschaft des jungen Müllers und die Vergleichung derselben mit der Liebschaft seines Sohnes war es, was ihm beständig im Kopfe herumging. Die Braut gefiel ihm über die Maßen wohl. Der herrschenden Sitte gemäß sprach sie äußerst selten, beinahe nur, wenn sie gefragt wurde; und es deuchte dem Sonnenwirt früh genug, wenn eine erst als verheiratete Frau »das Maul brauchen lerne«. Was sie sprach, das schien ihm »eine Heimat zu haben«; und es klang auch mitunter so rund wie ein harter Taler. Bei lustigen Anlässen brach sie in ein schallendes Gelächter aus, das ihm zu ihren weißen Zähnen und der roten Wangen ganz prächtig zu stehen schien. Von der Braut mußte er wieder auf den Bräutigam blicken, der in der Fülle seines Glückes neben ihr saß und das eine Mal leise Liebesworte mit ihr wechselte, das andre Mal wieder lebhaft zu der Unterhaltung der Gesellschaft beitrug, deren Bewirtung er übernommen hatte. Der Sonnenwirt erinnerte sich, daß er diesem jungen Manne einst seine Tochter vorenthalten, und konnte gar wohl ermessen, daß in der Ehre, die er ihm mit seinem Besuch antat, auch eine kleine Bosheit verborgen sein mochte, daß er[388] da, wo man ihn einst, wenn auch in noch so leiser und unbestimmter Weise, verschmäht hatte, sich jetzt als »gemachter Mann« zeigen wollte; ja, die Zärtlichkeiten, die er seiner Braut erwies, gaben manchmal dem Sonnenwirt einen Stich durchs Herz, als ob sie wie ein Spott auf ihn gemünzt wären. Er dachte aber nicht daran, um wieviel besser er seine Tochter versorgt haben würde, wenn er ihr diesen nach seinem eigenen Geständnis so wackern, fleißigen und angenehmen jungen Mann hätte zuteil werden lassen, und welch ein gutes Beispiel für seinen Sohn ein Schwager gewesen wäre, der, gleichfalls jung und der Lebensfreude nicht abhold, doch das Erfreuliche im Nützlichen zu suchen und bei seiner Wahl, wie es wenigstens schien, Liebreiz mit Verstand und Reichtum vereinigt zu finden wußte. Er dachte nur daran, daß sein Sohn in allen Stücken das Gegenteil von diesem jungen Manne, daß dessen Braut, so sehr sie ihm und eben weil sie ihm gefiel, ein wahres Spottbild auf die Wahl seines Sohnes vorstelle. Friedrich indessen dachte an gar nichts, als an seine und Christinens verzweifelte Lage, an den niederschlagenden Brief des Advokaten, von dem er kaum hoffen konnte, daß er reinen Mund halten würde, und an den liebreichen Antrag des alten Boten, der ihn so seltsam bestürmt hatte. Während ihn diese Gedanken unaufhörlich beschäftigten, mußte er dazwischen, von Georg aufgerufen, der ihn durchaus heiter sehen wollte, mit der Gesellschaft schwatzen, einmal über das andere Bescheid tun, auf das Geheiß des splendiden Bräutigams Wein[389] aus dem Keller holen, wieder schwatzen und lachen und immer wieder trinken, so daß er zuletzt kaum mehr wußte, ob er seinen Kopf oder das Mühlrad seines Freundes auf den Schultern habe.

Wie es gerade in lebhafteren Gesellschaften nicht selten vorkommt, war nach einer Reihe ernsthafter Gespräche und lustiger Späße auf einmal die Unterhaltungsspule abgelaufen, und es entstand jene Stille, während welcher jedes Mitglied sich den Kopf zu zerbrechen pflegt, um womöglich einen neuen Stoff zur Verarbeitung aufzutischen. Der Sonnenwirt, der den Wein gleichfalls spürte, hielt sich vor allen als Wirt und Hausherr verpflichtet, in die Lücke zu treten, und der Anlaß zu einer Äußerung lag ihm nur allzunahe. Hatte ihm der Bräutigam vorhin, mehr aus Höflichkeit als Überzeugung, wie ihn deuchte, seinen Sohn gelobt, so glaubte er diese schmeichelhaften Reden jetzt im entgegengesetzten Sinne erwidern zu müssen. »Das muß ich sagen«, begann er, »so ein fein's Brautpaar hab ich lang nicht an meinem Tisch gehabt; da muß einem ja das Herz im Leib drob lachen!« Dann sprach er die vorteilhafte Meinung aus, die er von den beiden jungen Leute hegte, und spendete besonders der Braut ein derbes Lob, das sie mit Erröten, jedoch keineswegs unwillig, hinnahm. Nun aber wendete er sich gegen seinen Sohn. »Da kannst jetzt sehen«, sagte er zu ihm, »wieviel Freud, anstatt soviel Verdruß, du mir hätt'st machen können, wenn du mir so ein brav's Weibsbild ins Haus bracht hätt'st, statt dem Mensch, mit dem du dich vergangen hast.«[390]

»Jetzt kommt's!« dachte Friedrich, aber er hielt an sich und sah finster schweigend vor sich hin.

»Es muß eben auch Schatten in der Welt geben«, bemerkte die Sonnenwirtin spöttisch, »sonst tät man ja« – bei diesen Worten deutete sie auf die Braut – »das Licht nicht sehen.«

»Lasset's gut sein, Herr Sonnenwirt und Frau Sonnenwirtin!« sagte der Bräutigam begütigend. »Wir sind ja so vergnügt beieinander. Komm, Frieder, stoß an mit mir: dein Wohl und unser Leben lang lauter gut Ding!«

»G'segn dir's Gott, Georg!« erwiderte Friedrich. »Obwohl du ein Kind des Lichts bist«, setzte er bitter lächelnd hinzu, »so will ich doch in meiner Finsternis auf dein und deiner Braut Wohl trinken und will dir wünschen, daß sie dir immer so lieb bleiben mög, wie meine Christine mir.«

Die Braut machte ein saures Gesicht. Die Sonnenwirtin stieß ein grelles Gelächter aus, in das der weibliche Teil der Gesellschaft halblaut einstimmte, indem sie einander unwillig ansahen.

»Ich laß meine Gäst nicht beleidigen!« fuhr der Sonnenwirt zornig auf.

»Ich hab niemand beleidiget«, erwiderte sein Sohn mit kalter Stimme, während seine blauen Augen immer wilder blitzten.

»So eine Vergleichung«, rief die Sonnenwirtin mit aufreizendem Tone, »die soll keine Beleidigung sein!« Die Weiber nickten ihr lebhaft zu. Der Bräutigam schwieg verlegen; er sah ein, daß er den Freund, mit dem er soeben noch angestoßen,[391] nur auf Kosten seiner Braut verteidigen könnte.

»Was!« schrie der Sonnenwirt, »so eine rechtschaffene Person vergleichst du in meinem Haus mit einer –«

»Vater!« unterbrach ihn Friedrich mit dem Tone der Verzweiflung und stand auf, »ich bitt Euch um Gotteswillen, seht Euch vor und hütet Eure Zung! Ich hab's einmal für allemal erklärt und geschworen, daß ich sie nicht runtersetzen und schlecht machen laß, weder von Vater noch Mutter. Sie ist mein Weib vor Gott, und was ich geschworen hab, das halt ich, müßt man auch in Ebersbach etwas erleben, dergleichen seit Menschengedenken nicht geschehen ist.«

»O du blutrünstiger Heiland, er droht seinem leiblichen Vater!« rief die Sonnenwirtin, indem sie die Hände zusammenschlug. Die Weiber stießen Laute des Grauens und Entsetzens aus.

Der Sonnenwirt, der sich gleichfalls erhoben hatte, stand in Ungewisser Haltung an die Stuhllehne angeklammert, schoß aber wütende Blicke nach seinem Sohne. Er fürchtete ihn, weil er ihn zu allem fähig glaubte, und eben diese Furcht erhöhte seine Wut.

»Vater«, begann Friedrich wieder, nach der Wand deutend, wo neben dem Bilde des Herzogs das Bild des Gekreuzigten hing, und seine Stimme, die er zu mildern suchte, zitterte: »Vater, sehet Ihr Ihn, der nicht schalt, da er geschlagen ward, und nicht dräuete, da er litt? Ich will ihm ja gern nachfolgen,[392] so gut ich's kann. Wälzet Berg auf mich von Schimpf und Schmach, ich will nicht widerbellen, will's tragen als Euer Sohn. Aber auf mein Weib laß ich nichts kommen, eh mag das größt Unglück draus entstehen. Und leset im Testament, Vater: hat Er nicht seine eigene Verwandtschaft verleugnet und gesagt, die seien seine Eltern, Brüder und Schwestern, die sein Wort hören und den Willen Gottes tun? Ist aber das Gottes Will, die Armut verachten und unterdrücken? Und ist er nicht auch scharf gewesen? Hat er nicht mit der Geißel ausgefegt? Hat er nicht die ewig höllisch Verdammnis ausgegossen über die, so sein Volk betrübt und den Armen und Witwen ihre Häuser gefressen und langes Gebet vorgewendet haben? Und was hat er gesagt, wie sie die Ehbrecherin vor ihn bracht haben, die doch gewiß eine größere Sünderin gewesen ist als mein Weib? ›Wer unter euch ohne Sünde ist‹, hat er gesagt, ›der werfe den ersten Stein auf sie.‹«

»Der kann predigen!« zischelte die Braut mit unterdrücktem Kichern gegen ihren Bräutigam hin. Friedrich, der es gehört hatte, warf ihr einen Blick der Verachtung zu.

»Man sollt schier gar glauben«, sagte die Sonnenwirtin mit ätzendem Spott, »wir haben da den lieben unschuldigen Heiland in unserer Mitte – verzeih mir Gott die Sünd. Ich hab aber nirgend in der Bibel gelesen, daß er so zu seinem Vater geredt hat.«

Der Sonnenwirt war eine Zeitlang sprachlos und außer sich. Die Anrufung der Religion, als Anklägerin[393] wider ihn, machte ihn rasend; gleichviel ob sein Sohn mit Recht oder Unrecht zu diesem Mittel gegriffen – es erschien ihm als Bruch der letzten Schranke kindlicher Scheu. »Ich brauch weder 'n Hauspfaffen, noch 'n Hausdieb!« schrie er, »wenn ich eine Predigt brauch, so will ich sie in der Kirch vom Pfarrer hören und nicht von so – so –.« Die Stimme versagte ihm. Der Bräutigam und die anderen Männer, die an der Haltung von Vater und Sohn ersahen, daß es Ernst wurde, sprangen dazwischen und suchten zu vermitteln, indem alles zu gleicher Zeit zusammenschrie. Aber bei dem Vater hatte Wein und Wut über die Furcht gesiegt, und vielleicht gab ihm auch das Dazwischenspringen der Männer, das ihn von seinem Sohne trennte, ein Gefühl der Sicherheit. Er fuhr in den höchsten Kehltönen, blaurot im Gesicht, zu toben und zu schimpfen fort, und durch den ohrzerreißenden Lärm der anderen drang von Zeit zu Zeit seine Stimme vernehmlich durch. »Ich laß mir in meinem eigenen Haus von niemand befehlen – – ich sag, was ich mag – und was ich sag, ist wahr – – – sie ist ein schlecht's Mensch« – er hatte sich Bahn zum Tische gebrochen und schlug mit der Faust darauf, daß Flaschen und Gläser tanzten und umfielen – »ein schlecht's Mensch, sag ich – ein ganz schlecht's, schlecht's, schlecht's –«

Seine Stimme überschnappte, und zugleich erstarb ihm noch aus einer anderen Ursache das Wort im Munde, denn mit weitgeöffneten Augen zurückbebend, sah er, daß sein Sohn das Messer gezogen[394] hatte und ihm mit der funkelnden Klinge gegenüberstand. Die Weiber kreischten fürchterlich, die Männer wogten hin und her und wichen teils zurück. Mit wildrollenden Augen war der Unglückliche vorgetreten, die Spitze des Messers nach seinem Vater gekehrt: – wenn man der Leidenschaft in ihrem vollen Ausbruche zutrauen darf, daß sie noch einen Rest von Besinnung in sich birgt, so kann man wohl nicht zweifeln, daß er froh gewesen wäre, sich durch ein dazwischenplatzendes Hindernis die Haltung seines blinden Eides unmöglich gemacht zu sehen. Auch wurde ihm dieser Wunsch, wenn er vorhanden war, erfüllt. Der Müllerknecht, hinter welchem die anderen allmählich zurückgewichen waren, sprang ohne weiteres auf ihn zu und packte ihn kräftig am Arme, um ihn zurückzuhalten. »Messer weg!« schrie er, gleichfalls entbrannt, mit zornig gebietender Stimme und wildem Blick – aber ehe er vollenden konnte, hörte man aus dem Munde des Wütenden einen tollen Schrei, sah seinen Arm mit dem Messer zucken, und das Blut schoß dem zurücktaumelnden Knechte am Arme herab. Die Sonnenwirtin stürzte aus der Stube: »Feurio! Mordio! Feurio! Ein Dieb! Ein Mörder!« hörte man sie nach einem Augenblick auf der Straße schreien, daß es durch die ganze Nachbarschaft gellte. Unten und oben erschallte verworrenes Geschrei. Die Gäste, den Sonnenwirt in der Mitte, stürzten der Frau vom Hause nach. Die Braut ließ sich, an ihrem Bräutigam hängend, von diesem mit fortschleppen und weinte überlaut über[395] die böse Vorbedeutung dieses Unglückstages. Der Bräutigam wollte den Getroffenen mit sich ziehen, aber dieser riß sich los und blieb steif und starr vor seinem Angreifer stehen, während ihm das Blut fortwährend vom Arme niedertroff.

Friedrich kam wie aus einer langen Betäubung zu sich und gewahrte, daß er mit dem Knecht allein in der Stube war. Er hatte das Messer noch immer in der Hand. »Da nimm's«, sagte er zu dem Opfer seines Jähzorns, »und stich mich über den Haufen, du tust ein gut's Werk.«

Der Knecht wies das dargebotene Messer zurück. »Ich bin kein Mörder wie du«, sagte er, während seine gläsern gewordenen Augen sich nach und nach wieder belebten.

»Peter! Um Gottes willen! Hat's dir was getan?« rief Friedrich, dem seine Tat erst jetzt zum klaren Bewußtsein kam. »Laß mich sehen, komm, ich will dich verbinden, du verblut'st dich ja.«

Der Knecht stieß ihn zurück. »Ist schon recht«, murmelte er, »'s ist recht, ja, ja – sein' Wohltäter stechen – ist eine neue Art, seine Schulden zu zahlen – 's ist aber schon recht – ich will dich finden – ja, ja! 's ist recht, ist ganz recht.« – Er wiederholte diese Worte wohl ein dutzendmal, während er langsam aus der Stube ging und erst jetzt daran dachte, seinen verwundeten Arm mit der anderen Hand zusammenzuhalten.

Friedrich blieb allein und wie verhext in der Stube zurück. Er blickte auf den Tisch, der soeben noch voll Menschen gewesen war, dann auf das Messer in[396] seiner Hand, dann auf das Bild des Gekreuzigten, zu dem er vorhin emporgedeutet und dem er nachzufolgen gelobt hatte. »War das eine Nachfolge?« sagte eine Stimme in ihm. Er hatte gelobt, jede Schmähung zu dulden, die nur über ihn selbst ausgeschüttet würde, und dieser Arme hatte nicht einmal ihn, geschweige Christinen geschmäht. Wenn auch seine Zunge vielleicht Schmähworte beherbergt hatte, die nur durch den Stoß des Messers abgeschnitten worden waren, wenn auch der herausfordernde überlegene Ton, womit er ihm Entwaffnung geboten, sich, wie seine nachherigen Worte zu zeigen schienen, auf eine Gefälligkeit berufen wollte, die zwar eine Verpflichtung, aber keine Abhängigkeit begründet, wenn auch ein christliches Verzeihen ihm fremd und fern zu sein schien – was war das alles gegen einen Mörderstreich? Stolz und Zorn – dies sagte ihm die innere Stimme mehr oder minder klar – hatten ihn in einem Augenblicke zu dem Gegenteil von dem gemacht, was er den Augenblick vorher zu sein sich vermessen hatte.

Indessen blieb ihm wenig Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Der Lärm vor dem Hause wurde stärker, und die Anzahl der Stimmen mehrte sich. Er hörte den Knecht, dessen Betäubung allmählich in Wut überzugehen schien, aus den anderen Stimmen herausbrüllen: »Er ist nicht bloß ein Mörder, er ist auch ein Dieb! Sein eigener Vater hat ihn 'n Dieb geheißen!« – »Ja«, schrie die gellende Stimme der Sonnenwirtin, »er hat seinem Vater Frucht gestohlen und an sein Mensch gehängt.« – »Man muß[397] seiner habhaft werden!« rief eine neue Stimme, an welcher er den Amtmann erkannte. – »Ja!« gellte die Summe der Sonnenwirtin, »kriegen muß man ihn und wenn man das Haus anzünden müßt!« – Bald konnte er auch durch die offen gebliebene Türe Tritte im Hausgang und auf dem unteren Treppenabsatz vernehmen. Die Verfolger kamen. Das Bewußtsein, daß er es mit aufgebrachten, wütenden Menschen zu tun habe, entflammte auch in ihm, der kaum zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demut Raum gegeben hatte, von neuem die mörderische Wut, zu welcher sich nun ein unbestimmter Trieb, bevorstehenden Übeln zu entgehen, gesellte. Er flog die obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er sich rücklings auf einen Kasten legte, sein Messer in eine danebenstehende Bettlade steckte und in dieser Verfassung die Verfolger erwartete. »Er muß auf der Bühne sein!« rief's unten, und die Schar drang herauf. Die vordersten waren der Amtsknecht, der Fleckenschütz und der Fischer; hinter ihnen drängte es sich auf der Treppe Kopf an Kopf. »Komm mir keiner zu nah!« rief der tolle Bursche und griff nach dem Messer. Sie stutzten und wichen zurück. »Holet ein Gewehr!« rief einer. »Da ist schon eins!« antwortete es vom Fuß der Treppe. »Her da!« rief's oben, »man muß nach ihm schießen, bis ihm der Krattel vergeht!« Er fuhr von seinem Lager auf, ließ das Messer stecken und stürzte nach einem Dachladen, durch den er alsbald verschwand. Ein Geschrei von unten erscholl. »Er hat sich hinuntergestürzt!« schrie der Amtsknecht. Die einen warfen[398] sich auf das Messer, um sich desselben zu bemächtigen, die anderen rannten nach dem Dachladen. Der Fischer war der erste, der daselbst ankam und den Kopf hinausstreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück und rief: »Nein, er schiebt sich das Dach hinauf und hat mich mit einem Ziegel auf den Kopf schlagen wollen.« »Das Dach aufgehoben!« schrien einige und machten Anstalt, am Sparrenwerk hinaufzuklettern; da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar keinen traf, aber alle von dem vorgeschlagenem Unternehmen abschreckte. Fluchend und schreiend verließen sie den oberen Boden und gingen auf die Straße hinunter, von wo sie nun sehen konnten, wie des Sonnenwirts Frieder, dem ganzen Flecken zum Schauspiel, auf dem Dachfirst seines väterlichen Hauses ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuschauen, obgleich er sich fest wie im Sattel eines Pferdes hielt, seine Verfolger höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus war voll Menschen, und aus den anstoßenden Gassen drängten sich immer neue Zuschauer herbei. »Was gibt's? Was gibt's?« riefen die einen; – »'s ist e' Kuh fliegig worden!« – »Nein, e' Stier!« schrien andere. – »Dem Sonnenwirt sitzt ein fremder Vogel aufm Haus!« – »Schießet ihn vom Dache abe!« – »Holet ihn mit der Feuerspritz runter!« – So ging das Geschrei und Gelächter durcheinander. Ein Wagen, der auf; der Straße herausfuhr, mußte haltmachen, weil ihn das Gedränge nicht durchließ. Bei den Pferden stand der alte Fuhrmann und blickte, traurig den[399] Kopf schüttelnd, nach dem verwahrlosten Jüngling hinauf, den er hatte retten wollen. In seinen gefurchten Zügen malte sich eine trübselige Befriedigung; er nickte ein paarmal und sagte vor sich hin: »Hab auch wieder einmal eine richtige Vorahnung gehabt.«

Der Sonnenwirt, der sich halbtot schämte, hatte sich mit dem verwundeten Knechte zu seinem Schwiegersohne, dem Chirurgen, zurückgezogen und schickte diesen, ob er dem schmählichen Auftritte nicht auf irgendeine Weise ein Ende machen könne. Der Chirurg, nachdem er die Wunde des Knechts untersucht und verbunden, drängte sich durch die Menge, wurde von dem Amtmann, der ratlos, was er befehlen sollte, in der Haustür der Sonne stand, herbeigewinkt und mit einem heimlichen Auftrage versehen, drängte sich wieder in die Straße durch und gab Zeichen nach dem Dache, um die Aufmerksamkeit seines jungen Schwagers auf sich zu ziehen. Friedrich, der ihn mit seinen Falkenaugen schon längst bemerkt und angerufen hatte, ohne in dem Tumult vernommen zu werden, schrie mit einer Stimme, die alle übertönte: »Still da drunten!« Ein zorniges Gelächter der Menge antwortete ihm. Der Chirurg aber bat und beschwor die Umstehenden so lange, bis wenigstens in der Nähe der Lärm sich etwas legte und eine notdürftige Stille entstand. »Herr Schwager!« rief jetzt Friedrich herab, »was macht der Peter?«

»Er ist den Umständen nach ganz wohl!« antwortete der Chirurg durch die vorgehaltenen Hände, mit[400] welchen er das etwas schwache Erzeugnis seiner Lunge zu verstärken suchte. »Die Wunde ist gar nicht gefährlich!«

»Gott sei Lob und Dank!« rief Friedrich und schlug die Hände erfreut zusammen.

»Gib doch acht! Sei nicht so frech!« schrien einige von denen, die ihm wohl wollten.

»Das hat kein Not!« antwortete er und drehte sich wie der Blitz herum, so daß er, die Knie schnell wieder an das Dach anstemmend, nach der entgegengesetzten Seite gerichtet saß. Das tolldreiste Kunststück, das er in der Freude seines Herzens machte, rief bei der Menge einen Schrei des Entsetzens hervor, welchem ein schallendes Gelächter folgte. »Grad wie ein Aff auf einem Kamel!« schrien sie.

»Schwager, geh Er herunter!« rief der Chirurg.

»Wenn mir der Herr Schwager sicheres Geleit verspricht!« antwortete Friedrich, »sonst tut sich's ganz wohl da oben!«

»Ich gebe Ihm mein Ehrenwort, daß Ihm nichts zuleid geschieht!« rief der Chirurg hinauf.

»Sein Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort!«

Er verließ seinen luftigen Sitz mit einem leichten Ruck, der unten von einem Schrei des Schreckens und zugleich der Bewunderung begleitet wurde. »Der sitzt vom Dachgrat ab wie ein Reiter von seinem Gaul!« schrie die Menge. Im nächsten Augenblick hatten sie Ursache, ihn mit einer Katze zu vergleichen, so leicht sah man den behenden Burschen auf Händen und Füßen am Dach herabrutschen,[401] bis er den Laden wieder erreicht hatte, durch welchen er im Nu verschwand, noch einmal mit einem Fuße hinauszappelnd, gleichsam zu Ehren des versammelten Publikums, das hierüber in ein wieherndes Gelächter ausbrach.

Nach wenigen Sekunden verriet eine Bewegung der in und vor der Haustüre stehenden Leute, daß in dem verlassenen Hause sich etwas Lebendiges regte und die Treppe herunterkam. Der Amtmann flüchtete sich in den dichtesten Schwärm heraus. »Der Bursche hat heut vormittag schon gezeigt, was er für ein gefährlicher Kerl sein kann!« sagte er und versammelte alsbald eine Schar handfester Männer um sich, worunter der obere Müller nicht fehlte, der durch das Geschrei, daß des Sonnenwirts Frieder seinen Knecht gestochen habe, herbeigezogen worden war. Jetzt erschien der Held des Tages, von niemand um seinen Lorbeer beneidet, in der Haustüre. Ruhig, als ob er nicht begreifen könne, warum die Leute so zusammengelaufen, kam er heraus und suchte mit den Augen seinen Schwager, auf den er sodann zuging. Man ließ ihn vorbei. »Da bin ich«, sagte er zu dem Chirurgen, »ein Mann, ein Wort.« – »Ich halte, was ich versprochen habe«, entgegnete der Chirurg mit schlauem Lächeln. – »Du bist kein Mann, du bist ein Bub!« schrie ihn der dabeistehende Richter an, »dir braucht man nicht Wort zu halten!« – »Greift ihn!« befahl der Amtmann, und ehe der zuversichtliche Bursche sich's versah, befand er sich unter der Gewalt von mehr als zehn Fäusten. Er wehrte sich wie ein Eber, schimpfte,[402] tobte, schlug um sich, aber zuletzt erlag er der Übermacht und wurde zu Boden geschlagen. In diesem Kampfe, der lange dauerte und an welchem seine Widersacher sich wetteifernd beteiligten, erhielt er jeden bösen Gruß, den er in Worten oder Werken unter seinen Mitbürgern ausgeteilt hatte, mit Wucherzinsen heimbezahlt. Zuletzt banden sie ihn mit Stricken, so daß er ganz zusammengerollt am Boden lag und ihnen zu den vielen Tierbildern, die sie heute schon an ihm erschöpft hatten, auch noch die Vergleichung mit dem verachteten Igel auf die Zunge legte. – »Etwas hat ihm gehört«, sagte der gleichfalls anwesende Heiligenpfleger, der sich als Zahlmeister auf volle Summen verstand, »jetzt wär's aber genug.« – »Kuh! Narr! Jetzt geht's erst recht an«, erwiderte der Richter lachend seinem Kollegen, den er, im Range etwas höher stehend, dieser vertraulichen Anrede würdigte. – »Fort mit ihm aufs Rathaus!« rief der Amtmann. – Der Gebundene wurde aufgehoben und fortgetragen. Ein Teil der Menge folgte. Andere blieben zurück und redeten noch lange miteinander über die Begebenheit, welche die alltägliche Ruhe des Fleckens völlig unterbrochen hatte.

»Das ist aber ein Mensch, Kreuzwirt!« sagte eine der auswärtigen Frauen von der Brautgesellschaft, die sich jetzt dem Schauplatze näher wagte, zu einem dort stehenden leibarmen Manne mit kleiner spitzer Nase, den wir aus der Unterredung der beiden Müller bei ihrem Friedenstrunke als den geschlagenen Ursächer von Friedrichs zweiter Zuchthausstrafe[403] kennen. »Das ist ein Mensch, sag ich! Hat der seinem Vater eine Predigt gehalten und hat ihm die Bibel ausgelegt, wie wenn er der Pfarrer wär! Es ist mir ganz kalt aufgangen, und ich hab mich ganz drüber vernommen. Und kaum ist die Predigt ausgewesen, so hat man gesehen, wer ihn regiert: der Teufel, der Mörder von Anbeginn!«

»Ja, ja, Adlerwirtin«, antwortete der Angeredete mit näselnder Stimme, »das hat man damals auch gesehen, wie er mich auf seines Vaters Anstiften, recht wie ein Erzspitzbub und Mörder, auf dem freien Feld ohne eine einzige Ursach angefallen hat und so behandelt, daß ich außerstand bin, lebenslang einen Batzen zu verdienen, ohne meine tägliche viele Schmerzen, wodurch ich und mein Weib und Kind in die äußerste Armut versetzt und samtlich verderbt worden sind.«

»Nu, nu, Kreuzwirt«, sagte die Adlerwirtin aus der Nachbarschaft, »so gar arg ist's doch grad nicht, wenn man die Leut hört. Weiß wohl, die Zeiten sind hart; man kann sich auch ein bißle verspekulieren, wenn man den Nagel gar zu b'häb auf den Kopf treffen will. Und mit der Bresthaftigkeit ist's auch nicht so schlimm: Ihr seid von jeher ein dünns Pappelbäumle gewesen, und 's kann ja auch nicht jeder ein Eichenbaum sein.«

»Ja, aber mein Arm!« klagte der Kreuzwirt. »Der Mordbub hat mir ihn halb auseinandergeschlagen. Da sehet selber, Adlerwirtin, wie er mir geschweint (geschwunden) ist.«

Die Frau streifte ihm ohne Umstände den schlotternden[404] Rockärmel auf und besah sich den Arm mit prüfendem Blicke. »Das ist nicht die Schweine«, sagte sie, »seid nur ganz ruhig, das hat nicht viel zu bedeuten. Der Arm ist eben ein wenig dürrer als der ander. Das kommt oft vor, auch ohne Schlag. Waschet ihn fleißig mit ein wenig Wein oder auch mit Kirschengeist, daß er wieder zu Kräften kommt. Hundsschmalz drauf gebunden soll auch gut sein; ich hab's aber nie probiert.«

»Ihr seid ja ein ganzer Doktor«, sagte der Kreuzwirt. »Ja, ja«, lenkte er wieder in das vorige Gespräch ein, »der Sonnenwirt hat heut ein' sauren Tag erlebt. Dem sitzt gewiß kein Storch mehr aufs Dach. Aber die Zuchtrut ist ihm gesund, er soll nur fein demütiger werden, er hat's nötig. Das ist mir ein Christentum, wenn man durch eigennützige Konzession im Metzgerhandwerk seinen Mitmenschen das Brot vom Maul wegnimmt, durch Geld und Arglist mehr Freiheit im Handwerk an sich reißt als ein anderer ehrlicher Meister. Nun zeigt sich's, was das fruchtet. Der Gewinner, sagt das Sprichwort, muß einen Vertuner haben. Das Auge Gottes siehet alles, höret alles, straft alles zu seiner Zeit. Das Wort des großen Gottes geschähe zu dem Propheten Eli: ›Darum, daß du nicht sauer gesehen hast zu dieser deiner Kinder Bosheit, so soll die Missetat an dem Hause Eli nicht versöhnet werden, weder mit Speisopfer noch Rauchopfer ewiglich, im ersten Buch Samuelis, im dritten.‹ An den Früchten erkennet man den Baum. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln?[405] Jetzt hat er's und muß zusehen, wie der Sohn seines Vaters ruhmwürdiges Wirtshaus blamiert. Ist's nicht so, Adlerwirtin?«

»'s ist eben e' Welt«, antwortete diese, welche sich nicht näher in kitzliche Erörterungen einlassen wollte. »Jetzt kann ich mich aber nicht länger aufhalten, denn es will Abend werden, heißt's im Evangelium, und der Tag hat sich geneigt. Meine Leut werden ungeduldig, sie wollen fort. Ja, ja, ich komm ja!« winkte sie gegen ein Häuflein der Umstehenden hin, worunter sich die Ihrigen befanden. »B'hüt Gott, Kreuzwirt, Ihr wisset ja, der Mensch will eben heim.«

Unterdessen hatte man den gefangenen Wildling in das Rathaus geschleppt, wo man ihn gebunden, wie er war, in ein Gelaß warf und liegen ließ. »Der Bursche scheint mir ziemlich betrunken zu sein«, sagte der Amtmann, »er mag seinen Rausch ausschlafen, dann will ich ihn morgen vormittag verhören. Der Herr Pfarrer wird nichts dagegen haben, wenn man einmal am Sonntag Justiz ausübt und ein nötiges Exempel statuiert. Nun wollen wir aber gleich heute noch mit dem Allernötigsten beginnen.« – Er ließ zwei Urkundspersonen rufen und begann sofort eifrig zu amten; denn wie der Staat im Fürsten, so war in ihm die Gemeinde aufgegangen, ja noch weit mehr. Gleichwie ein absterbender alter Baum, dessen Stamm nach unten schon mürbe und hohl geworden ist, doch in manchem Frühling durch seinen grünen Wipfel zeigt, daß die Wurzel noch frischen Saft nach der Krone zu treiben[406] vermag, so war von der alten württembergischen, aus schwäbisch-deutschem Recht erwachsenen Verfassung an der Spitze des Staatslebens ein Rest zurückgeblieben, der, neben argem Scheinholz zwar, noch lebendige Bestandteile enthielt und dem giftigen Pfropfreise der fürstlichen Alleinherrschaft empfindliche Hindernisse zu bereiten wußte, während das Gemeindeleben beinahe völlig vom Wurm zerfressen und ertötet war. Die Gemeindebehörde, bestehend in Gericht und Rat, den morschen Überresten des altdeutschen Gleichgewichts von Gewalt und Beschränkung, war, in den größeren Ortschaften wenigstens, unter das Regiment eines fürstlichen Beamten gestellt; sie hatte zwar nicht ganz nichts, aber doch herzlich wenig zu sagen und war von der Wurzel des Gemeindelebens losgerissen, denn sie pflanzte sich, wie der dem Fürsten zur Aufsicht beigegebene ständische Ausschuß – aber nicht so wie dieser von dem noch nicht ganz zugefallenen öffentlichen Auge überwacht – auf dem verrotteten Wege der Selbstergänzung fort, welche noch obendrein in den meisten Fällen ungescheut von dem Beamten selbst in die Hand genommen wurde. Von diesem also, der die fürstliche Herrschaft bei der Gemeinde und die Gemeinde bei der Herrschaft zu vertreten hatte, hing es beinahe ausschließlich ab, welche der beiden Vertretungen, die nur eine gesunde Zeit im Gleichgewichte halten konnte, er bei sich überwiegen lassen wollte. Die eine versprach ihm von einem Volke, dem sein eigenes Rechtsleben fremd geworden war, beinahe mehr Verwirrung als Dank: die[407] andere trug ihm von einem Hofe, der seinen Dienern unbedingt befahl und bald so weit kommen sollte, daß er sich ihre Stellen abkaufen ließ, ja sogar Gemeindedienste, über die er gar nicht verfügen durfte, bis auf den niedrigsten herunter um Geld vergab – lockenden Lohn oder wenigstens Ruhe vor Verfolgung ein. Wenn es in solcher Zeit doch immer noch einzelne Beamte gab, die ihre schwere Doppelstellung gegen oben zu kehren und dem ständischen Widerstände wider die fürstliche Willkür Nachdruck zu geben vermochten, so mußte dies dem Lande, dessen Geschichte ihre Namen zum Teil aufgezeichnet hat, ein tröstliches Zeichen sein, daß die alte gute Wurzel noch nicht völlig erstorben sei und in besseren Tagen den kranken Baum vielleicht wieder zu erneuern vermögen werde. Für einen wilden Schößling aber findet sich in einem selbst faulen Gemeindeleben nicht immer so leicht ein Gärtner, der ihn durch Strenge und Milde zugleich in ein gesundes Reis zu verwandeln versteht. Statt die wilden Triebe, die sie mit schlimmen Tiernamen brandmarken, einzudämmen und die Kraft, die sie mit dem Bilde des Löwen bezeichnen, für das kleinere oder größere Gemeinwesen brauchbar zu machen, eilen sie, weil jeder mit sich selbst genug zu tun hat, ihn als einen schädlichen Knorren auszureißen und ins Feuer zu werfen. So war es, und so oder ähnlich wird es immer sein, wo – nicht ohne Schuld der Glieder, doch mehr noch durch die zum Tode oder zu einer reicheren Zukunft führende Entwickelungskrankheit – in dem Baume selbst die[408] schaffende und heilende Lebenskraft für eine Zeit verkümmert ist.

Die nämlichen, die in ihrem Feuereifer für das Gesetz ihren verhaßten Gegner geschlagen, niedergeworfen und gebunden hatten, drängten sich jetzt bereitwillig in das Verhör, um anzugeben, was sie Böses von ihm zu sagen wußten oder was ihnen an ihm zuwider war. Jedes ungeschickte Wort, das er im Zorne ausgestoßen, wurde zum Ankläger gegen ihn, und die gefährliche Gesinnung, die in diesen unbedachten Worten zu liegen schien, erhielt ihre ergänzende Bestätigung durch die Gewalttat, welcher er sich heute schuldig gemacht hatte. Der gestochene Knecht, obgleich seine Wunde sich als unbedeutend erwies, schnaubte unversöhnliche Rache und war über die Absicht, die er der Tat unterlegte, noch weit mehr aufgebracht als über diese selbst. Schon auf der Straße hatte sein Geschrei zu vernehmen gegeben, daß gegen den Gefangenen noch eine weitere Untat vorliege, und auf Befragen des Amtmanns erzählte er nun, die eigenen Eltern desselben haben ihn mehr oder weniger unverblümt eines Diebstahls bezichtigt. Hierauf verhörte der Amtmann den Sonnenwirt. Dieser entschuldigte sich, daß er die Tatsache teils um der Schande seines Hauses willen, teils wegen der Geringfügigkeit des Betrages habe vertuschen wollen, gab aber, durch das heutige Betragen seines Sohnes und durch das Zureden seiner Frau vollends aufgestachelt, zu verstehen, daß nach den neueren Aussagen des Knechtes der Diebstahl wohl beträchtlicher gewesen sein möge. Der Amtmann[409] ließ sogleich den Knecht aus der ›Sonne‹ rufen, welcher, dem Strome des allgemeinen Unwillens folgend, angab, der Besuch auf dem Kornspeicher sei in jener Nacht mehrmals wiederholt worden und ein größerer Abmangel zu verspüren, sodann auch noch, nach der Aufführung des Angeklagten überhaupt gefragt, zur Vermehrung seiner Schuldhaftigkeit erzählte, er sei einmal in die Worte ausgebrochen, wenn man ihm kein Geld gebe, so wolle er solches nehmen und seine Stiefmutter während der Kirche an das Ofengeräms hinhenken. Auf diese Anzeige schickte der Amtmann Gerichtsmitglieder ab, um in der Sonne und zugleich bei dem Hirschbauer Haussuchung zu halten. Friedrichs Vormund, der die erstere vorzunehmen hatte, kam bald wieder; er brachte ein Brieflein und ein bemaltes Blatt, von der Art der Heiligenbilder, ein mit einem Schwert durchstochenes Herz darstellend. »Außer dem Helgle«, sagte er, »ist nichts aufzutreiben gewesen, was eine Auskunft gab, als vielleicht der Brief da. Dem Inhalt nach ist er von einem Weibsbild, schätz wohl, von der Jungfer Ohnekranz. Ist mir eine neue Mode, daß ein Mädle einem Mannskerl etwas Schriftlich's schreibt; das tut auch kein recht's Mensch; aber die Welt wird alle Tag ärger und die Jugend immer verdorbener.« – Nun kam auch der »Augenschein« vom Hirschbauer zurück, in dessen Hause man jedoch gar nichts gefunden hatte als Not und Jammer ohne Ende. Der Lärm des öffentlichen Schauspiels mochte den flinken Jerg beizeiten auf etwaige Gefahren aufmerksam gemacht haben. »Das ist ein[410] Heulen und Schreien, daß einem Hören und Sehen vergeht!« sagte der Heiligenpfleger, der zu dieser Verrichtung beordert worden war, »wenn so ein leichtfertiger Bub nur auch bedenken tät, was er für Unglück stiften kann, so ging er vielleicht vorher in sich und auf bessere Weg. Da ist ein Büschel Brief von ihm, die Alt hat's gleich rausgeben; die Jung liegt aufm Bett und ist ganz weg; und der Vater wird's auch nimmer lang treiben.«

Der Amtmann nahm die Briefe und legte sie zu den Akten, um hiermit sein heutiges Tagwerk zu beendigen, welches mit einem Verhör der Sonnenwirtin schloß oder vielmehr zu einer vertraulichen Unterredung mit derselben in Gegenwart der Amtmännin überging. Die Sonnenwirtin hatte es jetzt ganz in der Hand, die Wetterwolke, die ihr Stiefsohn über sein Haupt heraufbeschworen, in der gewünschten Richtung zu entladen, und sie benutzte die Gelegenheit so eifrig, daß sie darauf bestehen wollte, auch gewisse verfängliche Reden, die ihr Sohn gegen den jungen Herzog geführt haben sollte, ins Protokoll zu bringen.

Hier machte jedoch der Amtmann ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Na, na, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »man muß doch nicht ganz alle Bonhommie hinter sich werfen. Zum cumulus brauchen wir das nicht, es ist cumulus genug da, ein Berg, an dem er mindestens ein paar Jahre abzutragen haben wird. Die Sache hat aber noch eine andere Seite. Wenn ich in meinem Bericht an die Herrschaft, denn vom Oberamt geht er nach Stuttgart ab, dieses delikate[411] Sujet berühre und wenn der Herr selbst etwas davon erfährt, so macht er sich Gedanken. Bei einem jungen Menschen gilt der Grundsatz: leben und leben lassen! Wenn daher ein junger Mensch auf anzügliche Weise moralisiert, so sagt man sich gleich: das hat er nicht aus sich, das hat er von andern aufgegabelt. Da entsteht nun die Frage: woher hat er's? von Vater oder Mutter? oder sollte gar der Amtmann oder der Pfarrer, ich will nicht sagen in eigener Person, unvorsichtige oder mißverständliche Ausdrücke gebraucht, aber vielleicht bei den Untergebenen gewissem, einfältigem Geschwätz nachgesehen haben? Wenn man sich aber einmal Gedanken macht, so kommt man an allem Möglichen und Unmöglichen herum, und da kann niemand wissen, was zuletzt noch für Kalamitäten daraus entstehen mögen. Wollen's steckenlassen, Frau Sonnenwirtin, wollen's steckenlassen. Beruht!«

»Und da wir just unter uns Pfarrerstöchtern sind, wie man zu sagen pflegt«, setzte die Amtmännin hinzu, »so will ich erst noch den Herzog in Schutz nehmen. Wenn eine Frau meint, sie habe sich über ihren Mann zu beklagen, so fragt sich's oft, ob nicht sie den ersten Anlaß gegeben hat. Die Hoffart, sagt das Sprichwort, muß etwas leiden. Man mag von ihm sagen, was man will, er hat etwas, das ihn von vielen anderen großen Herren unterscheidet: er neigt sich zur Landesart, hat etwas Populäres in seinen Manieren und schämt sich nicht, mit dem Untertan auf einer espèce von gleichem Fuß zu stehen. Gerade das geht aber ihr völlig ab, sie hält[412] es für gemein und wird sich nie dareinfinden. Da ist's nun kein Wunder: wenn sich die Köpfe nicht ineinander fügen, so bleibt auch zwischen den Herzen eine Kluft. Dann hat sie an ihrem Bayreuther Hof sich an den hohen Ton, den feinen Gout, an Oper und Ballett gewöhnt, und er hat, ihrem Geschmack zulieb, Hofdamen, Sänger und Sängerinnen aus Italien, Tänzer und Tänzerinnen aus Paris, alles hat er ihr angeschafft. Nun haben wir die Bescherung. Die Damen und Demoisellen sind hübsch, sie ist vornehm, er leutselig und nicht von Stein – da hat man leicht prophezeien können, wie es kommen wird.«

»Jetzt seh ich erst«, sagte die Sonnenwirtin listig lächelnd, »welch ein groß Zutrauen die Frau Amtmännin zu ihrem Herrn haben muß, denn die Kathrine wär doch kein ganz übler Bissen.«

Die Amtmännin lachte aus vollem Halse. »Ich bin nicht eifersüchtig«, rief sie. »Mein Mann ist ein großer Jäger vor dem Herrn, ein Nimrod, der hat ein Herz von Marmor und geht lieber auf was Wildes als auf was Zahmes aus.«

Dem Amtmann kam die Wendung des Gespräches gleichfalls höchst spaßhaft vor, und unter lautem Gelächter wurde die Sonnenwirtin entlassen.

Am Sonntagmorgen berief der Amtmann, innerlich vergnügt über diese gute Gelegenheit, die Predigt seines geistlichen Mitbeamten zu schwänzen, seine beiden Skabinen oder Gerichtsbeisitzer, welche als amtliche Zeugen bei dem Untersuchungsverfahren, das sie bewachen sollten, aber häufiger beschliefen, den faulsten Überrest der alten Volksgerichtsbarkeit[413] bildeten. Er befahl dem Schützen, den er als Diener der Gemeindebehörde benutzte, den Gefangenen vorzuführen. Der Schütz fand denselben auf einer Bank ruhig schlafend und mußte ihn mit einigen Stößen wecken. – »Er hat, scheint's, alles vergessen, was gestern vorkommen ist«, brummte er ihn an. – »Nein«, sagte Friedrich, die Augen ausreibend, »es fällt mir alles wieder ein, auch daß Ihr mich losgebunden habt und ich Euch mein Wort gegeben hab, über Nacht nicht durchzugehen.« – »Sein Wort hat Er gehalten, das muß ich Ihm lassen«, versetzte der Schütz, »jetzt muß ich Ihn aber wieder handfest machen, damit's der Herr nicht merkt, daß Er über Nacht frei gewesen ist, sonst bin ich um den Dienst.« – Friedrich streckte gutwillig die Hände hin, und der Schütz legte ihm Fesseln an, worauf er ihn nach dem Amtszimmer führte.

»Er ist von dar ganzen Burgerschaft wie auch von Seiner eigenen Familie wegen gemeingefährlicher Aufführung, dann auch wegen mörderischen Attentats gegen einen Seiner Nebenmenschen und wegen Diebstahls an Seinem leiblichen Vater angeklagt und hat sich allhier zu verantworten«, begann der Amtmann, nachdem er den Eingang des Protokolls geschrieben hatte.

Friedrich blickte auf seine Ketten und schwieg.

Der Amtmann, der ihn eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, hielt ihm in Kürze die Hauptpunkte der Anklage vor und fragte: »Was hat Er hierauf zu erwidern?«[414]

Der Gefangene verharrte in seinem störrischen Schweigen.

»Muß ich Ihn durch Prügel zum Geständnis bringen?« fuhr der Amtmann auf.

Ein Zucken lief über den Körper des Gefangenen, so daß seine Kette klirrte, aber er tat den Mund nicht auf.

»Dich sollt man im Mörser zerstoßen!« rief Friedrichs unvermeidlicher Vormund, der neben einem kleinen Spezereigeschäft allerlei mehr oder minder einträgliche Ämtchen bei der Gemeinde und darunter auch das eines Gerichtsbeisitzers versah.

Friedrich blickte ihn verächtlich an.

»Laß Er mich nur machen«, sagte der Amtmann verweisend zu der eifrigen Urkundsperson. Dann hielt er eine eindringliche Rede an den Gefangenen. Er fragte ihn, wie er es vor seinem Vater, vor seiner Mutter, die sich im Grab umkehren müsse, vor seiner ehrbaren Verwandtschaft, ja vor ihm selbst, dem Nachfolger seines Paten, verantworten könne, so viel Unruhe über die Gemeinde zu bringen und noch obendrein dem Gerichte durch seine Halsstarrigkeit zu schaffen zu machen. »Und was soll ich Seiner hochfürstlichen Durchlaucht antworten«, fuhr er fort, »wenn Hochselbige sich herabläßt, sich nach dem jungen Menschen zu erkundigen, der vor den höchsten Augen eine unleugbare Bravour bewiesen hat? Wenn die Antwort lautet, er habe Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, endlich sogar seinem Richter die schuldige Ehrerbietung verweigert und durch bösartigen Trotz sich selbst noch tiefer in Schaden[415] gestürzt, muß dann nicht der Herr, der sonsten das Verdienst zu belohnen geneigt ist, sich beeilen, einen solchen Namen wieder aus dem fürstlichen Gedächtnis auszulöschen?«

»Ich hab kein' Lohn begehrt«, erwiderte der Gefangene trotzig. Es waren die ersten Worte, die er sprach.

»Nun, so vergrößere Er wenigstens Seine Strafe nicht«, sagte der Amtmann, der das Eis gebrochen sah und rasch auf der gewonnenen Bahn fortfuhr. »Er hat es in der Hand, vielleicht schwerere Bezichte von sich abzuwälzen. Mir geschieht es sauer genug, ein hiesiges Burgerskind criminaliter prozessieren zu müssen. Aber so viel wird Er selbst einsehen: wenn die ganze Burgerschaft klagt, so kann ich doch die Sache nicht vor Ohren gehen lassen.«

Friedrich lächelte bitter. »Es mögen wohl viele hier sein«, sagte er, »die mich gern am Galgen sehen möchten, aber alle nicht. Wenn's aber doch mit mir aus soll sein, und ich soll kein ehrlicher Mann werden können – vor dem Flecken draußen steht ja das Hochgericht, also machen Sie vorwärts, Herr Amtmann! Je kürzer der Prozeß, desto besser für mich.«

Der Amtmann lachte. »So kurzen Prozeß kann ich nicht machen«, sagte er. »Stock und Galgen haben wir wohl noch, aber der Stab ist etwas abgekürzt. Der Oberstab ist in Göppingen, wo Er Sein Urteil empfangen wird. Deshalb will ich Ihn in Güte darauf hingewiesen haben, daß Er sich nicht das Protokoll durch weitere Hartnäckigkeit selbst verdirbt.[416] Denn das Sprichwort sagt bekanntlich: wie man berichtet, so richtet man. Übrigens seh ich nicht ein, wie Er behaupten kann, man wolle Ihn nicht ehrlich werden lassen. Wer verwehrt Ihm denn das? Im Gegenteil, es handelt sich ja darum, Ihn auf den rechten Weg zurückzubringen.«

»Ich hab meinem Schatz versprochen, daß ich sie und ihr Kind zu Ehren bringen will«, murrte Friedrich mit einigem Unmut, daß er nicht verstanden worden war. »Solang ich mein Wort nicht halt, bin ich auch kein ehrlicher Mann, und man leid't's ja nicht, daß ich's halten soll.«

»Ja so, das ist's«, versetzte der Amtmann. »Das scheint die Ursache gewesen zu sein, nicht wahr, daß Er die verschiedenen Redensarten ausgestoßen hat, die ich Ihm jetzt vorhalten muß?«

Mit dem befriedigenden Bewußtsein, durch seine Bonhommie dem trotzigen Delinquenten das Band der Zunge gelöst zu haben, zählte ihm der Amtmann die Sünden dieser Zunge auf, welche seine Ankläger zu Protokoll gegeben hatten. Friedrich gab einige als möglich, andere als wirklich zu, wieder andere zog er in Abrede. »Das sind mir Klagen!« sagte er. »Dergleichen Redensarten kann man von jedem Kind in Ebersbach hören. Aber man sollt meinen, der ganz Flecken red französisch, und ich allein schwätz deutsch.«

Der Amtmann protokollierte, während seine Beisitzer gähnten und der Gefangene gelangweilt das Bild der Justitia betrachtete. Nachdem der Amtmann kunstgerecht das Gebäude der Aussagen zusammen getragen[417] hatte, aus welchen die Bosheit der Gesinnung hervorleuchtete, nahm er eine neue Prise und ging sodann zu dem Messerstich über, in welchem der tätliche Ausbruch dieser Gesinnung erblickt werden konnte.

»Es tut mir leid«, sagte Friedrich, »daß der Peter so verbost auf mich ist. Ich hab ihn um Verzeihung gebeten, wiewohl vergeblich, und würd's gern noch einmal tun, wenn ein guts Wort eine gute Statt bei ihm fänd. Ich seh wohl ein, daß es nicht recht gewesen ist, aber ich hab's, weiß Gott, nicht so bös gemeint, ich hab's eben in der Hitz aus Unvorsichtigkeit und Übereilung getan, und wie ich gehört hab, daß ihm's nichts geschadt hat, so ist mir's gewesen, als wär ich aus Ketten und Banden erlöst. Er sollt aber jetzt auch keinen solchen Kessel überhängen. Was! das bißle Aderlaß ist ihm gesund gewesen, er ist ja ein Kerl wie ein Ochs.«

»Nun ja, Er darf freilich Gott danken, daß die Sache so gut abgelaufen ist«, sagte der Amtmann etwas zutraulich, »mit Blutvergießen ist nicht zu spaßen, da geht's gleich um den Kopf. Aber«, fügte er hinzu, »wenn Er in der Rage zugestoßen hat, so hat Er doch nicht so gewiß wissen können, ob der Stoß nicht tiefer oder bis ans Leben gehen werde.«

»Ich bin freilich in der Rage gewesen«, antwortete Friedrich, »aber ich hab ihm doch nicht viel tun können, denn er hat mich ja am Arm gepackt gehabt, und also hab ich eigentlich gar nirgends anders hinstoßen können als nach seinem Arm.«

»Glaubt Er«, forschte der Amtmann, »Er habe das[418] so sicher berechnen können? Es ist doch nicht wohl anzunehmen, daß man im Zorn zugleich kalt und besonnen zielt. Man stoßt eben zu, und dann kann der Stoß ebensowohl am Arm vorbei und in den Körper gehen.«

»Ja, gezielt hab ich freilich nicht«, erwiderte Friedrich, »und hab mir auch nicht fürgenommen, wie tief es gehen soll. Ich hab ja schier nicht gewußt, daß ich nur gestochen hab. Wenn ich kein Messer in der Hand gehabt hätt, so hätt ich ihm eben die Faust zu Gemüt geführt.«

»Da hätte Er ja aber auch das Messer vorher weglegen können«, sagte der Amtmann.

»Ja was! wenn man im Zorn ist, so denkt man an nichts und stoßt eben zu. Wenn man je was denkt, so denkt man höchstens im Unsinn: Kerl, hin mußt sein!«

»Hin?« fragte der Amtmann, die Gerichtsbeisitzer anblickend und rasch der neuen Fährte folgend.

»Das ist einem aber nicht Ernst«, verbesserte der Gefangene, dem es nachgerade schien, er sei im Begriffe, zu viel zu sagen. »Man ist nachher heilig froh, wenn's nichts getan hat.«

Der Amtmann protokollierte fleißig drauflos, während dem Gefangenen eine dunkle Ahnung verraten mochte, seine Vorsicht komme zu spät und er habe wohl schon viel zuviel gesagt. Auch reichte seine Vernehmlassung vollkommen hin, um die Anklage wegen eines Attentats zu begründen, bei welchem er eine Tötung, wo nicht beabsichtigt, so doch auch nicht geflissentlich vermieden, jedenfalls aber eine[419] mehr oder minder lebensgefährliche Verwundung vorausgesehen habe.

Zufrieden mit dem bisherigen Erfolge der Untersuchung, legte der Amtmann die Feder nieder und nahm das Verhör wieder auf. »Jetzt kommen wir an den Fruchthandel«, sagte er. »Er wird nicht in Abrede zu ziehen gemeint sein, daß es ein etwas einseitiger Handel ist, wenn man Frucht einsackt, ohne Bezahlung dafür zu leisten. Pro primo aber, um die Aussagen unter sich in Einklang zu bringen, muß ich fragen: wieviel ist's denn eigentlich gewesen?«

»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab meinem Vater gleich im ersten Augenblick erklärt, daß er durch den Handel um keinen Kreuzer kommen solle, und wenn's jetzt an dem ist, daß er aus meinem Mütterlichen schadlos gehalten werden soll, so will ich kein Körnle verschweigen. Natürlich hab ich's in der Nacht und in der Eil nicht so akkurat abzählen können, auch ist in einem Sack mehr gewesen und im anderen weniger, aber ich tu meinem Vater gewiß nicht unrecht, wenn ich's im ganzen auf ein Scheffel sechs oder sieben schätz, Dinkel und Haber, ungefähr zu gleichen Teilen – ganz genau kann ich das natürlich jetzt nicht mehr sagen.«

»Sechs bis sieben Scheffel Dinkel und Haber«, sagte der Amtmann, den Kopf auf die Hand stützend. »Ja, ja, das müssen wir so praeter propter berechnen. Wo sind die pretia rerum?« fragte er, in den auf dem Tische liegenden Akten kramend. »Ja so, meine Frau wird die Zeitung haben. Herr Senator,[420] geh Er geschwind zu meiner Frau hinüber; ich lasse sie auf einen Augenblick um die Wöchentlichen Anzeigen bitten.«

Der Richter ging und brachte das amtliche Landesblatt, auf dessen Rückseite die Frucht-, Wein-, Holz- und Salzpreise verzeichnet waren. Der Amtmann nahm das Folioblatt, legte es vor sich auf den Tisch, stärkte sich zuvor durch eine Prise und suchte dann mit dem Finger im Schrannenzettel. »Da steht's«, sagte er, »Göppinger Schranne, Dinkel drei Gulden dreißig, Haber zwei Gulden dreißig.«

»Ja«, sagte der andere Gerichtsbeisitzer verdrießlich, »seit der Ernt hat der Dinkel um dreißig Kreuzer abgeschlagen, im August hat er noch vier Gulden kost't.«

Der Amtmann rechnete mit dem Bleistift auf einem Stück Sudelpapier. »Vier Scheffel Dinkel«, murmelte er, »tut vierzehn Gulden; drei Scheffel Haber, tut sieben Gulden dreißig, beides nach jetzigem Preis. Zusammen also einundzwanzig Gulden und dreißig Kreuzer. Ist Er mit der Taxation zufrieden?«

»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab zu meinem Vater gesagt, wenn der Fruchtpreis bis zur Abrechnung anziehe, so solle das sein Nutzen sein; also sollt's eigentlich mir zugut kommen, wenn der Preis unter der Zeit gefallen ist, weil mein Vater ja doch damals nicht hat verkaufen wollen. Aber ich bin nicht so interessiert. Machen Sie nur das Ungerade voll und rechnen Sie zweiundzwanzig Gulden, daß die Zahl rund ist.«[421]

»Ich weiß nicht, was Er will«, sagte der Amtmann. »Ich habe ja nach dem heutigen Preis, also zu Seinen Gunsten gerechnet.«

»Richtig, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »aber Sie haben vier Scheffel Dinkel und drei Scheffel Haber angenommen, und es können ebensogut vier Scheffel Haber und drei Scheffel Dinkel gewesen sein, oder auch gradaus halb und halb.«

»Ist mir das eine Strohhalmspalterei!« rief der Amtmann verdrießlich. Die beiden Gerichtsbeisitzer lachten. »Wenn's hoch kommt, so macht's 'n Gulden Unterschied, und 'n halben Gulden will er ja selber dreingeben«, sagte der eine. »Kommst endlich ins Rechnen?« rief Friedrichs Vormund, »'s wär wohl Zeit, daß du dran dächtest; hätt'st aber schon früher anfangen sollen.«

»Damit Er sieht, daß Ihm kein Unrecht geschieht, so will ich's Ihm vorrechnen«, sagte der Amtmann und griff wieder zum Bleistift.

»Ach, mir ist's ja nicht ums Geld!« sagte Friedrich zugleich ärgerlich und beschämt. Ihn hatte bloß das verdrossen, daß man von den möglichen Grundlagen der Berechnung die ungünstigste angenommen hatte. Während der Amtmann noch rechnete, hörte man vor der Türe, die der Schütz aus Neugier ein wenig offen gelassen hatte, einen schweren Tritt, der von wiederholtem Räuspern des Kommenden begleitet war, dann einen Wortwechsel mit dem Schützen, welcher endlich sagte: »Wenn Er mit Gewalt nausgeschmissen sein will, so probier Er Sein Glück.« Darauf klopfte es an der Türe erst leise und demütig,[422] dann etwas lauter. Der Amtmann ließ einen grimmigen Blick nach der Türe hinlaufen, rechnete aber stillschweigend fort. Es klopfte wieder. »Daß dich das Wetter!« rief der Amtmann und warf den Bleistift hin, »was ist das für ein unverschämter Lumpenkerl?« Einer der Gerichtsbeisitzer ging auf den Zehen nach der Türe und öffnete. Ein halb städtisch, halb ländlich gekleideter Mann stand davor, der, da er sich auf einmal dem Amtmann gegenüber sah, ein paar tiefe Kratzfüße machte. »Mit Ihrem Wohlnehmen, Herr Amtmann!« wollte er beginnen. Zugleich rief der Gefangene, der sich neugierig umgesehen hatte: »Das ist ja der Vetter aus Hattenhofen! Grüß Gott, Vetter!«

»Still!« gebot der Amtmann. »Hab jetzt keine Zeit!« rief er dem Ankömmling zu. »Sieht Er denn nicht, daß hier etwas Dringendes verhandelt wird? Und wie kann Er sich unterstehen, am Sonntag zu kommen?«

»Exküse, Herr Amtmann«, sagte jener, schon halb auf dem Rückzuge begriffen, »'s ist ja eben wegen der Sach.«

»Halt!« rief der Amtmann. »Herein da! Hat Er etwas wider den Angeklagten vorzubringen?«

»Ach nein, Herr Amtmann, wenn Sie's erlauben«, antwortete der Mann etwas weinerlich, »ich verklag ihn nicht, gewiß nicht, und was er von mir hat, das hat er aus gutem freien Willen, und ich will aber auch hoffen, daß ich wieder zu meinem Sach komm.«

»Also eine Schuldklage!« rief der Amtmann enttäuscht.[423] »Dazu ist jetzt keine Zeit, das ist nachher vorzubringen. Fort!«

»Der ist pfiffig!« sagte der Gefangene lachend, »der weiß den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Ich möcht aber nicht haben, daß er in der Sorg wär, er könnt durch mich um etwas kommen, und weil wir ohnehin just an der Abrechnung von meinem Mütterlichen sind, so ist mir's lieber, wenn das auch gleich dazugeschrieben wird.«

»Ich hab's ihm aus gutem freien Willen gelassen, Herr Amtmann«, wiederholte der Vetter, erfreut über die Willfährigkeit des Gefangenen, indem er sich zugleich, dem Befehl des Beamten gehorchend, aber so langsam, daß er jeden Augenblick zurückgerufen werden konnte, nach der Türe zurückzog.

»Gelassen? aus gutem Willen gelassen?« sagte der Amtmann stutzend. »Was ist denn das?«

Der Mann zuckte die Achseln verlegen lächelnd und blieb an der Türe stehen.

Der Amtmann sah den Gefangenen scharf an. »Ich hab's ihm von meinem Mütterlichen zurück versprochen«, sagte dieser.

»Halt!« rief der Amtmann. »Er bleibt da! Bring Er Seine Sache vor! Ich muß wissen, wie es sich damit verhält.«

»Ich will's selber sagen«, nahm der Gefangene das Wort. »Ich hab ja gleich mit rausrücken wollen, sobald ich meinen Vetter gesehen hab. Also, wie sich's um das Strafgeld für meine Christine gehandelt hat, und der Herr Amtmann hat mir die Höll heiß gemacht und all die Unehr und Schmach fürgestellt,[424] die über sie hätt ergehen sollen, da hab ich nicht gewußt, wo hinaus und wo hinein, und weil der Herr Amtmann mit dem Geld sehr pressiert hat, so bin ich noch in der nämlichen Nacht gen Hattenhofen gesprungen und hab bei meinem Vetter da einen Besuch gemacht.«

»Und ist der Vetter bei dem Besuch auch selbst zugegen gewesen?« fragte der Amtmann, immer aufmerksamer werdend, den Vetter von Hattenhofen.

»Neinle, neinle, Herr Amtmann, ich bin nicht dabeigewesen«, antwortete dieser mit seinem verlegenen Lächeln.

»Das ist aber ein Galgenvogel!« schrie der Richter auf. »Also noch so ein Stück! Wenn man dem die Schublad aufmacht, so springen lauter Einbrüch 'raus!«

»Still!« befahl der Amtmann. »Kann Er behaupten, daß Sein Vetter Ihn eingeladen oder aufgenommen habe, und was hat Er bei Nacht in dem fremden Haus getan?«

»Es ist mir kein fremdes Haus gewesen, Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »und wenn mich auch mein Vetter selbigsmal nicht hat einladen können, weil er just zu der Zeit geschlafen hat, so hab ich doch von früher gewußt, daß er sein Haus nicht vor mir verschließt.«

»Ja freile, freile!« sagte der Mann von Hattenhofen eifrig bekräftigend. »Mir ist ja die ›Sonne‹ auch nicht verschlossen, und ein Ehr ist der andern wert.«

»Und was hat Er in dem Haus getan?« wiederholte der Amtmann.[425]

»Die Straf für meine Christine geholt, wie ich ja schon von Anfang an hab sagen wollen!« antwortete der Gefangene etwas gereizt.

»Also hat er Ihm Geld genommen?« fragte der Amtmann den Mann vom Lande.

»Beileib net, Herr Amtmann, b'hüt uns Gott!« sagte dieser, »bloß e bissele Zwetschgen und e bissele Trilch und e bissele Garn und e bissele Flachs, und aber über alles das hat er mir eine Quittung geben.«

»Hat Er die Quittung da?«

»Ha freile, Herr Amtmann«, rief der Nichtkläger, dem die Freude, sein Anliegen so geschickt anbringen zu können, aus den Augen blinzelte, und reichte die Quittung mit weit vorgebeugtem Leib und ausgestrecktem Arm dem Amtmann hin.

»Hat Er die Quittung in jener Nacht zurückgelassen?« fragte der Amtmann den Gefangenen.

»Nein, Herr Amtmann, damals hat mir's zu arg pressiert. Ich hab dann gleich den Tag darauf das Sach verhandelt und das Geld meiner Christine gebracht, damit's mit der Straf in Richtigkeit kommen soll. In etlichen Tagen hernach bin ich aber wieder hinaus und bin meinem Vetter abermals ins Haus kommen und hab ihm die Quittung ehrlich und redlich auf den Tisch gelegt, er kann's selber nicht anders sagen. Und wiewohl ich rechtschaffen Hunger gehabt hab, so hab ich doch für mich nichts angerührt.«

»Ja, der Frieder ist recht, das muß man ihm lassen«, sagte der Vetter unter fortwährendem leisen Gelächter der beiden Gerichtsbeisitzer. »Ich wär auch[426] zufrieden gewesen mit der Quittung, denn sein Wort ist mir so lieb wie bar Geld, trag ihm auch gar nichts nach, und aber nur, weil ich gestern Nacht gehört hab, daß er in Ungelegenheit kommen sei, so hab ich gemeint, ich müß doch sehen, daß ich wieder zu mei'm Sächle komm, eh jemand anders die Hand drauf deckt.«

Der Amtmann selbst konnte das Lachen kaum verbeißen. »Hat Er denn nach dem ersten Besuch Sein Haus nicht besser verwahrt, daß Ihm der ungeladene Gast noch einmal hat hineinkommen können?« fragte er.

»Freile«, antwortete der Vetter vom Lande. »Aber wo der nein will, da hilft kein Verwahren nichts. Dem ist nichts zu hoch und nichts zu tief, er kommt eben hin.«

»Ein schönes Prädikat«, bemerkte der Amtmann. Darauf fragte er beide, ob sie mit der Quittung und der darin enthaltenen Schätzung der auf so ungewöhnliche Weise entlehnten Gegenstände einverstanden seien. Friedrich erwiderte, er habe mehr angesetzt, als er bei dem Verkaufe, mit dem es geeilt, erlöst habe. Auch der Vetter ließ sich die Preise sehr gerne gefallen und erklärte: »Wenn mir's der Frieder abkauft hätt, ich hätt's ihm grad so geben. Wir sind ja immer ein Kuch und ein Muß gewesen, gelt du, Friederle?«

»Es will mir auch so vorkommen«, sagte der Amtmann mit einer gewissen Strenge. »Er sucht mir da Seinem Konsorten behilflich zu sein und dem Streich den Nimbus eines freiwilligen Anlehens zu geben.[427] Weiß Er, daß ich Ihn beim Essen behalten und etwan in puncto stellionatus prozessieren könnte!«

Der Mann von Hattenhofen erschrak ins Herz hinein: er glaubte, seine Sache unübertrefflich gut gemacht zu haben, und sah sich jetzt dennoch in der Gefahr, von einem der vielen Rädchen der Justizmaschine, dem er vielleicht zu nahe gekommen, erfaßt zu werden. Doch nahm er sich zusammen und erwiderte: »Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig nehmen will, mein Herz weiß nichts davon, und ich versteh auch kein Wörtle, warum ich gestraft werden soll.«

»Dafür«, sagte der Amtmann, »daß Er Schleichereien macht und die Leute, ja selbst die Obrigkeit irreführen hilft.«

»Mit Verlaub, Herr Amtmann«, hob der vormundschaftliche Gerichtsbeisitzer an, der einen Stein im Brett zu haben glaubte, während der Beamte ihm vielmehr die Zurücksendung seiner Geldsorten nachtragen mochte. »Wenn man fragen darf, woher hat denn das Ding seinen Namen? Das Wort lautet sogar kurios und kommt einem so oft vor. Ich hab schon etliche mal fragen wollen.«

Der Amtmann wurde etwas rot. »Ich kann's Ihm schwarz auf weiß zeigen, wenn Er zweifelt«, sagte er und ging nach einem Aktenständer, auf welchem mehrere seinen Inzipienten gehörige Bücher aufgestellt waren.

»Ich hab ja kein Zweifel, gewiß nicht!« rief der Gerichtsbeisitzer in wahrer Verzweiflung. »Ich glaub ja alles aufs Wort, wie mir's der Herr Amtmann sagt.«[428]

Dieser aber, dem mit solcher Bereitwilligkeit im vorliegenden Falle nicht sehr gedient sein mochte, zog ein Buch heraus und blätterte schnell darin. »Bestie!« fluchte er halblaut, da er das Gewünschte nicht fand, stieß das Buch wieder hinein, riß ein dickeres heraus, schlug es auf, zeigte mit dem Finger auf die Stelle und sagte beruhigt: »Da steht's, da kann Er selber sehen! Stellio, eine Art Eidechse, welches ein sehr listiges und ränkevolles Tier, daher stellionatus, das Verbrechen, wo einer ränkevoll handelt, sonderlich mit Schleichereien in Geldsachen, und das Verbrechen doch keinen Namen hat, daher extra ordinem und secundum arbitrium zu bestrafen ist. Da übrigens Inquisit geständig ist«, wandte er sich an den bange harrenden Vetter, »und da Er mehr eine Art Gerechtmacherei als einen eigentlichen Vorteil bezweckt hat, so will ich nicht den strengsten Maßstab anlegen, sondern die Sache für dieses Mal hingehen lassen! Merk Er sich's aber für die Zukunft, damit Er gewitzigt ist.«

Der Amtmann, dem eine stille Ahnung sagen mochte, daß er mit seiner Gesetzesanwendung denn doch bei den eigentlichen Juristen durchfallen könnte, protokollierte nun ein langes und breites, ließ dann den von Hattenhofen unterschreiben und schickte ihn fort. Da dieser aus Respekt das Türschloß nicht in die Klinke fallen zu lassen wagte, so hörte man, wie er draußen im Weggehen leise vor sich hinpfiff. Denn dies ist die Art des Landbewohners: wenn er zu einer Verhandlung mit Herren oder sonst zu einem wichtigen Handel kommt, so räuspert er sich,[429] als ob er einen Stein vom Herzen weghusten müßte, und wenn er fortgeht, so pfeift oder summt er bald mehr, bald minder zufrieden, entweder weil es nach seinem oft sehr schlauen Kopfe gegangen ist oder weil er denkt, es habe doch wenigstens den Kopf nicht gekostet und hätte ja noch schlimmer gehen können, als es gegangen sei.

»Wir kommen nun auf das vorige Chapitre zurück«, begann der Amtmann wieder. »Er ist also geständig, außer dem hier verhandelten, bei Seinem Vater einen Diebstahl, den er auf zweiundzwanzig Gulden anschlägt, begangen zu haben?«

»Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »ich kann mir's nicht gefallen lassen, daß man das einen Diebstahl heißt. Ich bin in meinem Eigenen gewesen und hab ja meinem Vater gleich geofferiert, daß ich's ihm aus meinem Mütterlichen wieder ersetzen will.«

»Davon nachher«, erwiderte der Amtmann. »Wer sind Seine Helfershelfer gewesen, und wo hat Er das Geld hingebracht?«

»Ich hab die Frucht ganz allein auf meines Vaters Bühne geholt, es ist kein Mensch mit mir droben gewesen«, antwortete der Gefangene, den Sinn der Frage durch den Wortlaut seiner Aussage umgehend. »Man hat Verdacht, daß Seine Person und einer ihrer Brüder Ihm dabei behilflich gewesen sein werden«, inquirierte der Amtmann.

Friedrich wiederholte seine Versicherung und erbot sich, einen Eid zu schwören, daß keines von den beiden auf seines Vaters Speicher gekommen sei.[430] Der Amtmann belehrte ihn, daß ein Angeklagter nicht zum Eide zugelassen werden könne, und hielt ihm dann jenen bei dem Müller begangenen Bienendiebstahl vor, dessen sich der eine seiner angeblichen Schwäger mehr als verdächtig gemacht habe; es sei beinahe so gut wie erwiesen, daß er selbst bei jenem Vergehen mit im Komplott gewesen sei, und man müsse jenen mit allzu großer Nachsicht beiseite gesetzten Fall jetzt hervorziehen, weil er auch auf den neueren Vorgang ein Licht zu werfen scheine. Friedrich war nicht wenig froh, den Verdacht von seinem Lieblingsschwager auf dessen für ihn wie für die Familie unbedeutenderen Bruder abgelenkt zu sehen, beteuerte jedoch, er habe demselben an dem Abend, an welchem er den Diebstahl begangen zu haben beschuldigt sei, unwissentlich und zufällig auf der Brücke gepfiffen und sich lediglich hierdurch verdächtig gemacht. Der Amtmann setzte ihm scharf mit Kreuz- und Querfragen zu, brachte aber nichts aus ihm heraus, was einen Anhalt zum Einschreiten gegen seinen Mitbeschuldigten darbieten konnte. Ebensowenig war ihm über das aus der Frucht erlöste Geld ein Geständnis abzupressen. Da er weder den dritten Genossen verraten, noch sich einer Hilfe, die seinem Mädchen in der Not zustatten kommen konnte, entschlagen wollte, so blieb er beharrlich dabei, er habe das Geld vollständig ausgegeben und sein Vater solle es eben an seinem eigenen Vermögen abziehen.

»Wie hat Er das Geld verwendet?« fragte der Amtmann, immer schärfer in ihn dringend.[431]

»Ich hab's vertan«, antwortete er, um der Untersuchung jeden Weg abzuschneiden.

»Wie hat Er's vertan?« rief der Amtmann wild.

»Versoffen!« antwortete er trotzig.

»Du Hallunk!« schrie sein Vormund, während der Amtmann erschöpft in den Sessel zurücksank. Nachdem dieser etwas Atem geschöpft, richtete er sich wieder auf und sagte gleichmütig: »Ich muß und will annehmen, daß Er die Wahrheit sagt; in diesem Fall kommt eben zu Seinen anderen Reaten auch noch der Punkt des asotischen Lebenswandels hinzu. Ich hab's Ihm ja erklärt, daß es ganz bei Ihm stehe, wie Sein Protokoll ausfallen werde.«

Der Amtmann war im ganzen nicht unzufrieden mit dem Ergebnis der Untersuchung, das ihm ziemlich ausgiebig erschien. Er hielt dem Gefangenen seine Hauptvergehen vor und ging schließlich in den Ton der Rüge und Ermahnung über. »Hat Er denn ganz vergessen«, rief er, »was ich Ihm damals so eindringlich gesagt habe, als Er das erstemal auf seinen bösen Wegen betreten wurde, und was ich Ihm dann wieder gepredigt habe, als Er von Seiner ersten Strafe zurückkam?«

»Nein, Herr Amtmann, ich weiß es noch«, antwortete der Gefangene, »Sie haben gesagt, das Zuchthaus sei eine Schule des Lasters, und ich solle mich wohl in Obacht nehmen, daß ich nicht wieder hineinkomme.«

»Und was hat Er von sich selbst denken müssen, daß Er doch wieder hineingekommen ist, und was muß Er heute von sich denken, daß Er abermals,[432] und zwar tertia vice bei solcher Jugend, reif dafür geworden ist?«

»Ich hab gedacht und denk, für einen jungen Menschen, an dem noch nicht alles verloren sein kann, sei es doch hart, wenn er in die Schule des Lasters getan wird, wie Sie's ja selber nennen.«

»So?« rief der Amtmann zornig, »wenn Ihm das Zuchthaus nicht gut genug ist, so kann man ihn ja für Seine Mord- und Diebstaten auf die Schandbühne und von da auf die Galeere bringen, vermittelst des Vertrags, den gnädigste Herrschaft mit der Republik Venedig geschlossen hat!«

Den Gefangenen überlief es, daß seine Kette klirrte. »Ich muß freilich ausessen, was man mir kochen will«, sagte er, »ich bin ja schon mehr dabei gewesen und weiß jetzt, wie man's macht, aber ich hab weder eine Mordtat, noch einen Diebstahl begangen.«

»Diebstahl mit nächtlichem Einbruch!« rief der Amtmann, mit der Spitze des Fingers auf das Protokoll klopfend.

»Da drinnen steht's vielleicht so«, entgegnete Friedrich, »aber in meinem Herzen heißt's anders, wenn ich Weib und Kind mit dem, was mir mein Vater schon als Vater schuldig wär, vom Hungertod erretten muß.«

Der Amtmann milderte seinen Ton etwas. »Wenn Er mit dieser Auslegung durchzudringen hofft, so gratulier ich Ihm dazu«, sagte er. »Bei Gericht aber nimmt man die Dinge nicht nach der Auslegung, sondern wie sie sind. Angenommen, es habe einer[433] einen Prozeß mit einem andern und es sei auch das Recht ganz auf seiner Seite, so darf er darum doch nicht in seiner eigenen Sache den Exekutor machen oder den Erretter, wie Er's heißt, und sich selbst am Hab und Gut des andern regressieren.«

»Dawider will ich nicht streiten, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »'s hat alles Händ und Füß, was Sie sagen. Aber, nicht wahr? wenn ich meinen Vater bei Ihnen verklagt hätt, daß er meiner Christine nichts zu ihrem Unterhalt gibt, so hätt sie lang verhungern können, bis ich hätt Recht bei Ihnen gefunden.«

»Halt Er Sein Maul, Er ewiger Rechthaber!« schrie der Amtmann entrüstet. »Er steht als Angeklagter hier und nicht als Advokat!«

Er griff wieder zu der Feder und schrieb eifrig und zornig fort. Friedrich sah ihm eine Weile zu. »Ich seh wohl, was Sie schreiben«, sagte er dann: »Unerachtet seiner äußersten Bosheit will er immer noch recht haben.«

Der Amtmann fuhr zurück, daß ein Teil der Akten zu Boden fiel. »Ist der Kerl vom Teufel besessen?« murmelte er vor sich hin. Die Gerichtsbeisitzer sahen ihn erschrocken an. Friedrich lächelte. »Ich kann mir's nämlich denken«, fügte er hinzu, da er die Worte von der Kirchenkonventsverhandlung her im Gedächtnis behalten hatte.

»Heb Er mir die Akten auf«, befahl der Amtmann dem einen Gerichtsbeisitzer. »Den Schützen!« rief er dem anderen zu. »Er führt den Arrestanten vorläufig in sein Loch zurück und holt mir den[434] hannes Müller!« wies er den eintretenden Schützen an. – »Wo der Teufel nicht hinkommt, schickt er die Obrigkeit«, murrte der Gefangene halblaut, während er abgeführt wurde. – »Wird gleichfalls zu Protokoll genommen!« rief ihm der Amtmann nach.

Das auf Grund der Akten von dem Vogt zu Göppingen eingeleitete Verfahren war bald abgetan und endigte damit, daß eine eingeholte hochfürstliche Resolution dem jugendlichen Übertreter der Gesetze wegen seiner verschiedenen Verbrechen – puncto diversorum criminum, hieß es in der amtlichen Anzeige – eine anderthalbjährige Zuchthausstrafe gnädigst zuerkannte, wobei er allerdings die Wahl hatte, ob er sich unter dem Zentnergewicht der Anschuldigungen für die gnädige Strafe bedanken oder in dieser eine Verurteilung der Anklage erblicken wollte. Zugleich mit ihm wurde der ältere Bruder Christinens nach dem Zuchthause gebracht, bei welchem der halberwiesene Verdacht des Bienendiebstahls und der unerwiesene Verdacht der Teilnahme an dem Fruchtdiebstahl zu einer Strafe von einigen Wochen hingereicht hatte. Die Bewohnerschaft des Zuchthauses aber bestand nach den gleichzeitigen öffentlichen Bekanntmachungen teils in »freiwilligen Armen« ohne Strafe, teils in Züchtungen und Sträflingen, und die Gesellschaft der beiden letzten Ordnungen bildeten Räuber. Diebe, so viel ihrer nicht gehenkt oder gerädert waren, Falschmünzer, Fälscher, Betrüger, Asoten, Verschwender, Vaganten, Heiligenstürmer, verunglückte Selbstmörder, Ehebrecher, Mädchen, die sich zum drittenmal vergangen,[435] Kalumnianten, einer »wegen übler Aufführung und irrespektuosen Bezeigens gegen Ober- und Unterbeamte«, einer »wegen enorm ruchloser und sündlicher Reden«, einer »wegen Soldatendebauchierens«, einer »puncto lasciviae«, eine Magd wegen feuergefährlicher Verwahrlosung des Lichts, und endlich mehrere »wegen verschiedener Vergehen«.

Auf dem Wege nach Ludwigsburg benutzte Friedrich einen Augenblick, wo der bewaffnete Begleiter, ein armer Bürger von Göppingen, der einen Fluchtversuch der beiden rüstigen jungen Burschen zu verhindern unfähig gewesen wäre, ein wenig dahinten blieb. »Häng kein so dummes Maul runter«, sagte er zu seinem Unglücksgefährten, »was kann denn ich dafür, daß dich die Immen hintendrein gestochen haben? Immenvater bist ja doch gewesen, das kannst nicht leugnen. Und bedenk auch, Schwager, daß die Deinigen dich leichter ein paar Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber missen, denn der ist doch am kleinen Finger mehr als du am ganzen Leib.«

Der andere schwieg stöckisch. Der Wächter kam wieder herbei, und die Wanderung wurde fortgesetzt.

Als sie in Ludwigsburg einzogen und sich dem Zuchthause näherten, fanden sie den Weg durch eine große Menschenmenge gesperrt. Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuschauern und Zuschauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen. Hinter dem Sarge ging zunächst eine Schar von Waisenkindern in ihrer grauen Tracht; ihnen[436] folgte eine lange Begleitung von Männern, geistliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem größeren Zwischenraume kam ein Zug Strafgefangener in der Zuchthauskleidung, von Aufsehern bewacht. Alle hatten die Haltung von Leidtragenden, und selbst in den Reihen dieser vom Leben halb ausgestoßenen Männer sah man nasse Augen.

»Wen begräbt man hier?« fragte der Führer der beiden einzuliefernden Sträflinge eine sich herzudrängende Frau.

»Den alten Waisenpfarrer«, war die Antwort.

Friedrich drückte die Hände gegen die Brust. So manchmal, wenn es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er sich nach dieser Heimat, die man in der Welt eine Schule des Lasters nannte, zurückgesehnt, und nun war der gute Geist, der darin waltete, auf immer dahin. Die Welt schien ihm ausgestorben. Er kehrte sich ab und weinte bitterlich. Niemand sah diesen Schmerz, welchen er bei seinem Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an sein Weib und sein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen Gleichgültigkeit verbarg.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 369-437.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sonnenwirt
Der Sonnenwirt. Eine Schwäbische Volksgeschichte

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon