Der Knabe und der Schulmeister

[22] Wie sinnlos Narren oftmals schwatzen, statt zu handeln,

Das zeigt uns diese Fabel gut.


Ein Junge, dem's gefiel, am Uferrand zu wandeln,

Glitt in des Stromes tiefe Flut.

Der Himmel wollte, daß dort eine Weide stand,

An deren Ruten sich das Kind mit schneller Hand

Festklammerte; es schwebte zwischen Tod und Leben.

Der Unschuld Engel wollte weiter, daß soeben

Ein Mensch, ein Schulmeister, des nächsten Weges kam

Und unsres Knaben lauten Hilferuf vernahm.

Er blickte hin und sah das Kind im Wasser schweben

Und fing sogleich mit ernstem Ton zu schelten an:

»Du kleiner Affenpinscher, was hast du getan!

Da siehst du nun, wohin dich deine Dummheit führt.

Mehr Prügel hätten dir, du Schlingel, wohl gebührt.

Bedauernswerte Eltern solcher schlimmen Knaben,

Was müssen sie mit ihnen doch für Sorgen haben!

Mein Gott, wie sind sie hart geplagt

Durch solcher Bengel Unverstand!«

Nachdem er dies und mehr gesagt,

Zog endlich er das Kind ans Land.


Den Schulmeister könnt ich mit vielen Namen nennen.

Der Schwätzer, Nörgler und Pedant –

Sie alle mögen sich in seinem Bild erkennen,

Und riesengroß ist ihr Bestand,

So zahlreich wie der Ufersand.[23]

In allen Lagen suchen sie nach Mitteln,

Uns ihre Zunge gründlich auszuschütteln.

Erst, Freundchen, ziehe mich aus der Gefahr –

Und, bitte, später dann den Kommentar!

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 22-24.
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