Das Pferd, das sich an dem Hirsch rächen wollte

[77] In Urzeit war das Pferd nicht für den Stall geboren.

Als sich die Menschheit noch von Eicheln nährte,

Vergnügten sich im Wald die Esel und die Pferde.

Man wußte nichts von Sätteln und von Sporen,

Von Rüstzeug nichts für Streit und Schlacht,

Und hat an Zügel, Zaum und Wagen nicht gedacht;

Und wurden Heiraten geschlossen,

Bedurfte es dazu nicht prächtiger Karossen.

Nun lag zu jener Zeit

Einmal ein Pferd mit einem schnellen Hirsch in Streit,

Und da es laufend ihn nicht zu erreichen

Vermochte, flehte es den Menschen an,

Ihm beizustehn mit listigen Streichen.

Der Mensch war willig und ersann

Den Zügel, sprang dem Pferde auf den Rücken

Und trieb es, bis der Hirsch erjagt war und erschlagen.

Das Pferd sprach voll Entzücken

Dem Menschen Dank. Dann wollte Lebewohl es sagen

Und wäre gern zum Wald zurückgekehrt.

»Nicht so!« sprach da der Mensch zum Pferd;

»Wozu du brauchbar bist und wert,

Das hast du selbst mich gut gelehrt.

Du bleibst bei mir! Ich will dich pflegen,

Will bis zum Bauch in Stroh und Heu dich legen.«

Ach, ist der reichste Nahrungssegen

Für Freiheit jemals ein Ersatz?

Dem Pferde wurde seine Torheit klar.[78]

Zu spät jedoch! Errichtet war

Bereits der Stall als sein zukünftiger Platz.

In Fesseln sah sein Leben es entfliehen.

Oh hätt es damals weise jenem Hirsch verziehen!


Wie groß auch immer mag Befriedigung sein

Gestillten Rachedurstes, ist sie klein

Doch gegen Freiheit: jenes Gut,

Darin der höchste Wert des Lebens ruht.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 77-79.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln