Das Mäuschen, das Hähnchen und die Katze

[108] Ein blutjunges Mäuschen, das nichts noch gesehn,

Wär ahnungslos beinah ums Leben gekommen.

Hört, wie's seiner Mutter erzählt, was geschehn:

»Ich hatte wie spielend die Berge genommen,

Die rings unser Reich umstehn,

Und trottete wie eine junge Ratte dahin.

Da sah ich zwei Tiere gehn:

Das eine sanftmütig und zärtlich und schön,

Das andere grob und von zänkischem Sinn.

Das machte ein rohes und schrilles Gekreisch

Und hatte am Kopf einen Fetzen Fleisch

Und fuhr durch die Luft voll Verwegenheit,

Und sein Schwanz war buschig und breit.«

Kurz, unser Mäuschen machte da

Der Mutter von einem Hähnchen ein Bild,

Als sei das ein Tier aus Amerika.

»Es schlug sich«, erzählte es, »fuchsteufelswild

Die Schenkel mit seinen Armen

Und machte Spektakel zum Gotterbarmen,

Daß ich mit all meinem Mut im Schild

Mein Heil im Reißausnehmen suchte

Und das Vieh im Herzen verfluchte.

So ward ich mit jenem Tier, das so mild

Mir erschien, leider gar nicht bekannt.

Getigert und samten war sein Fell,

Demütig sein Auge und dennoch so hell.

Ich glaube, es ist mit uns Mäusen verwandt,

Denn Ohren hat es ganz ähnlich wie wir.

Ich wollte es grüßen, da hat jener Fant

Getobt, daß ich schleunigst davongerannt.«[109]

Da sprach die Alte: »Mein Kind, jenes Tier,

Das dir so liebenswürdig erschienen,

Heißt Katze, und trotz der scheinheiligen Mienen

Verfolgt es die Unsern mit Mördergier.

Das andre indes ist ein harmloses Tier,

Wird uns vielleicht als Mahlzeit dienen

Demnächst einmal; bei der Katze jedoch

Sind wir die Braten, und sie ist der Koch.

Bei vielen Leuten stimmt es nicht,

Wenn man sie schätzt nach ihrem Gesicht!«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 108-110.
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