Der Rabe, der es dem Adler gleichtun will

[40] Der Vogel Jupiters ergriff ein Herdentier.

Ein Rabe sah es, schwächer zwar

An Sehnen, aber nicht an Gier,

Und wollte gleich dasselbe tun. Er kreiste rund

Und wählte aus der Schafe Schar

Das schönste, fetteste, das auserlesen war

Als Opfer für der Götter Mund.

Er sprach, mit gierigen Blicken spähend nach dem Lamme:

»Wer auch gewesen deine Amme,

Dein Leib ist prächtig und gesund;

So diene du mir denn als Mahl!«

So sprechend stieß er schnell zu Tal

Auf jenes Schafsgeschöpf, das kläglich blökte, nieder.

Doch fand er, daß es schwerer als ein Käse wog,

Und daß die Wolle ein gefährliches Gefieder,

Wirr gleich dem Bart, der Polyphems Gesicht umzog:

Darin verstrickten sich des Raben Krallen fest,

So daß der arme Schelm gefangen saß.

Der Schäfer kam: ein Käfig ward sein Nest,

Und Kinder quälten ihn zu ihrem Spaß.


Aus dieser Fabel zieht den Schluß,

Daß man sich richtig messen muß.

Dem Diebeshandwerk bleib ein kleiner Spitzbub fern!

Ein schlecht erwähltes Vorbild kann uns schwer bedrängen.

Nicht alle Leutefresser sind auch große Herrn.

Wo Wespen durchgeschlüpft, da bleibt die Mücke hängen.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 40-41.
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