Flugsand

[146] Du lange, gelblichgraue Düne,

Du weites, graulichblaues Meer,

Es zuckt um meine ernste Miene

Der Dünenhafer hin und her;

Stilleinsamkeit, du spendest süße

Gefühle, lang nicht mehr gekannt,

Ich recke mich, auf meine Füße

Rinnt leis herab der gelbe Sand.


Du gelber Sand, woher getrieben

Hat dich des Windes Leidenschaft?

Wohin du fällst, da muß zerstieben,

Verwelken, dörren Saft und Kraft;

Wo sind die Städte, handelsprächtig,

Gelegen an der Ostsee Strand,

Es schrie der Nordwind, todesmächtig,

Und drüber fiel der gelbe Sand.


Es stand noch gestern, wo ich liege,

Der Möwe Nest, ein kleines Glück,

Es sucht die heuumkränzte Wiege

Vergebens heut' mein scharfer Blick;

Nach ihrem Neste schreit die Möwe

Von Strand zu Land, von Land zu Strand,

Es reckte sich der gelbe Löwe

Und drüber fiel der gelbe Sand.


Altpreußens Helden, die vor Tagen

Einst friedlich dieses Land bebaut,

Die Ordensritter, die erschlagen

Das Friedvolk unter Psalmenlaut,[146]

Die Pommern, Polen und nach Jahren

Napoleon, als sein Grab er fand,

Wohin sind alle sie gefahren?

Stillschweigen. Darüber liegt der Sand.


Auch ich, noch jetzt so lebensmunter,

Kein Plan zu kühn, kein Wunsch zu schwer,

Von Westen steigt der Tod herunter,

Ein Ruck, ein Stoß, ich bin nicht mehr;

Und all' mein Jauchzen, all' mein Klagen,

Ein Traum, schon morgen unbekannt,

Mein Schaffen, Dichten, Tun und Sagen,

Es rollt darüber gelber Sand.


Münster, 2. Mai 1890


Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 146-147.
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