Der Esel mit Schwämmen und der Esel mit Salz

[33] Ein Eseltreiber schritt, sein Zepter in der Hand,

Stolz wie ein Römerkaiser durch das Land;

Zwei Renner trieb er vor sich her,

Zwei langgeohrte, die man Esel nennt.

Der eine trug an Schwämmen nicht gerade schwer;

Den andern drückte seine Bürde mehr,

Und da er von gelaßnem Temperament,

Trug er das Salz, womit man ihn beladen,

Mit so bedächtigem Schritt, als sei es Porzellan.

Die Dreie zogen auf gewundnen Pfaden

Den Berg hinauf, hinab ins Tal

Gemächlich ihre Bahn,

Bis sie mit einemmal

Am Ufer eines Stroms sich sahn.

Der Treiber, dem die Furt hier wohlbekannt,

Bestieg den Esel, der die Schwämme trug,

Worauf er mit geübter Hand

Den andern Esel kräftig schlug,

Bis der als erster in die Flut sich wagte.

Ein Fehltritt – und er war nicht mehr zu sehn;

Doch da’s ihm unter Wasser nicht behagte,

Gelang es ihm, bald wieder fest zu stehn

Und heiler Haut das Ufer zu erklimmen;

Denn unser Esel, dem beim Schwimmen

Das ganze Salz vom Rücken schmolz,

War nun auf einmal bürdeleer

Und stieg ans Ufer leicht und stolz.

Dem Schwammbeladenen gefiel das sehr;

Und wie ein jedes Schaf das gleiche tut,

Was ihm ein andres zeigt,[34]

So taucht nun auch der zweite Esel unter Flut,

Die gleich dem Treiber bis zum Halse steigt.

Und alles ward des Wassers voll,

Der Mann, der Esel und die Schwämme.

Die erst so leichte Ladung schwoll und schwoll,

Und ruderte der Esel auch wie toll,

Er kam nur immer tiefer in die Klemme.

Der Treiber hielt sich an des Tieres Halse fest

Und harrte gottergeben auf den Tod –

Doch irgendeiner kam und half ihm aus der Not.


Wie meine Fabel euch erkennen läßt,

Ist's falsch, wenn einer gleich dem andern tut,

Denn nicht für jeden ist dasselbe gut.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 33-35.
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