Der Adler, die Bache und die Wildkatze

[53] Ein Adler horstete auf einem hohlen Baum,

In dessen Wurzelwerk das Haus der Bache stand,

Und mitten zwischen beiden fand

Die wilde Katze ein Quartier.

Für alle war genügend Raum,

Und Friede herrschte dort wie hier.

Die Katze aber sollte bald

Die schöne Eintracht untergraben.

Zum Adler klomm sie auf. »Wir haben«,

So sprach sie, »hier den schlimmsten Aufenthalt.

Die Bache bringt uns arge Not:

Um unser Leben abzukürzen,

Sucht sie die Eiche umzustürzen,

Seht nur, sie wühlt uns in den Tod! –

Auf unsre Kinder hat sie's abgesehen,«

So sprach die Warnerin im Gehen,

»Sie will sie töten und verzehren.«

Und scheidend von dem hohen Ort

Lief sie in großer Eile fort,

Um auch die Bache zu belehren,

Die drunten still in Wochen lag.

»Ach, Nachbarin, schön guten Tag!«

So sprach sie leise, »höret meinen Rat:

Von Hause fortzugehn, wär keine kluge Tat;

Der Adler ist auf Eure Jungen sehr erpicht!

Ich bitte nur, verratet nicht,

Daß ich es war, die Euch gewarnt.«

Nachdem sie beide Teile so umgarnt,

Zog sie sich in ihr Loch zurück.

Der Adler aber wagte nicht mehr auszufliegen,[54]

Und auch die Bache blieb bei ihren Jungen liegen.

Die Dummheit dieser beiden war der Katze Glück.

Sie zogen vor, daheim zu bleiben,

Statt Nahrungssuche zu betreiben,

Um bei Gefahr zur Hand zu sein:

Der Adler fürchtend, daß die Eiche falle,

Die Bache ängstlich vor der Adlerkralle.

Und so verreckte Groß und Klein

Im Adler- und im Schweinenest.

Die Katze aber hielt ein reiches Schlemmerfest.


Arglistige Rede ist der schlimmste Feind!

Sie schmeichelt dir und klingt so wohlgemeint.

Von allen Übeln aber, wie mir scheint,

Die je die Büchse der Pandora barg,

Gibt's keines, das wie sie so arg.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 53-55.
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