[437] Ein stiller Herbstabend breitete seinen Frieden über die Welt. Vom Brunnen, wo sie sich satt getrunken, wurden Pferde und Kühe heimgetrieben, wobei einige Füllen und Kälber munter um sie her sprangen und wohl auch hie und da eine Kuh, deren[437] Alter ein gesetzteres Betragen erwarten ließ, zu ein paar Bockssprüngen verführten. Nachdem das Vieh den Trog verlassen hatte, kamen Weiber und Mädchen, um ihre Wassergelten unter dem Rohr zu füllen; sie plauderten und lachten unter sich oder mit den Leuten, die vor den Häusern Feierabend machten. Allmählich wurde es am Brunnen und auf der Straße leer, die Menschen gingen in die Häuser, da und dort hörte man das Vieh in den Ställen brüllen, aber immer tiefer sank das Dorf, schon während der Dämmerung, in die Stille der Nacht, so daß endlich der gesellige Brunnen für sich allein murmelte, doch nicht ganz von den Stimmen des Lebens verlassen, denn ihn begleitete das Plätschern des vorüberziehenden Flüßchens und das Rauschen des Neckars, der unfern über seine Kiesel dahinzog. Die Schatten verdichteten sich mehr und mehr, da kam noch eine Nachzüglerin zum Brunnen, um Wasser zu holen; entweder hatte sie sich über häuslichen Geschäften verspätet, oder scheute sie die Gesellschaft, die zu einer früheren Stunde am Brunnen nicht zu vermeiden war, denn ihre Tracht, die von der Tracht des Dorfes abwich, bezeichnete sie als eine Fremde, die sich vielleicht unter den andern nicht heimisch fühlte; das um den Kopf geschlungene dunkelblaue Tuch ließ nicht erraten, ob sie ein Weib oder Mädchen sei. Sie stand mit dem Leib über die nachlässig gefalteten Hände übergebeugt am Brunnen und wartete in dieser geduldigen Haltung, welche meist von überstandenen Leiden zeugt, auf das Vollwerden ihres Gefäßes. Ein tiefer Seufzer[438] sprach es aus, daß sie in ihrem Innern nicht unbeschäftigt war. Während sie so am Brunnen träumte, erscholl ein rascher, zuversichtlicher Schritt durch das schlummernde Tal. Er schien sich zu verlieren, wenn die Straße sich senkte; dann schlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der Wanderer das Dorf erreicht; er ging langsamer, verweilte hie und da und setzte dann seine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein kräftiger, untersetzter Mann, entdeckte er die Gestalt am Brunnen und trat, wie um sie zu fragen, auf sie zu. Kaum aber hatte er sie voll ins Auge gefaßt, so umschlang er sie und drückte sie heftig an sich. Mit einem leisen Schrei des Schreckens und Unwillens suchte sie sich loszumachen, da sagte er mit unterdrückter Stimme: »Christine!« Sie sah ihm in das Gesicht und stürzte mit einem zweiten Schrei an seine Brust, die Arme um ihn schlagend. Nach einer langen Umarmung, in welcher sie zuweilen tief Atem holte, sagte sie weinend: »Mein Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo kommst denn her?«
»Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefängnis, aus der Welt, aus der Heimat – woher du willst!« antwortete er fröhlich.
»Daß du von Hohentwiel entkommen bist«, sagte sie, »ist das letzt, was ich von dir weiß.. Das hat einen solchen Lärmen durch's Land geben, daß ich's sogar im Zuchthaus erfahren hab. Kannst dir vorstellen, wie mich's gefreut hat.«
»Im Zuchthaus!« versetzte er. »Ich weiß, daß sie[439] dich dorthin getan haben. Oh, 's ist scheußlich! scheußlich!«
»Sie haben gesagt, sonst werd eine erst beim dritten Kind so gestraft, mir aber müß man's schon beim zweiten andiktieren, für meinen Umgang mit dir, weil du dich so aufgeführt habest, daß man dich lebenslänglich hab auf die Festung sperren müssen.«
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann sah sie sich scheu um, ob niemand ihr Tun bemerkt habe. Hierauf fragte sie hastig: »Und von Ebersbach kommest, sagst? Was machen meine Kinder?«
»Sie sind ganz wohl«, antwortete er: »das Kleine hat all seine Zähn, du mußt's ja gesehen haben, wie du letzt dort gewesen bist, und lauft ganz allein; und der Groß hat vorgestern zum erstenmal in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich solle die Mutter schön grüßen.«
Sie schluchzte. »Aber ich vergeß mich ganz«, sagte sie dann erschrocken. »Meine Herrschaft ist im Pfarrhaus, sie sind oft nach'm Nachtessen dort, und die Kinder sind allein. Die Schulmeisterin tät mir's nicht verzeihen, und ich möcht's ihr auch nicht zuleid tun, daß einem von den Kindern etwas geschah.«
»Hat die Kathrine Kinder?« fragte er, sie aufhaltend.
»Ha, was meinst?« antwortete sie, »drei, und das ältest davon ist schier fünf Jahr alt.«
»Was man nicht erleben kann!« sagte er: »ist mir's doch, als hätt sie erst gestern noch im Ebersbacher[440] Amthaus gedient, mit ihrem Bleichschnäbele und ihrer schmächtigen Gestalt, und jetzt hat sie schon ein fünfjähriges Kind.«
»Es ist auch in die sechs Jahr, daß sie den Schulmeister hier geheiratet hat. O Frieder, das Weib hat den Himmel an mir verdient. Aber jetzt laß mich, nur 'n Augenblick laß mich, ich komm wieder! Sieh, wenn den Kindern etwas zustieß, die sie mir anvertraut hat, es wär mein Tod.«
»Gleich laß ich dich gehen«, sagte er und faßte sie an der Hand. »Wenn du aber wiederkommst, bleibst dann bei mir und ziehst mit mir fort? Ich leid's nicht, daß mein Weib im Dienst ist. Sieh, bloß um deinetwillen bin ich von Frankfurt hergewandert, um dir zu halten, was ich dir versprochen hab. Meines Bleibens ist im Ländle nicht, kannst dir wohl denken, warum, aber draußen können wir das und jenes probieren, werden uns schon durchschlagen, und das ehrlich, hoff ich. Auch ist jetzt leichter in der Welt fortkommen: es ist Krieg, und der bringt manchen Verdienst unter die Leut. Der König von Preußen ist in Sachsen eingefallen, es geht alles drunter und drüber.«
»Ja, man spricht hier auch davon«, versetzte sie. »Ach Gott, was ist das für eine Welt!«
»Gehst mit mir? und das gleich?« fragte er dringender.
»Soweit ich seh!« rief sie, ihm noch einmal um den Hals fallend. »Aber von meiner Schulmeisterin muß ich Abschied nehmen, sie meint's so gut mit mir.«[441]
Sie griff nach ihrer Gelte. Er wollte dieselbe tragen, aber sie gab es nicht zu. »Geh zwischen den Häusern da den Fußweg naus, daß dich niemand bemerkt. Bei den drei großen Bäumen stoß ich wieder zu dir. Die Kathrine will ich von dir grüßen, sie spricht oft von dir, aber was hätt sie davon, wenn du in ihrem Haus gefangen würdest?«
Sie eilte mit dem Wasser fort. Er trank in gierigen Zügen am Brunnen, ging dann den Fußweg hin und wartete an dem bezeichneten Orte. Nach einer Viertelstunde kamen hastige Schritte. Sie war's; an ihrer Hand schwankte ein kleines Bündelein, das er ihr sogleich abnahm. »Ich hab nich! Abschied nehmen können«, sagte sie; »sie sind noch im Pfarrhaus, es ist Besuch ankommen, und da wird der Schulmeister immer eingeladen, denn er gilt beim Pfarrer viel. Weil du nun so pressierst, so hab ich die Kinder einer Nachbarin übergeben und hab meiner Frau sagen lassen, meine Mutter sei plötzlich krank worden, der Bot hab mich am Brunnen troffen, und ich hab ohne Verzug mit ihm fort müssen. Sie wird wohl von selber draufkommen, wie sich's in Wahrheit verhält, und damit sie's um so eher erraten kann, so hab ich mit dem Griffel auf die Schieferplatt im Tisch geschrieben: ›Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb‹.«
»Das ist die rechte Parole«, sagte er. »Das hat mich auch wieder ins Land geführt.«
»Jetzt aber erzähl einmal«, sagte sie. »Wenn wir immer so durcheinander schwätzen, so erfährt kein's vom andern was recht's.«[442]
»Zuerst müssen wir den Marsch antreten, Frau Landfahrerin«, entgegnete er. »Geh du voran und führ mich den Weg auf die Straße hinaus. Dort können wir nebeneinander gehen und erzählen nach Herzenslust. Hier, so nah am Dorf, ist's doch nicht recht geheuer.«
»Ja, wo naus willst du, Herr Landfahrer?« fragte sie.
»Das versteht sich doch: nach Ebersbach und die Kinder holen, denn ohne die ziehen wir nicht in die Welt hinaus.«
»Jetzt freut mich mein Leben erst!« rief sie entzückt und schritt rüstig in der Dunkelheit voran. Er folgte. »Mir ist's, als wärst du kräftiger worden«, sagte er hinter ihr her, »du trittst ja auf wie eine Burgemeisterin, auch kommst du mir viel runder vor wie ehedem.«
»Ich hab auch ein besseres Leben gehabt in der letzten Zeit«, antwortete sie, immer vorwärts eilend, »kann sein, daß ich mich wieder ein wenig rausgemacht hab. Aber wenn du mich morgen bei Tag siehst, da wirst finden, daß ich nicht mehr das glatt Gesicht von ehedessen hab. Ach Frieder, Sorgen und Not machen den Menschen alt vor der Zeit. Ich fürcht, ich werd dir nicht mehr so gut gefallen.«
»Schwätz mir nicht so verkehrt raus!« erwiderte er. »Daß du nicht siebzehn Jahr alt bleiben kannst, das hab ich gewußt, wie ich dich liebgewonnen hab, und hab mir's auch sagen können, wie ich, gleichfalls aus dem besten Leben raus, fort bin, um dir das Wort zu halten, das ich dir zugeschworen hab.[443] Hast übrigens gar nicht so alt ausgesehen vorhin am Brunnen, wie ich zu dir kommen bin. Ich hab dich just fragen wollen: Jungferle, wo ist das Schulhaus? da seh ich auf einmal, daß du's selber bist.«
Sie hatten unter diesen Gesprächen ein Gewirr sich kreuzender Feldwege, welchen sie oft eine Strecke folgen mußten, längs des Dorfes hin durchschritten. Hie und da bellte ein Hund, aber sie verfolgten unangefochten ihren Weg. Von einem Rain, an welchem der Fußsteig steil emporkletterte, flog sie mit einem leichten Sprung auf die Straße hinab und er ihr nach. Er faßte sie eng um den Leib, sie ihn desgleichen, und so wanderten sie in der Nacht zusammen hin. Sie drückte ihn noch einmal fester an sich: »so, jetzt erzähl!« sagte sie.
»Also!« begann er. »Wie ich vor drei Jahren nach Hohentwiel kommen bin, das weißt du. Ich wär aber doch begierig, ob du auch weißt, was dein Hannes, mein hochachtbarer Herr Schwager, dazu beitragen hat. Gelt, das wird er dir nicht gesagt haben?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte sie, »als daß du den Tag, nachdem wir uns das letztmal gesehen haben, in der ›Sonne‹ bist gefangen genommen worden und daß es da wieder einen Kampf und ein Getümmel geben hab, wie vor sechs Jahr, wo du vom Dach ins Zuchthaus geflogen bist, und daß man dich dann weit fortgebracht hat, nach Hohentwiel. Kannst dir selber sagen, was mir das gewesen ist, daß ich dich zeitlebens nicht mehr sehen soll, und dazu zwei unversorgte Kinder, von denen eins noch nicht einmal[444] auf der Welt gewesen ist. Aber von meinem Hannes weiß ich nichts.«
»Der hat eine Pique auf mich gehabt, von damals her, wo er mit mir ins Zuchthaus kommen ist, und du weißt doch selber am besten, wie unschuldig ich daran gewesen bin. Wie's nun Lärm geben hat wegen der Dummheit im Pfarrhaus –«
»Du sagst recht«, unterbrach sie ihn: »freilich ist's eine Dummheit gewesen. Weißt noch, was ich zu dir gesagt hab, wie du mir nachts mit den Sachen übers Bett kommen bist? ›Bist denn immer noch ein Bub? willst denn gar nie kein Mann werden?‹ hab ich gesagt. Und warum hast denn nicht, wie du mir doch versprochen hast, den Kelch gleich wieder ins Pfarrers Garten geworfen? Ich hab dir doch gesagt, das sei ja der Krankenkelch, werd wohl hundert Gulden wert sein, und wenn's auf dich bekannt werd, so kommest an Galgen.«
»Sei doch vernünftig!« sagte er. »Ich hab ja nicht können. Wie ich mich wieder gegen das Pfarrhaus hingeschlichen hab, hat mich der Nachtwächter gesehen, und da hab ich nimmer trauen dürfen. Ich hab dann eben die Sachen zu Haus im Stroh versteckt, und da hat's am Morgen der Knecht gefunden und meinem Vater bracht, und der hat in der Todesangst alles dem Pfarrer geschickt. Er hat gemeint, man könnt ihn selber als Hehler beim Kopf nehmen, und die Frau Stiefmutter hat ihm natürlich die Höll noch heißer gemacht.«
»Hättst aber auch den Spaß können bleiben lassen!« eiferte sie. »Wenn du nur ein klein bißle Grütz im[445] Kopf gehabt hätt'st, so hätt'st doch wissen müssen, daß ein Eidbruch in einem Pfarrhaus, sonderlich wenn Kirchensachen dabei wegkommen, so laut schallt wie die Posaun von Jericho. Und wenn nur auch was dabei rauskommen wär! Aber der ganz Bettel ist ja des Einsteigens nicht wert gewesen.«
»Das ist wahr«, versetzte er, »außer der silbernen Sackuhr, dem goldenen Ring und den paar Batzen Geld ist an der ganzen Lumperei nichts echt gewesen. Das andere Ührle war von Messing und zerbrochen, und dein kostbarer Nachtmahlskelch, den du hast auf hundert Gulden taxieren wollen, was ist er gewesen? von Kupfer und ein wenig verguld't.«
»Drum eben!« sagte sie noch eifriger. »Und doch hast bei der Lumperei nicht bedacht, daß es um den Hals gehen oder, wie sich's nachher auch zeigt hat, eine Lebenslänglichkeit dabei rausspringen kann.«
»Du hast gut reden«, entgegnete er verdrießlich. »Bin ich darum aus meiner sichern Freistatt zu dir kommen, um mir gleich von dir vorpredigen zu lassen? Du hast, scheint's, ganz vergessen, wie man's uns gemacht hat –«
»Das hätt freilich den besten Mann verzürnen können«, unterbrach sie ihn begütigend.
»Zuerst«, fuhr er heftig fort, »stecken sie mich um nichts und wieder nichts auf anderthalb Jahr ins Zuchthaus. Wie ich das überstanden hab und ins bürgerliche Leben zurückkehren will, so nimmt kein Hund mehr ein Stück Brot aus meiner Hand. Da hab ich erst gesehen, daß meine beide frühere[446] Zuchthausstrafen für nichts geachtet worden sind; aber die dritte, die hat dem Faß den Boden ausgeschlagen. In meines Vaters Haus hab ich mehr wie ein Vagabund auf dem Heu und Stroh als wie ein Kind im anererbten Bett geschlafen. Mein Mütterlich's, hat mir mein Pfleger mit Lachen gesagt, sei über den Prozeß- und Ersatz- und Zuchthauskosten drauf gegangen, und so hat mir meine Volljährigkeit nichts mehr geholfen. Rechnung hat man mir gar nicht abgelegt, und mein Vater hat mich dabei im Stich gelassen: mein Pfleger, hat er gesagt, sei eben einmal ein Herr auf dem Rathaus, und mit diesem müsse man delikat verfahren. Ich hoff ihm noch eine besondere Delikatesse anzutun. Die Metzger, bei denen ich als Knecht hab herum schaffen wollen, haben mehr oder weniger deutlich das Kreuz vor mir geschlagen. Weil man mir nun von Haus aus gar keinen Vorspann geleistet, vielmehr noch Fußangeln in den Weg geworfen hat, so hab ich um so mehr drauf pressiert, daß es zwischen uns beiden endlich einmal zum Heiraten käme; denn abgesehen davon, daß mir's ohnehin angelegen gewesen ist, so. hab ich gedenkt, wenn die Leute sehen, daß ich gegen meinen Schatz ehrlich bin und dem ledigen Leben mit seinen Lumpenstreichen Valet sage, so werden sie mir nach und nach auch wieder Vertrauen schenken. Aber ich brauch dir ja nicht lang vorzumalen, wie uns das fehlgeschlagen hat. Der alte Pfarrer, der Eiferer und Polterer, steht mir jetzt vergleichsweise als ein Ehrenmann da: der neue aber, den ich bei meiner Zurückkunft von[447] Ludwigsburg angetroffen, hab, ist vollends der ganz gemeine Kanzelmelker, der bloß rechnet, wieviel Gulden und Kreuzer ihm das Evangelium trägt und was er aus seinen Verrichtungen für Profit herauspressen kann. Die dritte Proklamation haben wir mit Leichtigkeit von ihm erlangt – um Geld und gute Worte; nur daß ich um des spöttisch mitleidigen Tones willen, mit dem er unsere Namen ablas, ihm das Gesangbuch hätt an den Kopf werfen mögen. Dann aber hat wieder alles dran getrieben, daß die Sache rückgängig worden ist, Vater und Mutter, Amtmann und Pfarrer, und der Pfarrer hat meinem Vater noch ganz anders zugeredet als sein Vorgänger, welch eine Torheit es für ihn sei, eine Schwiegertochter ohne Vermögen ins Haus zu nehmen. Weißt noch, wie wir vier Wochen lang herumgezogen sind zwischen dem Staufen und der Teck, von einem Pfarrhof zum andern, ob wir nicht einen Geistlichen fänden, der uns um Gotteswillen und aus christlichem Herzen kopulierte? War aber alles vergebens, und wie wir heimkommen, so stecken sie uns wegen Entführung und Landstreicherei vierzehn Tage lang ein und bringen mir dann eine Verzichtleistung von dir, die mich so rappelköpfig macht, daß ich erklärt hab, jetzt wolle ich auch nichts mehr von dir wissen. Wie wir dann frei wurden, war's leicht, sich über die falsche Vorspiegelung zu verständigen. Drauf klag ich in Göppingen, und der Vogt sagt selber, das sei keine Art, eine angefangene Kopulationssache nach dreimaliger Proklamation also zu hintertreiben, und gibt einen Bescheid für den[448] Pfarrer, daß er fortfahren solle. Wie ich dich nun damit ins Pfarrhaus schicke und der Pfarrer an dich hin zankt und schimpft, das Oberamt solle ihm zuvor die Tax bezahlen, wenn es ihm mit solchem Bettlerpack beschwerlich fallen wolle, was hast du dann zu mir gesagt, du Biedermännin, die mir jetzt predigen will? Hast du nicht gesagt, der Geizhals von einem Pfaffen hab Uhr und Ring an der Wand hängen, man sollt's ihm nur nehmen, dann hätt ich Geld und könnte nach Stuttgart gehen, um ihn zu verklagen und die Kopulation zu erzwingen?«
»Ach freilich hab ich's gesagt«, seufzte sie, »aber ich bin eben auch ganz außer mir gewesen vor Jammer und Verzweiflung und vor Zorn über so ein un geistlich's Betragen gegen die Armen. Aber mein Herz hat nicht dran denkt, daß du das tun würdest, was ich im Zorn rausgeschwätzt hab. Vom Gedanken bis zur Tat ist doch noch ein weiter Weg, und besser hätt'st doch getan, wie du jetzt selber einsiehst, wenn du noch einmal ans Oberamt gangen wär'st.«
»Geh mir weg mit dem Oberamt!« murrte er. »Das eine Mal hören sie einen an, und das andre Mal jagen sie einen fort, sonderlich wenn man oft kommt. Was du gedacht und gesagt hast, das hab ich getan; 's ist just so weit, wie der Weg vom Weib zum Mann. Um Geld und Geldswert ist mir's weniger zu tun gewesen, als um dem hartherzigen Pfaffen zu zeigen, daß ich mehr kann als er und daß er keine Stunde in seinem eigenen Hause sicher ist, wenn ich's nicht haben will. Er mag seine Türen[449] und Läden so fest verschließen, als er will, Angst soll er vor mir haben, solang er lebt, und wenn's mich einmal gelüstet, so schieß ich ihn von seiner Kanzel runter, wie den Vogel vom Ast. Ich hab ihm noch ein paar Hostien mitgenommen, bloß um ihm zu zeigen, was ich auf sein Handwerk halte, wenn's einer um des bloßen Gewinns willen treibt.«
»Ich weiß ja wohl«, sagte sie, immer ihn zu besänftigen bemüht, »daß das alles ist, was man dir aus der ganzen traurigen Zeit vorwerfen kann. Du hast leben müssen wie der Vogel aufm Zweig, nur mit dem Unterschied, daß der Vogel leicht sein Futter findet, und ich möcht wohl auch sehen, wie viel sich in so einer Lag ehrlich durchschlügen, ohne sich am Eigentum des Nächsten zu vergreifen. Denn das bißle Gewildschießen mit dem Krämerchristle kann dir kein Mensch als ein Verbrechen andichten, und 's ist ja auch nicht rauskommen. Der einzig Streich mit dem Pfarrer hat dir den Hals brochen. Aber daß mein Bruder dabei gegen dich mitgeholfen haben soll, das will mir nicht ein. So viel denkt mir allerdings noch, daß er dazumal just in Ebersbach gewesen ist. Weißt, er hat sich ja gleich vom Zuchthaus aus unters Militär anwerben lassen und ist nicht mehr heimkommen, bis unser Vater gestorben ist – ach Gott, wenn ich an den Tag denk! – und vor drei Jahr, um die Zeit, wo man dich gesetzt hat, ist er wieder im Urlaub dagewesen.«
»Komm«, sagte er, »du wirst doch nicht im Freien über Nacht bleiben wollen. Ich weiß auf unserem Weg einen kleinen Weiler, wo wir sicher sein werden.[450] Wenn die Leut noch auf sind, so müssen sie uns ein Nachtquartier geben, wir sind ja Mann und Weib, und wenn sie schlafen, so weiß ich auch zu helfen.«
Sie verließen die harte, unebene Straße und schlugen einen gemächlichen Waldpfad ein, auf welchem sie in der bisherigen Weise sich umschlingend nebeneinander gehen konnten. »Wie mein Vater am anderen Morgen dem Pfarrer seine Sachen wieder geschickt hat«, fuhr er fort, »da hab ich gleich gemerkt, daß Mohren ist – ja so, das lautet böhmisch für dich – ich will eben sagen, ich hab gemerkt, daß Feuer im Dach ist, daß das Ding Lärm macht, hab mir also den Kopf nicht lang zerbrochen, sondern hab ihn zwischen die Füß genommen und mich in der ›Sonne‹ verborgen, bis ich etwas Luft hätt, um durchzukommen. Das war ein Rennen und Laufen den ganzen Tag, ich hab alles von meinem Versteck aus angehört und mich nicht gerührt. Möglich ist's, daß die Frau Sonnenwirtin in ihrem witzigen Hirn draufkommen ist, hinter den alten Fässern und dem Rumpelzeug im hundertjährigen Staub könnt was Lebendiges stecken, aber gradaus ist sie mir nicht zu Leib gegangen, das ist überhaupt ihr Genie nicht. Gegen die Nacht, während ich eben denk, jetzt könnt ich bald entschlüpfen, hör ich an meinem Versteck herumtappen, klopfen und Frieder! rufen. An der Stimm erkenn ich deinen Hannes, geb aber nicht gleich Antwort. Drauf fährt er fort, ich solle mich doch nicht so verstellen, er sei mit etlichen Kameraden im Urlaub da, sie haben[451] von meinem Malheur gehört und meinen's gut mit mir, ich solle nur herfürkommen, sie wollen mich in die Mitte nehmen und mir durchhelfen; auch hab er mir von dir etwas Nötiges auszurichten. Was hätt ich ihm nicht trauen sollen? Mir ist's im Schlaf nicht eingefallen, daß er mir von früher her etwas nachträgt, was mich gar nicht einmal betrifft. Wie ich aber gutsmuts heraussteige, so fassen mich die Soldaten und schreien: Arretiert! Ich hätt mich vor denen pappeten Herrgöttern mit ihren Krautmessern und ihren gemalten Schnurrbärten nicht geforchten, ich hätt's mit allen aufgenommen, aber ich stand dir da, ganz steif und starr über die Verräterei, wenn man mich gestochen hätt, ich hätt kein Blut geben, und so bin ich regungslos von ihnen gefangen und gebunden worden. Wenn sie also nachher behauptet haben, es hab einen Kampf und ein Getümmel gekostet, so haben sie schmählich gelogen, um ihre Heldentat desto größer zu machen.«
»Großer Gott!« rief sie jammervoll: »also mein eigener leiblicher Bruder hat dich ans Messer geliefert, und ich hab kein Wort davon gewußt! Es ist mir nur lieb, daß er jetzt weit weg in Garnison liegt. Und an mir willst du's nicht auslassen, daß mein Bruder so eine Schlechtigkeit an dir begangen hat?«
»Wär ich sonst so weit her zu dir kommen?« antwortete er.
Sie gab ihm ihre Dankbarkeit durch warme Liebkosungen zu erkennen. »Aber gelt«, sagte sie, »ich hab auch nicht lang gefragt, wie ich dich gesehen[452] hab? Du hast nur sagen dürfen: Geh mit! und gleich bin ich gangen.«
»So ist's recht«, versetzte er. »Wir sind ja Mann und Weib. An Gottes Segen ist alles, an der Pfaffen Segen gar nichts gelegen.«
»Jetzt erzähl weiter«, drängte sie.
»Auf Hohentwiel«, fuhr er fort, »hab ich keine gute Zeit gehabt. Harte, schwere Arbeit und liederliche Kost tagaus tagein, immer das nämliche Leben zwei Jahre lang, und dazu die Aussicht, daß es in alle Ewigkeit so bleiben soll. Da kann einem der Spaß vergehen. Ich hab aber den Mut nicht sinken lassen, und gleich ein paar Wochen nach meinem Eintritt hab ich mich zu salvieren versucht. Das ist aber nicht so leicht wie im Zuchthaus, von wo mir's ein Kinderspiel war, dich ein paarmal zu besuchen. Sie haben mich zum Festungsbau gebraucht, denn an ihrer unüberwindlichen und unübersteiglichen Festung, wie sie's heißen, bauen sie beständig fort, wie am Turm zu Babel, um sie immer noch unüberwindlicher und unübersteiglicher zu machen. Wenn ich eine Armee gegen sie zu führen hätte, ich wollt ihnen ventre à terre im Nest sitzen, eh sie's merkten, denn ich weiß, wo ihr berühmtes Kleinod schadhaft ist. Das erstemal ist mirs aber schlecht geraten, da hab ich noch im Bubenunverstand und im Desperationsfieber gehandelt, bin nur grad mitten in die Freiheit hineingesprungen, wo sie am breitsten und aber auch am tiefsten war, von einer großen Höhe herunter, aber dann auch keinen Schritt weiter mehr. Die Wachen haben gleich nach mir[453] geschossen, aber von obenher trifft man nicht so geschwind, und das Schießen war unnötig, denn ich blieb ganz ruhig liegen, weil ich den Fuß gebrochen hatte. Nachdem ich geheilt war, mußte ich wieder arbeiten, und bei Nacht sperrten sie mich allein in ein' Käfig, wo ich von lauter Quadern umgeben war. Nun war ich schon so gewitzigt, um zu wissen, daß das Verzweifeln zu gar nichts hilft, fraß also allen Grimm und allen Jammer um dich und allen Durst nach Befreiung in mich hinein, Tag und Nacht, und hielt mich still, als ob ich ganz zufrieden wär und hätte die Welt vergessen. Geduld, sagt das Sprichwort, Geduld überwindet Sauerkraut; aber freilich, man darf dabei nicht müßig gehen. Zum Glück hatte ich schon im Ludwigsburger Zuchthaus einige Brocken von der jenischen Sprache aufgeschnappt, und die konnte ich auf Hohentwiel fürtrefflich brauchen.«
»Jenisch?« unterbrach sie ihn. »Was ist denn das?«
»Pass auf!« sagte er. »Die Kochern scheften grandig in Käfer Märtine, schaberen bei der Ratte in Kitteren, fegen Schrenden, Klaminen und Hansel, holchen auf Gschock, tschoren Sore, zopfen Kies aus Rande, kasperen Gasche, achlen und schwächen toff mit nickligen Schicksen, josten im Flach um Jack, schmusen und schmollen, aber kistig holchen Niescher, zopfen sie krank, kistig schupfen sie Schiebes, wenn sie aber in der Leke scheften und ihre Massematte maker werden, bestieben sie Makes Makoles, holchen kistig kapore, werden talcht, an die Nelle geschniert, gekibeset oder getelleret.«[454]
»Hör auf, hör auf!« sagte sie. »Da wirds ja einem ganz dumm davon. Das ist rotwelsch, da versteh ich kein einzig's Wort.«
»Wie kannst du denn sagen, es sei rotwelsch, wenn du's nicht verstehst?«
»Grad deswegen! Was man nicht versteht, das heißt man so.«
»Du weißt nicht, daß du ein wahres Wort gesprochen hast, denn rotwelsch und jenisch, das ist die nämliche Zunge.«
»Du mein Heiland!« sagte sie betreten, »das sprechen ja aber nur die –«
»Kochem!« ergänzte er, da sie stockte. »Wenn du willst, kannst du sie auch Jauner, Diebe, Spitzbuben und dergleichen heißen, denn das sind ihre Namen bei den andern Leuten; sie selbst aber nennen sich Kochem. Dies ist die Gesellschaft, in die man mich zu Ludwigsburg und auf Hohentwiel getan hat.«
»Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie. »Ich bin doch auch im Zuchthaus gewesen, aber ich hab gottlob keine Gelegenheit gehabt, das Jenische zu erlernen. Ich hab meistens bei einer Aufseherin arbeiten müssen, die mich zu sich genommen hat, und da hab ich, ich kann nicht anders sagen, manches Nützliche gelernt, was ich vorher nicht gewußt hab.«
»Das ist Glückssache«, sagte er. »Früher hat man mich in Ludwigsburg auch etwas apart gehalten, der selige Waisenpfarrer hat's damals nicht anders gelitten; das drittemal aber bin ich unter den großen Troß gestoßen worden. Wiewohl, es war mein Glück,[455] denn hätt ich nicht Jenisch gelernt, so säß ich heut noch auf Hohentwiel.«
»Was heißt denn das, was du da hergesagt hast?« fragte sie.
»Es ist nur eine Probe«, sagte er, »und bedeutet so viel als: ›die Kochem sind groß an Mannschaft im Schwabenland, brechen bei Nacht in die Häuser, leeren Stuben, Kammern und Kästen, gehen auf Märkte, rapsen Ware, ziehen Geld aus Taschen, schnellen die Leute, essen und trinken gut mit ihren hübschen, tanzlustigen Weibsbildern (denn daran rühmen sie sich reich zu sein), liegen auf dem Feld ums Feuer, schwatzen und lachen, aber oft kommen Streifer, nehmen sie gefangen, oft machen sie sich davon, wenn sie aber ins Gefängnis geraten und ihre Sachen an Tag kommen, kriegen sie Schläge und Prügel, müssen auch oft sterben, werden gemalefitzt, an den Galgen gehenkt, geköpft oder gerädert‹.«
»B'hüt uns Gott!« rief sie, »und solche Reden gehen aus ihrem eigenen Mund?«
»Das sind Dinge, von denen sie täglich reden, um sich recht an den Gedanken zu gewöhnen, gleichwie der Amalekiter König Agag zu Samuel sprach: Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben.«
»Für 'n Amalekiter mag das schon recht sein, aber es sind doch schreckliche, greuliche Ding, und man kann's nicht verantworten, daß man dich so jung mit so Leut zusammengepfercht hat. Ach, Frieder, ich bitt dich, laß du sie links ziehen und halt dich nicht zu ihnen.«[456]
»Nein«, sagte er, »ich hab allen Respekt vor ihnen und will mich auch nicht mit ihnen einlassen. Deswegen gehen wir ja außer Lands, wo auch gut Brot essen ist und wo mich keiner von ihnen kennt.«
»Bei der Flucht von Hohentwiel also sind sie deine Kameraden gewesen? Ich kann mir's jetzt schon denken.«
»Mit Hilfe des Jenischen«, fuhr er in seiner Erzählung fort, »brachte ich bald heraus, welche von den Gefangenen die tauglichsten waren und meinem Gefängnis am nächsten lagen. Zum größten Glücke hatte ich zwei Nachbarn, ganze Kerls, mit denen ich den Teufel aus der Hölle schlagen wollte. Uns zu verständigen, das war uns eine Kleinigkeit. Im Vorbeigehen etwas hingemurmelt, oder im Sprechen mit der Schildwacht oder dem Aufseher ein paar jenische Brocken eingestreut und dabei dem eigentlichen Adressaten den Rücken zugekehrt – das ist für einen Kochem soviel wie ein ganzes Buch; aus zwei, drei Worten, die von einem andern fast ohne Mundbewegung an ihn hergesäuselt kommen, studiert er sich alles raus, was er nötig hat. Freilich braucht's auch manchmal längere Verständigungen. Da kommt man dann am besten mit Singen fort. Ein Gesetzlein aus einem Gassenhauer, wenn die Schildwacht gutmütig und selber lustig ist, oder wenn man nicht trauen darf oder gar einander ein langes und breites zu sagen hat, ein Kirchenlied, das hilft einem weit. Wie hab ich's nicht meinem alten Schulmeister gedankt, daß er mir die Choräle so ferm eingetrichtert hat! Die Soldaten haben oft[457] ganz andächtig zugehört, wenn ich ein langes Bußlied nur so halblaut vor mich hingesumset und dabei den Text zwischen den Zähnen zerdrückt, nur hie und da ein deutsches Wort deutlich herausgehoben hab. Das Undeutliche aber war alles jenisch und für meine beiden Leidensgenossen deutlich genug. Das hat dann dazu dienen müssen, noch eine zweite Sprache miteinander zu verabreden, die unsre Hauptsprache werden mußte. Die Quader nämlich waren viel zu dick, als daß wir uns bei Nacht hätten unterreden können, und daran war uns natürlich am meisten gelegen. Nachdem wir aber ein bequemes Alphabet fertig gebracht hatten, so klopften wir einander ganze Nächte fort, und was wir klopften, das waren lauter Worte und Sätze. Gelt, du mußt lachen? Aber die Klopfsprache war mir damals die liebste in der Welt und hat sich auch viel besser bewährt als die Blutsprache, die du mir einmal im Arm auf die Wanderschaft hast mitgeben wollen. Zu allem andern Glück kam dann noch ein kostbarer Fund, ein Nagel nämlich, der mir eines Tags in die Hände geriet, und dieses kleine Werkzeug hat den Grund zu unserer Freiheit legen müssen.«
»Was bist du für ein Mensch!« rief sie. »Man sollt oft meinen, du seiest mehr als ein Mensch.«
»Du kannst dir denken, wie oft mir da die Finger geblutet haben, und dann hab ich's sehr gefühlt, daß ich ein Mensch bin, und wenn ich ans Freiwerden und an dich und unsre Kinder gedacht hab, da hab ich auch wieder gewußt, daß ich einer bin. Um es kurz zu machen, nach einer vierteljährigen[458] schweren Nachtarbeit, neben den schweren Tagesarbeiten, war ein Loch durch die Mauer glücklich gebrochen, das niemand entdeckte, aber dann dauerte es noch lang, bis alle günstige Umstände zusammentrafen. Was irgend zum Knüpfen und Binden tauglich war, das hatten wir in den zwei Jahren wie die Hamster zusammengescharrt, und das kleinste Flöcklein Hanf war uns nicht zu schlecht gewesen. Keine Seele kann sich eine Vorstellung machen, was das ein Stück Arbeit gewesen ist und welche Attention, Diebesgeschicklichkeit und Spitzbüberei es erfordert hat, nach und nach die nötigen Stricke zusammenzubringen. Das war fast noch mehr als die Arbeit an der Mauer. Viele Stunden lang müßt ich erzählen, wenn ich dir alles ausführlich sagen wollte; aber wer diese Werke und diese Felsen und diesen spitzen Wolkenkegel nicht gesehen hat, dem kann man doch keinen Begriff von den Schwierigkeiten einer solchen Flucht beibringen. Ich würd's auch keinem übel nehmen, wenn er's nicht glaubte; aber die Tatsache steht nichtsdestoweniger fest, denn ich war lebenslänglicher Gefangener und bin nicht freigegeben worden, und geh jetzt dennoch hier an deiner Seite durch den freien grünen Wald und hab ihnen den Stolz auf die Unüberwindlichkeit ihrer starken Feste Hohentwiel zuschanden gemacht. Und nun frag dich, wenn ich das zustand gebracht hab, ob ich nicht auch imstand sein müsse, dich und deine Kinder durch Fleiß und Geschick irgendwie durchzuschlagen.«
»Oh, du kannst alles, was du willst«, sagte sie mit[459] schmeichelndem und zugleich neckendem Tone, »bist ein halber Hexenmeister worden, und ich weiß gar nicht, du redst auch nimmer wie sonst in Ebersbach, dein Reden hat so eine fürnehme Art, und brauchst Ausdrück, wie ich's nie früher an dir gehört hab.«
»Natürlich!« lachte er, »drum bin ich in der Welt drein gewest, und das doppelt. Einmal am Main und Rhein drunten lernt man einen ganz andern Schick, und bei meinem Vatersbruder, obgleich in seinem Haus nichts Neumodisches zu finden ist, kehren gar stattliche Kunden ein, weil er den Wein noch nach der alten Mode schenkt, ungestritzt und wohlbehandelt und dabei billig, so daß Wirt und Gäste bestehen können. Da kommen dir Leute von Welt hin, feine Köpfe, und wenn man auf ihre Reden aufpaßt, so bleibt was an einem hängen. Sie haben mich freilich auch manchmal ein wenig ins Gebet genommen und mir zu verstehen gegeben, man merke mir den Schwaben an, eh ich nur den Mund auftue; aber aus welchem Käfig der Vogel ausgeflogen war, das haben sie mit all ihrem Witz doch nicht ergründet. Dann aber ist auch das Zuchthaus und die Festung eine Welt, die ihre Leute bildet, nicht bloß, wie du meinst, zum Stehlen und Rauben – ei nein, jedes Handwerk, ob es gut oder schlecht sei, erfordert Fertigkeiten und Kenntnisse, die dem Menschen Ehre machen. So ein Stromer oder Jauner, der in den Landen umherzieht, Fuchs und Has zugleich ist, der weiß und kann dir Dinge, die einem gewöhnlichen Ofenhocker nicht im Traum[460] vorkommen. Wenn's eine gute Gelegenheit gegeben hat, daß man hat eine Stunde ungestört sich unterhalten können, da hat man Neuigkeiten gehört, daß einem die Welt noch einmal so groß und weit vorkommen ist und daß sogar die Schmieren oder Launiger – will sagen, die Aufseher oder die Soldaten, die die Wache gehabt haben – mit aufgerissenen Augen und Mäulern dabeigestanden sind und das Abwehren vergessen haben. Sie wissen dir von jedem Land, groß oder klein, seinen Regenten und wie er gesinnt ist, seine Gesetze und Einrichtungen, die Nahrungsweise des Volks, den Wohlstand, die Eigenschaften fast jedes einzelnen Beamten, die Verhältnisse zu anderen Ländern und ihren Regenten und Beamten, alles das wissen sie dir wie am Schnürle herzusagen, denn es sind lauter Dinge, die zu ihrem Handwerk gehören und nach denen sie ihr Tun und Lassen abmessen müssen. Ich hab aber oft denken müssen, wie nützlich es wär, wenn die Bürgersleute, die sich doch zum Teil mit Handel und Wandel zwischen so vieler Herren Gebiet, das absonderlich in unserem Land unzählbar ist, fortbringen müssen – ich will nur zum Beispiel von den Wirten reden – sage, wenn sie solche notwendige Wissenheiten in den Schulen und dafür meinetwegen ein paar Sprüch und Vers weniger lernen würden. Aber auch in vielen anderen Dingen trifft man die schönsten Kenntnisse bei ihnen an. Da stehen besonders die Felinger im ersten Rang, und unter diesen wiederum die sogenannten Staatsfelinger. Das sind dir Leute, die fürnehm gekleidet[461] in Samt und Seide, oft in eigenen Karossen mit Pferden und großer Dienerschaft als Bergleute oder Doktoren das Reich durchziehen, treiben ihr Handwerk meistens in den Städten, führt mancher gar ein Privilegium von kaiserlicher Majestät mit sich und weiß sich eine Manier und ein Ansehen zu geben, daß jeder Reichsgraf ihn für seinesgleichen erkennen muß. Aber auch die geringeren Felinger, die das dumme Volk mit Quacksalberkünsten, Schatzgräbereien und dergleichen kaspern und brandschatzen, haben bei allem Betrug oft manche gute Wissenschaft in ihrer Kunst. Wir selber haben einen solchen auf Hohentwiel gehabt, der in Krankheiten sehr erfahren war und nicht nur mir und manchem anderen geholfen, sondern auch den Festungsdoktor selbst mehr als einmal ausgestochen hat. Der hat ihm freilich die Ehre nicht gönnen wollen, als wenn es recht kritisch hergangen ist, aber just dann ist auch der Ruhm desto größer gewesen.«
»Wenn aber so Leut so geschickt sind«, wendete sie ein, »dann sollt's ihnen ein Leicht's sein, sich ehrlich und redlich zu nähren.«
»Ist bald gesagt«, erwiderte er. »Diese Leute sind meistenteils von Kindesbeinen auf heimatlos, gehören zu einem verachteten, verworfenen Menschenschlag und würden zu ehrlichen Hantierungen im bürgerlichen Leben gar nicht angenommen, sind auch, was ich zugeben will, teils schon durch ihre Eltern dazu verdorben oder sie sind mit und ohne ihre Schuld aus dem bürgerlichen Leben hinausgestoßen worden – denk nur dran, wie's uns gangen[462] ist – und müssen froh sein, daß sie da draußen noch eine Welt finden, in der sie leben können. Das sind Leute, wie zu Davids Zeit, da er vor dem König Saul in die Höhle Adullam fliehen mußte und sich allerlei Männer zu ihm versammelten, von denen die Schrift sagt: Männer, die in Not und Schuld und betrübtes Herzens waren. Jetzt ist's freilich nicht mehr Mode, daß einer aus einem Obersten über solche Männer ein König werden kann, und es deucht mir selber unbegreiflich, wenn ich dem Ding nachdenke, zumal daß von allen Kanzeln sein Lob gepredigt wird, da er doch Stücke getan hat, die heutzutag mit Galgen und Rad bestraft würden. So schickt er zu dem Nabal hin und läßt ihm sagen: ›Gib mir und meinen Leuten, was deine Hand findet‹; wie aber der Nabal Faust in Sack macht, so heißt er einen jeglichen sein Schwert um sich gürten und zieht, vierhundert Mann stark, gegen ihn, just so wie sie jetziger Zeit manchmal aus den böhmischen Wäldern hervorbrechen. Und wiewohl die Abigail sich ins Mittel gelegt hat, daß es nicht zum äußersten kommen ist, so hat er Speis und Trank genug ohne Zeche und Kreide gefaßt und hat eigentlich doch den Nabal umgebracht, denn der hat aus Schrecken über den Anmarsch der vierhundert betrübten Herzen den Geist ausgeblasen und hat ihm erst noch seine Witwe zum Weib lassen müssen. Die Schrift sagt wohl von ihm, der Mann sei hart und boshaftig in seinem Tun gewesen; aber gibt's darum keine seinesgleichen mehr, die, wie er, fast großen Vermögens sind und viele Schafe und[463] Ziegen haben? Ich möcht sehen, wenn ihnen einer heutigs Tags so was tät, was weltliche und geistliche Obrigkeit dazu bemerken würden. Von den Zigeunern sagen sie, sie betteln zuerst, und wenn man's ihnen nicht gutwillig gebe, so nehmen sie's mit Gewalt. Aber das hat noch kein Pfarrer als Muster aufgestellt. Vielmehr hat mir schon in Ludwigsburg einer, der bei einem Generalstreif aufgefangen wurde und in Gesetzen sehr bewandert und ein halber Gelehrter war, der hat mir gesagt, es sei erst vor wenigen Jahren ein Kreispatent ausgegangen, daß man das gottlose und verruchte Jauner- und Zigeunervolk, auch wenn man es nicht auf einer Missetat ergreife, – ich weiß den gelehrten Ausdruck nicht mehr, aber der Sinn ist: ohne eigentliches Verhör und Urtel, also daß man ebensogut einen Unschuldigen treffen kann – sage, ohne alle Umstände solle man sie aufs Rad legen und solle dabei nur das unbenommen sein, daß man sie zum Schwert oder Strang begnadigen könne.«
»Das ist freilich schrecklich«, seufzte sie. »Es ist eben eine arge Welt und eine böse Zeit. Aber so froh ich bin, daß du mit ihnen von der Festung entkommen bist, so ist mir's doch noch viel lieber, daß du dich wieder von ihnen losgeschält hast. Ist's auch gewiß wahr?«
»Freilich ist's wahr, so gewiß, als es von Hohentwiel einen Weg nach Sachsenhausen gibt. Ich hab freilich nicht immer den gradsten genommen; 's ist mir gangen wie bei der Erzählung da, wo du mich fort und fort auf Um- und Nebenwege drängst.«[464]
»Ich will dich nicht weiter unterbrechen. Erzähl gradaus.«
»Wie wir mit unseren Vorbereitungen endlich fertig gewesen sind, haben wir uns an den steilen roten Felsen hinabgelassen. War aber wenig davon zu sehen, denn wie du dir denken kannst, haben wir eine stürmische Regennacht gewählt. Einer voran, ich in der Mitte und einer zuletzt, wie wir eben drangekommen sind, so sind wir an unserem armseligen Seil hinuntergerutscht. Wir zwei vorderen haben uns nicht lang besonnen, haben's auch nicht geachtet, daß unsere Hände halb durchgeschnitten wurden, sondern sind hinabgesaust wie der Teufel, wenn er mit einer armen Seel zur Hölle fährt. Dem letzten aber ging's nicht so gut. Hat er sich zu schwer gemacht, die Hände zu sehr geschont, oder ist das Seil durch uns schon abgenutzt gewesen, ich weiß es nicht: auf einmal kracht's, bricht, und neben uns geschieht ein mächtiger Fall. Es war ein Glück, daß er uns nicht auf die Köpfe fiel. Ob er sich den Hals abgestürzt hat, weiß ich heut noch nicht. Gott tröst ihn! aber für uns war keine Zeit zu verlieren. Der Fall hatte die Wachen oben rebellisch gemacht, man hört zusammen schreien, und kaum sind wir einen halben Büchsenschuß seitwärts, so brummt schon die Lärmkanone durch die finstere Nacht. Die stand uns aber treulich bei, und wir sagten lachend: ›Kanoniert und trommelt ihr, soviel ihr da droben wollt, Gott befohlen, Hohentwiel!‹ Die Aussicht ist übrigens schön für den Liebhaber, besonders wenn er sich nur ein paar Tage zu[465] seinem Vergnügen droben aufzuhalten braucht, wie ein Schwager des Kommandanten, ein Professor, den wir einmal die herrliche Perspektive, wie er's nannte, loben hörten. Wir hatten sie uns jedoch gleichfalls zunutz gemacht und wie eine Landkarte studiert, das Hegau mehr als den Bodensee. Das Hegau ist gar keine üble Gegend zur Flucht, das muß man ihm lassen. Mit waldigen Köpfen oder kleinen Anhöhen, Kopf an Kopf, besät, so liegt es um die Festung da. Sie sind uns nachher oft doch etwas höher vorkommen, als man von oben meint; aber nichtsdestoweniger ein prächtiges Revier für Gäste, die aus dem Luftschloß zur schönen Aussicht abgereist sind; denn es reicht ein Wald dem anderen die Hand. Dazu hatten wir just die Zeit abgewartet, wo das Laub ausschlägt; es deckt einen doch besser, und der Wald sieht so traurig aus, wenn er nackt und kahl ist. Mein Kamerad – ja so, von dem hab ich dir noch gar nichts gesagt; hab ich dir nie von dem jungen Zigeuner erzählt, den ich einmal aus dem Zuchthaus mit nach Ebersbach gebracht hab?«
»Ja«, sagte sie, »du hast ihn bei deinem Vater als Knecht anbringen wollen, und der hat dir dafür eine Ohrfeig hingeschlagen.«
»Richtig, und der war mein Kamerad beim Ausfliegen. Ich hab ihn auf der Festung wiedergefunden. Der ist aber unter der Zeit flügg worden; das ist ein ganz Ausgelernter. Wiewohl, er war schon damals viel schlimmer, als ich ihn dafür angesehen hab. Was meinst, daß er zu mir gesagt hat? Es hab[466] ihn höllisch verdrossen, daß es mit dem Dienstle nichts worden sei; er war ein paar Wochen dageblieben, hält unterdessen etliche Freunde herbeigezeiselt und in einer schönen Nacht das Ebersbacher Sonnenwirtshaus ausgeplündert.«
»Das ist aber ein schlechter Kerl!« rief sie zornig. »Dem hast mit deiner Bärenfaust eins gesteckt, gelt?«
»Lieb's Weib«, sagte er bedächtig, »wenn man miteinander aus Numero Sieben fortwill, so nimmt man's nicht so streng mit dem Glauben; da denkt man: du hilfst mir, und ich helf dir. Ich hab gelacht und hab ihm gesagt, den Gedanken mit der ›Sonne‹ soll er sich vergehen lassen, da seien viel Leute drin und viel Leute in der Nachbarschaft, und an großen, starken Hunden sei auch kein Mangel – ich hab noch ein paar dazugemacht. Der scheele Christianus, so heißt man ihn, hat's in seiner Art gut mit mir gemeint und hat mich mit Gewalt mitnehmen wollen, hat mir auch das beste Leben versprochen und hat's nicht begreifen können, daß ich nach Ebersbach wolle, wo ich ja vogelfrei sei; aber ich bin fest dabei blieben, und so hat er mich zuletzt, ich muß sagen, recht ungern ziehen lassen, hat mir auch guten Rat und Anleitung geben zum Fortkommen, was ohne einen Zehrpfennig keine Kleinigkeit ist, und endlich hat er mir noch seinen Zinken, das heißt, sein Wappen oder Wahrzeichen, dergleichen jeder von ihnen sein eigenes führt, anvertraut. Es könnte ja doch sein, daß wir einmal einander brauchten, hat er gemeint, hat mir auch[467] gesagt, wo ich ihn und die Seinen am leichtesten finden könne; und daran hab ich gesehen, daß er's treulich mit mir meint und auch mir von ganzer Seele traut, denn mit dem Zinken, wenn er ihn nicht ändert, hab ich ihn in der Hand und könnt ihn jeden Augenblick verraten. Das werd ich aber nie tun, obgleich seine Wege nicht meine Wege sind. Interessieren soll's mich aber doch, einmal sein Wahrzeichen zu sehen. Sie schneiden's in Bäume, selbst in Balken an den Häusern, wo sie vorbeiziehen, zeichnen's auch in den Staub oder in den Schnee; mit einem Strich dahinter zeigen sie ihren nachkommenden Kameraden den Weg an, den sie nehmen wollen, und mit kleineren Strichlein über oder unter dem großen bezeichnen sie, wieviel ihrer sind, Männer, Weiber und Kinder.«
»Das ist sinnreich«, sagte sie, »aber lieber ist mir's doch, du guckst nicht nach den Wahrzeichen.«
»Sei ruhig«, erwiderte er, »er wird nicht so leicht wieder ins Land kommen, der Geschmack an Ludwigsburg und Hohentwiel ist ihm vergangen. Nachdem wir auseinander waren, hab ich mich nach und nach Ebersbach zu geschlagen, um zu hören, wie es um dich steht. Vom scheelen Christianus hatte ich Unterweisung, daß ich, soviel möglich, bloß in einsamen Höfen und Häusern einkehren solle, denn dort seien sie gutwillig gegen fahrende Leute, fürchten den roten Hahn von ihnen aufs Dach gepflanzt. Ich hab aber nicht nötig gehabt, ihnen sonderlich zuzusetzen, denn sie haben mir überall gern gegeben, und nur mit dem Nachtlager haben sie sich[468] ein wenig in acht genommen; aber es ist nirgends besser schlafen als im Wald zur Frühlingszeit.«
»Weiß nicht«, sagte sie.
»Hab nur noch ein wenig Geduld«, versetzte er, »wir sind bald am Ziel. Daß ich auf Lebenszeit verurteilt und von der Festung entsprungen sei, hab ich den Leuten natürlich nicht sagen können, hab auch gedacht, sie werden's nicht grad wissen wollen. Ich hab ihnen gesagt, ich sei am See in Arbeit gestanden, hab wieder heim gewollt, sei von Spitzbuben ausgeraubt worden und müsse jetzt eben sehen, wie ich nach Weilerstadt zurückkomme, wo ich bürgerlich sei; dort sind sie nämlich auch katholisch. Das hat gezogen, und bis ich ins Ländle kommen bin – das Hohentwiel liegt nämlich in fremdem Gebiet, was auch sehr bequem zum Entkommen ist – da hab ich so viel Geld und Lebensmittel im Tuch gehabt, daß es gereicht hat bis Ebersbach. Dort bin ich vierzehn Tag in der ›Sonne‹ gelegen und hab leider gehört, jetzt seiest du in Numero Sieben.«
»Was?« rief sie. »In der ›Sonne‹? Hat man dir denn dort Unterschlupf geben?«
»Ich hab mit dem Herrn Sonnenwirt Deutsch gesprochen und Fraktur mit der Frau Sonnenwirtin; denn solches ist nötig bei einem Weib, das kein Kind hat und nicht weiß, wie man sich gegen seine Kinder verhalten soll. Mitten in der Nacht bin ich ihnen vorm Bett gestanden, daß sie vor Schrecken schier gestorben sind, und hab ihnen gesagt, wo sie ein Geräusch machen oder mich verraten würden,[469] so sollten sie meinen Ernst kennenlernen. Das hat denn auch gefruchtet, denn du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir das Herz übergegangen war, zuerst aus Freude, daß ich wieder in Ebersbach bin, und dann vor Zorn. Daß mir vollends Hohentwiel nicht zu hoch gewesen ist, wo sie mich so sicher verwahrt glaubten, wie das Kind in der Wiege, das hat sie ganz mürb und demütig gemacht. In der ersten Nacht haben sie sich in eine kleine Kammer verkrochen, und ich hab mich dann gutsmuts an ihrer Statt ins warme Bett gelegt, das mir, offen gestanden, doch ein wenig besser geschmeckt hat als das Moos im Wald, und hab dem Teufel ein Ohr weggeschlafen bis in den lichten Morgen hinein. Wie ich aufwach, ist mein Vater ganz schüchtern in die Kammer hereinkommen und hat sich zu allem Guten offeriert: er wolle mich in einem mir anständigen Versteck behalten, bis ich ausgeruht sei, denn ich war fast hin vor Mühseligkeit und jahrelanger Entbehrung, und meine Hände waren übel zugerichtet; daß ich in die Länge nicht bleiben könne, werde ich selber einsehen, weil's für mich nicht sicher sei; aber er wolle mir Geld geben zur Auswanderung nach Pennsylvanien, er hab's nur just nicht parat – du weißt, er hat's nie parat, wenn's ans Blechen gehen soll, mir hat's aber auch nicht pressiert, weil ich ohne dich doch nicht gangen wär; ich solle inzwischen nach Sachsenhausen zu seinem Bruder gehen, der mich schon einmal gut aufgenommen habe und gern behalten hätte; unter der Zeit könne man ja weiter sehen. Dabei ließ er einfließen,[470] wenn er mit besserem Bedacht gehandelt hätte, so wäre manches anders ausgefallen. Du kennst mich: wenn man mir gute Wort gibt, so bin ich wie Butter. Zwei Wochen, wie ich dir sag, bin ich zu Haus still gelegen und ist mir nichts abgangen. Dann hab ich aber selber dem Landfrieden und der Frau Stiefmutter nicht mehr recht getraut, hab auch gedacht: und wenn ein Mensch das Fliegen lernte, so würd anfangs alles vor ihm niederknien und ihn anbeten, aber in vierzehn Tag wär's ihnen allen ein gemeines Wunder, um das sie nicht mehr viel gäben; hab mich also auf den Schrecken über meine Hohentwieler Flucht nicht zu sehr verlassen mögen. Mein Vater hat mir etwas Geld geben nach Frankfurt, und so bin ich fort, ohne daß meines Wissens der Amtmann nach mir gefragt hat. Wie ich bei deiner Mutter und den Kindern gewesen bin, das hast du nachher zu Haus selbst gehört. In Sachsenhausen ist mir's über die Maßen wohl gegangen, ich bin bei meinem Vetter wie das Kind im Haus gewesen, hab ihm geschafft, halb als Hausknecht, halb als Metzgerknecht, halb als Kellner, wie und wo man mich hat brauchen wollen, und wenn kein Ebersbach in der Welt wär, so hätt ich mir gar keine bessere Heimat wünschen mögen. Aber es hat mir fort und fort am Herzen genagt: daß mein Vater von seinen Anerbietungen gar nichts mehr hören ließ, hat mich verdrossen, und endlich hab ich von einem Landsmann erfahren, daß deine unfreiwillige Badreise jetzt zu Ende sei. Über das fügt sich's einmal, daß ich Gäste bedienen muß, und[471] wie ich ihrem Gespräch aus der Ecke zuhöre, so braucht einer zufällig das Sprichwort: Ein Mann, ein Wort, oder ein Hundsfott! Sieh, Christine, wie ich das gehört hab, bin ich eigentlich schon so gut wie fort gewesen. Mein Vetter hat sich ein wenig vor den Kopf gestoßen gezeigt, daß ich nicht gut tun wolle; ich hab ihm aber gesagt, es reiße mich wie mit eisernen Haken nach Ebersbach, er solle mich in gutem Andenken behalten und mir den Platz nur ein Tag acht offen lassen, denn ich möchte gern wiederkommen. In Ebersbach aber war der Wind gänzlich umgeschlagen. Mein Vater hat mich gar nicht vor sein Angesicht kommen, sondern durch seine Frau bedeuten lassen, ich solle mich fortmachen, ich würde ihn nur um Hab und Gut bringen. Was ich mit ihm für ein Abkommen treffen will, darüber muß ich mich noch besinnen. Bei deiner Mutter hab ich dann erfahren, du seiest wirklich frei und im Schulhaus zu Neckardenzlingen im Dienst. Darauf hab ich gleich den Stab weiter gesetzt. Wie ich gestern abend über die Brücke gehe, seh ich Kinder da, spielen. Ich will freundlich auf sie zugehen. Sie aber mich erblicken und mit dem Geschrei: Der Sonnenwirtle! der Sonnenwirtle! wie das Mutisheer an mir vorüberstäuben, das war eins. Es hat mir weh getan, ich kann's nicht leugnen, zu sehen, wie mein Name den Weg vor mir fegt; aber ich hab's wieder abgeschüttelt. Meine Lagerstatt hab ich im Wald genommen, bin heut im Zickzack durch die Wälder herübergewandert, und da bin ich jetzt bei dir. Und hier ist auch[472] unser Nachtlager, sieh, da tauchen die paar Häuser im Halblicht auf. Es regt sich nichts mehr, nicht einmal ein Hund, die Leut sind arm und haben nichts zu bewachen. Jetzt fallen wir still und säuberlich in die Scheuer ein, und da sollst du im Heu ganz fein gebettet schlafen. Morgen ist dann das Erzählen an dir, denn für heut ist genug erzählt.«
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sonnenwirt
|
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro